Wer behauptet das ein mädchen nützlicher ist als 20jungen

Die Vermehrung von Produktionsund Lebensmitteln durch relativ abnehmende Arbeiterzahl treibt zur Ausdehnung der Arbeit in Industriezweigen, deren Produkte, wie Kanäle, Waarendocks, Tunnels, Brücken u. s. w. nur in fernerer Zukunft Früchte tragen. Es bilden sich, entweder direkt auf der Grundlage der Maschinerie, oder doch der ihr entsprechenden allgemeinen industriellen Umwälzung, ganz neue Produktionszweige und daher neue Arbeitsfelder. Ihr Raumantheil an der Gesammtproduktion ist jedoch selbst in den meist entwickelten Ländern keineswegs bedeutend. Die Anzahl der von ihnen beschäftigten Arbeiter steigt im direkten Verhältniss, worin die Nothwendigkeit rohster Handarbeit reproducirt wird. Als Hauptindustrieen dieser Art kann man gegenwärtig Gaswerke, Telegraphie, Photographie, Dampfschifffahrt und Eisenbahnwesen betrachten. Der Census von 1861 (für England und Wales) ergiebt in der Gasindustrie (Gaswerke, Produktion der mechanischen Apparate, Agenten der Gascompagnien u. s. w.) 15,211 Personen, Telegraphie 2399, Photographie 2366, Dampfschiffdienst 3570 und Eisenbahnen 70,599, worunter ungefähr 28,000 mehr oder minder permanent beschäftigte „ungeschickte“ Erdarbeiter nebst dem ganzen administrativen und kommerciellen Personal. Also Gesammtzahl der Individuen in diesen fünf neuen Industrieen 94,145.

Endlich erlaubt die ausserordentlich erhöhte Produktivkraft in den Sphären der grossen Industrie, begleitet, wie sie ist, von intensiv und extensiv gesteigerter Ausbeutung der Arbeitskraft in allen übrigen Produktionssphären, einen stets grösseren Theil der Arbeiterklasse unproduktiv zu verwenden und so namentlich die alten Haussklaven unter dem Namen der „ dienenden Klasse“, wie Bediente, Mägde, Lakaien u. s. w., stets massenhafter zu reproduciren. Nach dem Census von 1861 zählte die Gesammtbevölkerung von England und Wales 20,066,244 Personen, wovon 9,776,259 männlich und 10,289,965 weiblich. Zieht man hiervon ab, was zu alt oder zu jung zur Arbeit, alle „unproduktiven“ Weiber, jungen Personen und Kinder, dann die „ideologischen“ Stände, wie Regierung, Pfaffen, Juristen, Militär u. s. w., ferner alle, deren ausschliessliches Geschäft der Verzehr fremder Arbeit in der Form von Grundrente, Zins u. s. w., endlich Paupers, Vagabunden, Verbrecher u. s. w., so bleiben in rauher Zahl 8 Millionen beiderlei Geschlechts und der verschiedensten Altersstufen, mit Einschluss sämmtlicher irgendwie in der Produktion, dem

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Title: Memoiren einer Grossmutter, Band I

Bilder aus der Kulturgeschichte der Juden Russlands im 19. Jahrhundert

Author: Pauline Wengeroff

Release Date: April 25, 2014 [eBook #45488]

Language: German

Character set encoding: ISO-8859-1

***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK MEMOIREN EINER GROSSMUTTER, BAND I***

E-text prepared by Norbert H. Langkau, Matthias Grammel,
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[i]

Wer behauptet das ein mädchen nützlicher ist als 20jungen


[ii]


[iv]

Pauline Wengeroff

Memoiren einer Grossmutter

Bilder aus der Kulturgeschichte der
Juden Russlands im 19. Jahrhundert


Band I


Mit einem Geleitwort von Dr. Gustav Karpeles

Wer behauptet das ein mädchen nützlicher ist als 20jungen

BERLIN

Verlag von M. Poppelauer

1908


Alle Rechte, besonders das der Uebersetzung
in fremde Sprachen vorbehalten.



[v]

Geleitwort.

Die j�dische Literatur besitzt leider nur sehr wenige Memoirenwerke.

Aus dem j�dischen Leben in Russland kenne ich nur ein einzige, die �Zapiski Jewreja� von Gregor Isaakowitsch Bogrow. Diesem Werke, das uns einen tiefen und charakteristischen Einblick in das Leben und Treiben der Juden in Russland zu Anfang des vorigen Jahrhunderts er�ffnet hat, schliessen sich die Memoiren der Pauline Wengeroff ebenb�rtig an. Mit inniger Liebe und gro�er Piet�t, mit seltener Treue und aufrichtiger Wahrhaftigkeit, mit einem milden verkl�renden Humor und mit feinem psychologischem Takt erz�hlt sie uns wichtige Episoden aus einer grossen �bergangszeit, aus der Zeit, in welcher die Aufkl�rung unter den Juden in Russland die Nebel, die bis dahin �ber dem russischen Judentum lagerten, zu durchbrechen begann, aus einer vielbewegten, interessanten, merkw�rdigen Periode, deren Geschichte noch nicht geschrieben ist, sondern erst dann geschrieben werden kann, wenn wir noch eine ganze Reihe solcher Memoiren besitzen werden.

[vi]

Die russischen Juden haben in den letzten Jahren im Vordergrund des �ffentlichen Interesses gestanden. Ihre Schicksale und Leiden haben die Teilnahme der ganzen [vii] Kulturwelt gefunden. Nat�rlich hat man sich auch viel mit ihren Charaktereigenschaften, mit ihrer Geschichte und mit ihrer Literatur besch�ftigt. Erst dadurch kam weiteren Kreisen die Erkenntnis, welch ein reicher Schatz von Phantasie und Bildung, von Poesie und Begabung in diesen Judenst�dten und Judengassen des weiten Zarenreiches aufgespeichert liegt und dort der grossen Schilderer und Dichter harrt, die diesen Schatz zu heben verstehen.

Unwillk�rlich wird man bei Betrachtung der Kulturarbeit, die uns die Memoiren von Frau Pauline Wengeroff so anschaulich schildern, an ein Wort von Nikolaj Gogol in seinem klassischen Roman �Tote Seelen� erinnert. Die Kibitka des Helden jagt mir rasender Eile �ber die weite un�bersehbare Ebene dahin und verliert sich schliesslich in die graue Ferne. �Und jagst nicht auch Du, mein Russland, vorw�rts wie eine nicht einzuholende Troika? Der Weg hinter dir dampft, die Br�cken krachen, alles l�sst du hinter dir. Die Zuschauer bleiben �berrascht stehen und fragen: War es ein Blitz? Was bedeutet die schauererweckende Eile, welche geheimnisvolle Kraft beseelt diese Pferde? Was f�r Pferde sind das? Habt ihr Wirbelwind in euren M�hnen?.... Habt ihr von oben bekannte T�ne geh�rt und strengt ihr nun eure Eisenk�rper an, ohne die Erde mit euren Hufen zu ber�hren, durch die L�fte zu fliegen, als w�ret ihr von einem Gotte begeistert? Russland, wohin jagst du? Antworte! Da kommt keine Antwort. Man h�rt die Gl�ckchen der Pferde wundersam klingen; es st�hnt in der Luft und w�chst, wie zum Sturme an und Russland setzt seine k�hne Jagd fort.�

[viii]

Feine Ohren werden vielleicht aus den Bl�ttern dieser Memoiren einen Teil der Antwort heraus h�ren, und aufmerksame Beobachter werden die rapide Entwickelung der Juden Russlands von finsterem Aberglauben und der Erstarrung zum hellen Lichte der Aufkl�rung und innerer Freiheit verstehen lernen.

Dann ist aber auch der Zweck dieses liebensw�rdigen Buches erf�llt, das meine besten W�nsche auf seinem Wege in die �ffentlichkeit geleiten m�gen.

Gustav Karpeles.


[ix]

Inhaltsverzeichnis.

Seite1.  Geleitwort von Dr. Karpeles.v2.  Vorbemerkung13.  Ein Jahr im ElternhausI.Teil5II.Teil854.Der Beginn der Aufkl�rungsperiodeI.Lilienthal118II.Jeschiwa Bochurim1375.In der NeustadtI.Es war ein sch�nes Bild147II.Ein Sabbath161III.Evas Hochzeit1716.Die Ver�nderung der Tracht185

[1]

Vorbemerkung.

Ich war ein stilles Kind, auf das jedes freudige und traurige Ereignis in meiner Umgebung tief einwirkte. Viele Vorg�nge pr�gten sich meinem Ged�chtnis gleich einem Abdruck in Wachs ein, so da� ich mich ihrer noch jetzt ganz deutlich erinnere. Die Begebenheiten stehen frisch und lebendig vor mir, als w�ren sie von gestern. Mit jedem Jahr wuchs das Bed�rfnis, meine Erlebnisse und Beobachtungen niederzuschreiben und nun gibt mir das reiche Material, das ich gesammelt habe, die sch�nsten und trostreichsten Stunden meines im Alter so einsam gewordenen Lebens. Es sind Feierstunden f�r mich, wenn ich die Aufzeichnungen zur Hand nehme und oft mit einer stillen Tr�ne oder einem verhaltenen L�cheln darin bl�ttere. Dann bin ich nicht mehr allein, sondern in guter und lieber Gesellschaft. Vor meinem geistigen Auge ziehen sieben Dezennien voll Sturm und Drang vorbei, wie in einem Kaleidoskop, und die Vergangenheit wird lebendige Gegenwart: die heitere, sorglose Kindheit im Elternhause, in sp�teren Jahren ernstere Bilder, Tr�bsal und Freude aus dem Leben der Juden von damals und so manche Szene aus meinem eigenen Hause. Diese Erinnerungen helfen mir �ber einsame, schwere Stunden, �ber die Bitterkeit der Entt�uschungen des Lebens hinweg, die wohl keinem Menschen erspart bleiben.

In solchen Stunden schleicht sich auch die Hoffnung in [2] das alte Herz, da� es vielleicht auch f�r andere keine vergebene Arbeit ist, wenn ich vergilbte Bl�tter �ber die wichtigeren Ereignisse, die gewaltigen Ver�nderungen im kulturellen Leben der j�dischen Gesellschaft in Litauen der 40-50er Jahre des vorigen Jahrhunderts, von denen auch ich betroffen wurde, sorgf�ltig gesammelt habe. Vielleicht interessiert es die Jugend von heute, zu erfahren, wie es einmal war. Und wenn ich auch nur einem meiner Leser etwas gegeben habe, bin ich reichlich belohnt.

Ich bin im Anfang der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts in der litauischen Stadt Bobruisk geboren. Von streng religi�sen Eltern, klugen, geistig vornehmen Menschen erzogen, k�nnte ich die Wandlung verfolgen, die das j�dische Familienleben durch die europ�ische Bildung erfahren hat, und mich �berzeugen, wie leicht unsern Eltern die Erziehung der Kinder wurde, und wie schwer diese Aufgabe uns, der zweiten Generation, war. Wir machten uns mit der deutschen und polnischen Literatur bekannt, studierten mit gro�em Eifer die Bibel und Propheten, die uns mit Stolz auf unsere Religion und Tradition erf�llten und mit unserem Volk innig verbanden. Ihre Poesie pr�gte sich dem unber�hrten Kindergem�t tief ein und gab der Seele f�r die kommenden Tage Keuschheit und Reinheit, Schwung und Begeisterung.

Aber wie schwer erging es uns nun in der gro�en �bergangszeit der 60er und 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts! Wir hatten uns wohl einen gewissen Grad der europ�ischen Bildung angeeignet; aber wir f�hlten �berall die klaffenden L�cken. Wir ahnten, da� noch h�here Stufen zu ersteigen w�ren, und suchten mit Anspannung unserer Kr�fte, das Fehlende und an uns Vers�umte bei unsern Kindern nachzuholen. Aber wir verloren leider in dem �bergro�en Eifer das [3] letzte Ziel und verga�en die Weisheit des Ma�haltens. So tragen wir selbst Schuld an der Kluft, die zwischen uns und unsren Kindern entstand, an ihrer Entfremdung vom Elternhause, die folgen mu�te.

W�hrend uns der Gehorsam, den wir nach den Geboten unseren Eltern schuldig sind, heilig und unverletzbar war, mu�ten wir jetzt unseren Kindern gehorchen, uns vollst�ndig ihrem Willen unterordnen. Wie einst unseren Eltern gegen�ber, hie� jetzt die Parole unsern Kindern gegen�ber: schweigen, still sein, fein den Mund halten, und wenn es noch so schwer, vielleicht noch schwerer wurde, als einst! Wenn wir and�chtig und voll Ehrfurcht zuh�rten, da unsere Eltern von ihren Erlebnissen und Erfahrungen erz�hlten, schweigen und lauschen wir jetzt voll Freude und Stolz, wenn unsere Kinder von ihrem Leben und ihrem Ideale sprechen. Diese Unterw�rfigkeit, die Bewunderung, die wir f�r unsere Kinder haben, macht sie zu Egoisten, zu unseren Tyrannen — das ist die Kehrseite der Medaille der europ�ischen Kultur bei uns Juden in Ru�land, wo sonst kein anderer Stamm so rasch und unwiderruflich mit der Annahme der westeurop�ischen Zivilisation alles aufgab und alle Erinnerungen an die Vergangenheit, seine Religion verlie�, und alle Tradition von sich absch�ttelte.

Unsere Kinder hatten es leichter als wir, eine hohe Bildungsstufe zu erreichen, und wir sahen das mit Freude und Genugtuung, denn wir haben ihnen oft mit schweren Opfern die Wege geebnet und Hindernisse beseitigt. Sie fanden alles bereit: Erzieherinnen, Kindergarten, Jugendbibliotheken, Kindertheater, Feste und angemessene Spiele, indes uns der Hof des Elternhauses alles ersetzen mu�te, wo wir uns wahllos mit den [4] armen Nachbarskindern herumtummelten und, die R�ckchen �ber die K�pfe gezogen, h�pften und sangen:

�Gott, Gott, gib Regen —
Der kleinen Kinder wegen!�

Welcher Unterschied!

Alle diese Wandlungen habe ich hier zu schildern versucht.

Ich bitte die Leser um Nachsicht. Ich bin keine Schriftstellerin und mag auch nicht als solche erscheinen. Ich bitte nur, diese Aufzeichnungen als das Werk einer alten Frau anzusehen, die einsam in der D�mmerung ihres stillen Lebensabends schlicht erz�hlt, was sie in einer ereignisvollen Zeit erlebt und erfahren.

Ich wei�, da� meine Familienchronik ohne Zweifel der Jugend in unseren Tagen wie mit dichtem Schimmel oder mit einer dicken Staubschicht bedeckt erscheinen wird. Und doch hoffe ich, da� die Kenntnis des damaligen Lebens der Juden, das von dem der heutigen so himmelweit verschieden ist, f�r so manchen von einigem Interesse sein wird, der sich gern in vergangene Zeiten versenkt, um zu pr�fen und zu vergleichen.

So fand ich den Mut zu meiner Publikation!

Ich kann dieses Werkchen — das geistige Kind einer Greisin, Bensekunim, wie die Hebr�er sagen, — nicht in die Welt schicken, ohne meiner Freundin Louise Flachs-Fockschaneanu f�r ihre g�tige F�rderung zu danken. —


[5]

Ein Jahr im Elternhause.

I. Teil.

Mein Vater pflegte Sommer und Winter um 4 Uhr morgens aufzustehen. Er achtete streng darauf, da� er sich nicht vier Ellen von seinem Bette entfernte, ohne sich die H�nde zu waschen. Ehe er den ersten Bissen zum Munde f�hrte, verrichtete er in behaglicher Stimmung die Fr�h-Morgengebete, und begab sich dann in sein Arbeitszimmer. Es hatte an den W�nden viele F�cher, in denen zahlreiche Talmudfolianten aller Arten und Zeiten aneinander gereiht standen, in guter Gemeinschaft mit sonstigen talmudischen und hebr�ischen Werken der j�dischen Literatur. Darunter gab es alte, seltene Drucke, auf die mein Vater stolz war. Au�er einem Schreibtisch stand in diesem Raum noch ein hoher, schmaler Tisch, �St�nder� genannt, davor ein bequemer Lehnstuhl und eine Fu�bank.

Mein Vater begab sich also in sein Zimmer, lie� sich gem�chlich im Stuhl nieder, schob die von dem Diener bereits angez�ndeten Kerzen n�her und schlug den gro�en Folianten auf, der noch von gestern abend wie wartend dalag und begann in dem bekannten Singsang zu �lernen�. So gingen die Stunden bis sieben Uhr morgens hin. Dann trank er seinen Tee und ging in die Synagoge zum Morgengebet.

In meinem Elternhause wurde die Tageszeit nach den [6] drei t�glichen Gottesdiensten eingeteilt und benannt: so sagte man �vor� oder �nach dem Dawenen�, (Beten), f�r die vorger�cktere Zeit �vor� oder �nach Minche� (Vorabendgebet); die Zeit der Abendd�mmerung wurde mit �zwischen Minche und Maariw� bezeichnet. In �hnlicher Weise wurden die Jahreszeiten nach den Feiertagen benannt; so hie� es �vor� oder �nach Chanuka�, �vor� oder �nach Purim� usw.

Mein Vater kam um zehn Uhr vom Bethause zur�ck. Erst dann begannen die gesch�ftlichen Arbeiten. Es kamen und gingen viele Menschen, Juden und Christen, die Gesch�ftsf�hrer, die Kommis, Gesch�ftsfreunde usw., die er bis zur Mittagszeit — es wurde um ein Uhr gegessen — abfertigte. Nach Tisch ein kurzes Schl�fchen, hierauf nahm er seinen Tee. Dann fanden sich auch schon Freunde ein, mit denen er �ber den Talmud, literarische Fragen und �ber Tagesereignisse sprach.

So schrieb mein Vater im Anfang der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts einen Beitrag zu den �Eyen Jankow�, den er �Kuntres� (Kunom Beissim) benannte, und im Anfang der f�nfziger Jahre hat er eine umfangreiche Sammlung seiner Kommentare zu dem ganzen Talmud herausgegeben unter dem Namen �Minchas Jehuda�. Beide Werke hat er keinem Verleger zum Verkauf �berlassen, und nur an seine Freunde, Bekannte, seine Kinder und haupts�chlich an viele �Bote midraschim�, (Lehrh�user) in Ru�land verteilt. Das j�dische Schrifttum und die meisten seiner Verfasser von damals und noch viele Jahrhunderte zuvor, auch der Talmud, haben den gro�en Fehler begangen, da� sie die Daten oft au�er acht lie�en und sie nicht genau angaben. So hat beispielsweise mein Vater in seinem letzten Werke seinen Stammbaum gegeben, [7] der sehr viel Rabbiner und Gaonim, angefangen von seinem Gro�vater bis zehn Generationen weiter hinauf z�hlte, aber bei keinem das Jahr seines Lebens und Todes verzeichnet. Was galt das Leben des Einzelnen, wenn nur das Talmudstudium eine Pflanzst�tte hatte!

So empfand mein Vater, der getreu wie seine Ahnen der Lehre und dem Gottesdienst sich weihte ...

Das Minche gdole (Vorabendgebet) verrichtete er gew�hnlich zu Hause und sehr fr�h. Zu Maariw ging er wieder in die Synagoge, von der er gegen neun Uhr nach Hause kam zum Abendbrot. Er blieb gleich beim Tisch sitzen, unterhielt sich mit uns �ber dies und jenes. Er interessierte sich f�r alles, was im Hause vorging, was uns Kinder betraf, manchmal f�r den Fortgang unseres Unterrichts. (Den j�dischen Lehrer, Melamed und Schreiber, wie auch den Lehrer der polnischen und russischen Sprache pflegte meine Mutter zu besorgen.) Meinem Vater wurden da alle Haus- und Stadtereignisse mitgeteilt, w�hrend er seinerseits uns alles erz�hlte, was er in der Synagoge geh�rt hatte und was dort er�rtert worden war. Dies war f�r uns die beste Unterhaltung und was er erz�hlte, die interessanteste Zeitung. Man nannte diese m�ndlichen Ueberlieferungen �pantoflowe gazeta�. Zeitungen, wie wir sie heute besitzen, gab es damals nur wenige, und sie waren nicht f�r jedermann erreichbar.

Meines Vaters impulsive Natur nahm alle Ereignisse mit starker Ergriffenheit auf, die sich auch seiner Umgebung mitteilte. Wir Kinder lauschten bei Tisch gespannt seinen klugen Reden. Er erz�hlte uns von ber�hmten M�nnern, von ihren Taten, von ihrer religi�sen Lebensweise, den j�dischen Gesetzen, und wir liebten und sch�tzten ihn und stellten ihn h�her [8] als alle Menschen, die wir damals kannten. An zwei Namen, die er uns genannt, erinnere ich mich noch. Der eine hie� Reb Selmele, der andere Reb Heschele. Reb Selmele besch�ftigte sich so eifrig mit dem Talmudstudium, da� er oft zu essen, zu trinken und zu schlafen verga�. Er wurde schwach, mager und bleich, und seine besorgte Mutter flehte ihn an, seine Mahlzeiten einzunehmen. Aber es half nichts. Da gebrauchte die Mutter ihre Autorit�t: sie erschien eines Tages in seinem Studierzimmerchen mit einem St�ck Kuchen in der Hand und befahl ihm, zu essen; zugleich sagte sie ihm, da� er jeden Tag um diese Stunde von ihr ein St�ck Kuchen bekommen w�rde, das er essen m��te. Der junge Mann f�gte sich in den Willen der Mutter; ehe er aber zu essen begann, rezitierte er den Talmudabschnitt: �Kabed ow weem�, die Gebote von der Verehrung von Vater und Mutter.

Der zweite, Reb Heschele, war schon als Kind sehr klug und witzig, Eigenschaften, die ihm auch bei all seiner gro�en Gelehrsamkeit bis in die sp�teren Lebensjahre verblieben. Ihm war das Cheder ein Greuel mitsamt dem Rebben und dem Behelfer, der ihn t�glich gewaltsam fortf�hrte, obwohl er sich mit H�nden und F��en str�ubte; denn er war ein sehr lebhaftes Kind und liebte die Freiheit. Eines Tages fragte ihn sein Vater ohne jede Strenge, warum er denn so ungern ins Cheder ginge. �Ich f�hle mich beleidigt�, erwiderte er, �da� der Behelfer mich so ohne jede Achtung mitschleppt. Warum schickt man dir, wenn man dich haben will, einen Boten, der dich h�flich bittet, der Einladung zu folgen?� Und du antwortest manchmal: �Gut, ich komme!� oder manchmal auch: �Ich danke, gleich wie gewesen (d. h. wenn du willst, gehst du, sonst eben nicht).� Der Vater versprach ihm, ihn [9] auch einladen zu lassen und teilte das dem Behelfer mit. Als dieser nun anderen Tages den Kleinen freundlich einlud, antwortete er: �Gleich wie gewesen!� — Ein andermal zog er beide Str�mpfe auf denselben Fu�, um den Behelfer recht lange nach dem zweiten suchen zu lassen.

Meine Eltern waren biedere, gottesf�rchtige, tief religi�se, menschenfreundliche Leute von vornehmem Charakter. So war �berhaupt der vorherrschende Typus unter den damaligen Juden, deren Lebensaufgabe vor allem die Gottes- und die N�chstenliebe war. Der gr��ere Teil des Tages verging mit dem Talmudstudium. Den Gesch�ften widmete man nur bestimmte Stunden, obgleich die Gesch�fte meines Vaters oft hundert tausende Rubel betrafen. Er geh�rte, wie auch mein Gro�vater, der Klasse der Podraziki (Unternehmer) an, die in der ersten H�lfte des vorigen Jahrhunderts in Ru�land eine gro�e Rolle spielten, da sie gro�e Gesch�fte mit der russischen Regierung machten, wie die �bernahme von Festungs-, Chaussee- und Kanalbauten und die Lieferungen f�r die Armee. Mein Vater und mein Gro�vater geh�rten zu den angesehensten dieser Unternehmer, da sie sich durch absolute Ehrlichkeit auszeichneten.[A]

Wir bewohnten in der Stadt Brest ein gro�es Haus mit vielen, reich ausgestatteten R�umen; wir hatten Equipage [10] und teure Pferde. Meine Mutter und die �lteren Schwestern besa�en auch viel Schmuck und sch�ne, kostbare Kleider. Unser Haus lag abseits von der Stadt. Man mu�te erst eine lange Br�cke, die die Fl�sse Bug und Muchawiez �berspannte, passieren und kam dann an vielen kleinen H�usern vorbei. Dann mu�te man sich nach rechts wenden, eine Strecke von etwa 100 Faden geradeaus gehen — und man stand vor unserem Haus. Das Haus war gelb angestrichen und hatte gr�ne Fensterladen. In der Fassade besa� es ein gro�es, venetianisches Fenster, neben dem zu jeder Seite noch zwei Fenster waren. Davor lag ein schmaler, von einem Holzstacket umgebener Blumengarten. Das Haus trug ein hohes Schindeldach.

Das ganze Anwesen samt Gem�segarten war von einer Reihe hoher Silberpappeln eingeschlossen, was dem Hause das Aussehen eines litauischen Herrensitzes gab.

Das j�dische Familienleben in der ersten H�lfte des vorigen Jahrhunderts war in meinem Elternhaus, wie bei anderen, sehr friedlich, angenehm, ernst und klug. Es pr�gte sich mir und meinen Zeitgenossen tief und unverge�lich ein. Es war kein Chaos von Sitten, Gebr�uchen und Systemen, wie jetzt in den j�dischen H�usern. Das j�dische Leben von damals hatte einen ausgeglichenen Stil, trug einen ernsten, den einzig w�rdigen j�dischen Stempel. Darum sind uns die Traditionen des elterlichen Hauses so heilig und teuer bis auf den heutigen Tag geblieben! Wir aber mu�ten viel Leid erdulden, bis wir notgedrungen uns in unserem eigenen Hause einer ganz anderen Lebensweise unterwarfen, die unseren Kindern wohl wenig erbauliche und noch weniger angenehme Erinnerungen aus ihrem elterlichen Hause hinterlassen wird!

Liebe, Milde und doch Bestimmtheit waren die Erziehungsmittel [11] der Eltern. Und ein gut W�rtchen half �ber manche Schwierigkeit hinweg.

Eine Episode:

Eines Morgens fand mich mein Vater, der von der Stadt zur�ckkehrte, allein und weinend auf der Stra�e. Ich glaube, eine Gespielin hatte mir die Puppe fortgenommen. Er wurde b�se, da� ich ohne Begleitung umherlief und fragte �rgerlich, warum ich weinte. Ich war aber von meinem gro�en Schmerz so erf�llt, da� ich keine Antwort zu geben vermochte und noch heftiger zu schluchzen begann. Da wurde mein Vater erst recht zornig und rief: �Warte nur, die Rute wird dich antworten lehren!� Er ergriff meine Hand und zog mich rasch ins Haus. Der Vater lie� sich eine Rute geben und machte Anstalten, mich zu pr�geln. Ich war ganz still geworden und sah verbl�fft zum Vater hinauf — ich wurde nie mit der Rute bestraft — und sagte �berrascht: �Ich bin ja Pessele!� Ich war der festen �berzeugung, da� mein Vater mich nicht erkannt und sich geirrt hatte.

Und diesem selbstbewu�ten Verhalten hatte ich es zu verdanken, da� ich von der Rute verschont blieb. Alle Umstehenden lachten und baten f�r mich um Nachsicht.

Ich besch�ftigte mich mit Vorliebe im Gem�segarten beim Ausgraben der Kartoffeln und anderer Gem�se; ich bat mir von den halberfrorenen Weibern bald den Spaten, bald die Harke aus und hantierte damit flink, bis die scharfe, kalte Herbstluft mich mahnte, geschwind ins Haus zu laufen. Nachdem alles Gem�se aus unserem Garten eingekellert war, wurde noch viel auf dem Markt eingekauft. Dann ging's an die sehr wichtige Arbeit — an das Einlegen von Sauerkohl, womit in jedem Herbst viele arme Frauen volle acht Tage besch�ftigt [12] waren. Nach den j�dischen Vorschriften ist es streng geboten, die W�rmchen, die im Gem�se und in den Fr�chten, besonders aber im Kohl nisten, sorgsam zu entfernen; und so wurde von jedem Kohlkopf Blatt um Blatt abgenommen, gegen das Licht gehalten und genau untersucht. Meine fromme Mutter war in der Erf�llung der Vorschriften sehr peinlich und pflegte, wenn der Kohl besonders geraten und von der besten Sorte war und wenig W�rmer hatte, den Frauen eine besondere Belohnung f�r jeden gefundenen Wurm zu geben, denn sie war immer in Sorge, da� die Frauen bei der Arbeit nicht gen�gend aufmerksam waren. Ich sah auch hier gern zu wie bei der Arbeit im Gem�segarten, weil die Frauen dabei allerlei Volkslieder sangen, die mich tief ergriffen und mich schmerzlich weinen, aber auch h�ufig herzlich lachen machten. Viele dieser Lieder sind mir bis jetzt im Ged�chtnis geblieben und sind mir teuer!

Es war ein geruhiges Leben!

Wir leben jetzt in dem Zeitalter von Dampf und Elektrizit�t viel schneller, so will es mir scheinen. Das hastige Treiben der Maschinen hat auch auf den menschlichen Geist eingewirkt. Wir erfassen manches viel rascher und begreifen ohne M�he so viele komplizierte Dinge, indes man fr�her die einfachste Tatsache nicht begreifen konnte. Ich entsinne mich eines Beispiels, das mir im Ged�chtnis geblieben ist und das ich hier anf�hren will. In den vierziger Jahren baute mein Gro�vater f�r die Regierung die Chaussee von Brest nach Bobruisk. Auf der Strecke befanden sich Berge, T�ler und S�mpfe, so da� eine Wagenreise volle zwei Tage dauerte, w�hrend man dieselbe Tour auf der Chaussee bequem in einem Tage sollte zur�cklegen k�nnen. Alles sprach nat�rlich von dem f�r jene Zeit [13] gro�en Unternehmen, aber es fanden sich selbst in den h�heren Gesellschaftskreisen Skeptiker, die ihre Zweifel �u�erten und sagten: �Solange sich die Menschen erinnern, waren zwei Tage n�tig, um den Weg, von Brest in Lithauen nach Bobruisk zur�ckzulegen, und da kommt Reb Zimel Epstein und erz�hlt uns, er wird ihn auf eine Tagereise verk�rzen. Wer ist er? Gott? Wird er die �brige Strecke Wegs in seine Tasche stecken?�

In der zweiten H�lfte des 17. Jahrhunderts waren die Wege in Litauen und in manchen Teilen Ru�lands �berhaupt noch w�st. Endlose Steppen, S�mpfe, teilweise noch Urwald dehnten sich meilenweit, bis die gro�e Kaiserin Catharina II. auf beiden Seiten mit Birkenb�umen bepflanzte Landstra�en anlegen lie�. Die Seitenwege waren aber sowohl f�r die Fu�g�nger, die man als Boten von Ort zu Ort sandte, sowie f�r die in Schlitten und Wagen Reisenden noch sehr gef�hrlich, besonders im Winter durch den tiefen Schnee. Zur �berwindung dieser Gefahren wurde die Pferdepost eingef�hrt. Dazu geh�rte die Troika, das Dreigespann, der Postkutscher, Jamschezik genannt, ein halbwilder, schwerf�lliger, immer betrunkener Bauer, der bei seinem Pferde lebte und starb. Viel gebraucht wurde auch die Kibitka, ein plumpes W�gelchen, dessen vier schwere R�der zwei breite Holzstangen verbanden, auf denen ein aus Brettern zusammengesetzter, halb �berdeckter Korb ruhte, oder die Telega, ein ebenso plumpes W�gelchen ohne Verdeck. Das Geschirr der Pferde bestand aus grobem Leder, das mit Messingblech reich verziert war. Das mittlere Pferd hatte �ber dem Kopfe ein Krummholz, in dessen Mitte eine m�chtige Glocke hing. Einen ebenso schwerf�lligen, echt russischen Charakter wie das Gef�hrt hatten die etwa 20-25 Werst von, einander entfernt liegenden Poststationen. Eine [14] gro�e Stube mit wei�get�nchten W�nden, ein gro�m�chtiger, mit schwarzem Wachstuch bezogener Divan, der lange, h�lzerne, auch mit Wachstuch benagelte Tisch, darauf der hohe, schmale, schmutzige, mit gr�nem Schimmel �berzogene Samowar und ein schwarzes, verr�uchertes Teebrett mit blinden, unsauberen Gl�sern. Der hohe magere, immer, selbst am Mittag, schlaftrunkene, ungewaschene und ungek�mmte Stationschef in seiner unsauberen Vizeuniform mit den blinden Messingkn�pfen vervollkommnete das typische Bild, das mir heute nach 65 Jahren noch lebhaft vor Augen steht. — Von dieser Einrichtung konnten indes nur die reicheren Leute Gebrauch frischen, namentlich die h�heren Milit�rs und Kouriere, die zu Pferde Botschaften von den Hauptst�dten nach einer Gouvernementsstadt �bermittelten, wozu man sich jetzt des Telephons und Telegraphen bedient.

Das gew�hnliche Publikum bediente sich eines einfachen, mit Leinwand bespannten Wagens, der von zwei oder drei Pferden gezogen wurde. Das bessere Publikum benutzte den. Tarantass, eine halbbedeckte Kutsche, die auf zwei dicken Holzstangen ruhte, oder den F�rgon, eine ganz mit Leder �berdeckte Kutsche mit einer T�r in der Mitte. Nicht selten wurden diese Fuhrwerke samt den Passagieren auf freiem Felde vom Schneesturm versch�ttet. — Erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde durch den Bau der Chausseen diesen �belst�nden abgeholfen. Nun hemmte kein Berg, kein Sumpf, kein Wald das schnelle Vorw�rtskommen, und auf gradlinigem, ebenen Wege gingen die Fuhrwerke dahin. Die Sicherheit wurde dadurch erh�ht, da� au�er den Poststationen in regelm��igen Abst�nden Wachh�uschen mit W�chtern eingerichtet wurden. Das nun schon bequemere Reisen machte das [15] Volk beweglicher. Handel und Verkehr entwickelten sich erstaunlich rasch und schon am Anfang der vierziger Jahre zeigte sich das Bed�rfnis nach einem schnelleren Verkehrsmittel. Da wurde dann die Einrichtung der sogenannten Diligence getroffen, ein bequemer Wagen mit zwei Abteilungen, der zw�lf bis f�nfzehn Personen zu einem m��igen Preis t�glich von Ort zu Ort f�hrte. Er war mit drei Pferden bespannt und wurde von dem Postillon gelenkt, der eine eigenartige Uniform trug und auf seiner Trompete eine traditionelle Weise blies. In Russisch-Polen nannte man dieses Verkehrsmittel nach dem Unternehmer �Stenkelerke�, in Ostpreu�en �Journali�re�. Man war im allgemeinen sehr mit dieser Einrichtung zufrieden und glaubte, nie etwas Besseres finden zu k�nnen. Gleichwohl wusste man schon um die Mitte der f�nfziger Jahre auch in Ru�land von der Erfindung der Eisenbahn, und anfangs der 60er Jahre konnte man auch schon im Zarenreich weite Strecken per Dampf zur�cklegen. In den vierziger Jahren brauchte man mit Postpferden sieben Tage, um eine Entfernung von 800 Werst zu �berwinden, wof�r in den sechziger Jahren mit der Eisenbahn drei�ig Stunden ausreichten.

Nicht minder bedeutsam war die Entwicklung des Verkehrswesens innerhalb der St�dte: im Anfang ein elendes Korbw�gelchen auf h�lzernen R�dern, von einem mit Stricken angeschirrten Pferde langsam gezogen, f�r das �Volk�, und zwar nur f�r zwei Personen; f�r das bessere Publikum die sogenannte Droschke oder �Lineika�, die heute noch existiert: ein Lederkorb auf h�ngenden Ressorts, zwei Deichselstangen, zwischen die ein Pferd mit einem Krummholz �ber dem Kopfe eingespannt war. In der Lineika war f�r acht Personen Platz, auf einem langen Sitze sa�en auf jeder Seite vier Personen, [16] R�cken an R�cken. Diese Gef�hrte sch�ttelten und r�ttelten auf dem holprigen Pflaster die Passagiere lange Zeit, und wurden erst allm�hlich so weit verbessert, da� die Droschke auf liegenden, niederen Ressorts angebracht und der Sitz mit Federkissen versehen wurde, bis schlie�lich die Gummireifen um die R�der dem Sch�tteln ein Ende machten und anstelle der Kissen bequeme, breite Sofasitze traten.

Ende der siebziger Jahre wurde die Stra�en-Pferdebahn eingef�hrt und die ersten Velocipede tauchten auf, bis in den neunziger Jahren die elektrische Tramway eine weitere Vervollkommnung brachte, die dann nur wieder durch das Automobil �bertrumpft wurde.

Der Wegebau — der ja erst die Vervollkommnung der Verkehrsmittel erm�glichte, wurde in Form von Submissionen vergeben. Jeden Sp�therbst, veranstaltete die russische Regierung in Brest die Torgy, d. h. die Vergebung der Bauarbeiten und Lieferungen. Aus diesem Anla� kam gew�hnlich mein Gro�vater aus Warschau zu uns. Auch aus anderen: St�dten trafen viele �Padradziki� ein. Zu des Gro�vaters Empfang wurden gro�e Anstalten getroffen; mein Vater wurde, durch Estafette, reitende Eilboten, die auf jeder Poststation das Pferd wechselten, von dem Tag seines Eintreffens vorher genau benachrichtigt. Schon am Morgen des betreffenden Tages waren alle im Hause und besonders wir Kinder voller Ungeduld und Erwartung. Zur bestimmten Stunde begaben wir uns auf den Paradebalkon oder auch auf den Korridor, um da zwischen den S�ulen eine geeignete Stelle zu finden, damit uns der Gro�vater zu allererst bemerke. Aller Augen waren auf die nahe Br�cke gerichtet. Die Erwartung hatte den h�chsten Grad der Spannung erreicht. Endlich rasselte es auf der Br�cke, und [17] wir sahen die gro�e, viersitzige Equipage des Gro�vaters, von vier Postpferden gezogen. (Aber auch von unseren Blicken m�chtig angezogen.) Jeder von uns streckte sich kerzengrade und strich sich das Haar von der Stirn und die Herzen pochten ...

Der Wagen hielt nun endlich vor dem Balkon. Ein hoher, hagerer, blonder Diener, in einem Lakaienmantel, mit einigen aufeinander folgenden Kragen, sprang vom Bock, �ffnete den Wagenschlag und half dem Gro�vater heraus. Er war ein ehrw�rdiger, stattlicher Greis, dem Aussehen nach noch ziemlich r�stig, mit langem, grauen Bart, hoher breiter Stirn, gro�en ausdrucksvollen Augen von strengem Blick. Doch sein v�terliches Auge ruhte mit Stolz und Z�rtlichkeit auf seinem Sohne. Es erfreute das Herz des alten Mannes vollends, da� unser Vater trotz seiner vielfachen Gesch�fte noch immer Zeit genug fand, flei�ig den Talmud zu studieren. Wie oft pflegte der Greis zu sagen, er beneide meinen Vater um sein gro�es, talmudisches Wissen und um die Mu�e, die er f�r das Studium finde.

Meine Mutter wurde vom Gro�vater zuerst begr��t, aber ohne H�ndedruck. Meinen Vater, meinen �lteren Bruder und meine Schw�ger umarmte er; zu meinen �lteren Schwestern und zu uns Kindern wandte er sich mit den Worten: �Was macht Ihr, Kinderchen?� Aber diese wenigen Worte waren hinreichend, uns vor Freude h�pfen zu machen. Von dem ganzen Schwarm, der sich auf dem Balkon befand, begleitet, begab sich dann der Gro�vater ins Haus.

Wir kleinen Kinder durften nicht gleich in die festlich geschm�ckten R�ume eintreten. Wir nahmen daher unseren R�ckweg durch die T�r links und gelangten durch den Hauptkorridor in unser Zimmer. Meine �lteren Schwestern hatten [18] schon das Recht, die ersten Stunden mit dem Gro�vater und den Eltern zusammen zu bleiben und sich an der Besprechung der Gesch�ftsangelegenheiten zu beteiligen. Wir Kleinen wurden erst am darauffolgenden Morgen von der Mutter zum Gro�vater gef�hrt, der uns z�rtlich Haar und Wange streichelte. Doch kam es selten zu einem Ku�. Er lie� uns durch seinen Diener die guten Warschauer Bonbons und Apfelsinen, die er uns mitgebracht hatte, geben. Unsere �Audienz� w�hrte jedoch nur wenige Minuten. Wir k��ten die wei�e, kr�ftige Hand, die er uns reichte, w�nschten dem von uns so geliebten und hochgesch�tzten Manne einen �guten Morgen�, verbeugten uns und entfernten uns, ohne ein �berfl�ssiges Wort an ihn zu richten.

So lange der Gro�vater bei uns weilte, war im Hause ein Hin- und Herlaufen, ein L�rmen, ein Kommen und Gehen von G�sten und Gesch�ftsfreunden, im Hofe ein Ein- und Ausfahren von Equipagen und Droschken. Das Mittagbrot wurde sp�ter als sonst genommen. Man deckte im gelben Salon den gro�en Tisch aus dem E�zimmer; das ganze Silber-, Kristall- und Porzellangeschirr wurde verwendet, und die G�nge und die L�nge der Tafel hatten eine ungew�hnliche Ausdehnung, da viele G�ste geladen waren. Von meiner �lteren Schwester bis zur j�ngsten fand niemand an dem langen Tische Platz. Es wurde f�r uns zu unserer gr��ten Freude im E�zimmer ein besonderer Tisch hergerichtet, wo unsere Njanja (Kinderw�rterin) Marjascha bediente — ein dralles, rotwangiges M�dchen mit schwarzen, dicken Z�pfen und einem roten Tuch, das sie turbanartig um den Kopf gewickelt hatte. Meine �ltere Schwester Chasche Feige brachte uns selbst schmackhafte Gerichte, Kuchen usw. von der gro�en Tafel her�ber. Wir [19] waren von der strengen Disziplin, die dr�ben herrschte, befreit und genossen, auf uns selbst angewiesen, die vollkommenste Freiheit.

Am Abend fanden sich noch andere G�ste ein, darunter viele Christen, hochgestellte M�nner vom Milit�r, Ingenieure, Baukommiss�re, mit denen der Gro�vater Preference spielte. Ein reiches Dessert wurde aufgetragen, wovon wir Kinder wieder unseren gerechten Anteil erhielten; und wenn wir von der Mutter noch die Erlaubnis bekamen, damit auf den Ofen im E�zimmer zu klettern und dort Licht anzuz�nden, verlangten wir vom Schicksal nichts mehr. Denn auf dem Ofen war es so traulich, so gem�tlich, dort, wo selbst am Tage ein Halbdunkel herrschte, wo sich in einem Winkel unsere Puppen mit ihren Bettchen, Kleidern und allerlei Blecht�pfe, Sch�sseln und dergleichen befanden. Marjascha leistete uns immer Gesellschaft, und sie wu�te so interessante M�rchen zu erz�hlen. Ach, das war der Ort, wo wir Kinder die Welt umher verga�en, mochte es unten in den pr�chtigen R�umen noch so munter zugehen: wir waren hier wunschlos-gl�cklich. Meine Mutter gestattete aber nur ungern den Auszug auf den Ofen; denn der Weg hinauf war unsicher: man mu�te den einen Fu� in eine eigens dazu gemachte Vertiefung setzen und sich mit dem zweiten in der Luft rasch hinaufschwingen, wobei man oft das Gleichgewicht verlor und kopfabw�rts auf die Diele st�rzte. Auch oben fehlte es nicht an Gefahren; neugierig auf das Treiben im E�zimmer, streckten wir die K�pfe �ber den Ofenrand hinaus, der andere Teil des K�rpers schwebte fast in der Luft. Erst wenn eine auf die Diele st�rzte, wurden wir uns bewu�t, in welcher Gefahr wir �schwebten�. Dennoch erwirkten wir oft die Erlaubnis, uns f�r einen ganzen [20] Abend auf dem ersehnten Pl�tzchen niederzulassen. Der Ofen bildete dort oben ein ger�umiges Viereck, in dem man nicht stehend, sondern blo� sitzend oder liegend Platz hatte. Denn die Decke war sehr niedrig.

In den Zimmern unten ging es ziemlich lebhaft zu. Nachdem man den Tee und das Dessert eingenommen hatte, wurde noch viel von Gesch�ften gesprochen.

Es war ein reges Treiben, und die Ruhe kehrte erst wieder bei uns ein, wenn der Gro�vater alle Gesch�fte geordnet hatte. Der Gro�vater hatte die Ausf�hrung der Festungsbauten in Brest �bernommen, f�r die mein Vater viele, viele Millionen mit seinen Initialen J. E. gestempelter Ziegel liefern mu�te. Wir bekamen zum Abschied sch�ne Gold- und Silberm�nzen. Der Gro�vater reiste ab. Im Hause wurde es wieder still wie nach einer Hochzeit in den vierziger Jahren (nicht etwa wie nach einer in den achtziger Jahren!).

Kurze Zeit darauf nahte ein neuer, lieber Gast — das Makkab�erfest (Chanuka) mit all seinen munteren und aufregenden Ereignissen. Schon am Sonnabend vorher mu�te die Chanukalampe geputzt bereit stehen. Beim Putzen waren wir Kinder zugegen, beschauten jedes einzelne Teilchen und erg�tzten uns daran. Die Lampe war aus Silberdraht geflochten und hatte die Form eines Sofas. Die Lehne trug einen Adler, �ber welchem ein V�gelchen in nat�rlicher Gr��e mit einer Miniaturkrone auf dem K�pfchen sa�. An beiden Seiten des Sofas befanden sich kleine R�hren, in denen Wachskerzchen staken, w�hrend auf dem Sitze acht Miniaturkr�gchen standen, die �l enthielten — zur Erinnerung an den kleinen �lkrug, den man einst, wie die Sage erz�hlt, im Tempel zu Jerusalem nach der Vertreibung der Feinde durch die Makkab�er gefunden und der f�r volle acht Tage zur [21] Beleuchtung des Tempels hingereicht hatte. Zur Erinnerung an dieses Wunder feiern die Juden allj�hrlich auch durch Anz�nden von Lichtern und �llampen das Makkab�erfest, das in erster Reihe ein Siegesfest ist. — Der erste Chanuka-Abend wurde von uns Kindern mit Herzklopfen erwartet. Der Vater verrichtete sein Abendgebet, w�hrend unsere Mutter in das erste Kr�gchen �l eingo�, den Docht in die R�hrchen einzog, zwei Wachskerzen in die zu beiden Seiten befindlichen kleinen Leuchter und einen in die Krone des V�gelchens steckte. Wir Kinder standen um sie herum und verfolgten jede ihrer Bewegungen mit Andacht! Der Vater vollzog die rituelle Handlung: das Anz�nden des ersten Lichtes an der Chanukalampe. Er sprach das vorgeschriebene Gebet, steckte dabei ein d�nnes Wachskerzchen an, womit er im ersten �lkr�gchen den Docht anz�ndete. Jetzt begann der Feierabend, denn arbeiten durfte man nicht, so lange das �l im Kr�gchen brannte.

War das ein Jubel bei uns Kindern! Denn auch wir durften an diesem Abend Karten spielen. Wir holten unsere paar Kupferm�nzen hervor und hielten uns f�r Million�re. Wir setzten uns um den Tisch, und unsere kleinen Cousinen gesellten sich auch zu uns. Indes bildeten unsere Eltern, die erwachsenen Geschwister und einige Bekannte, die zu Besuch gekommen waren, einen gr��eren Kreis. Am f�nften Abend dieser Woche sandte meine Mutter Einladungen an alle unsere Verwandten und Bekannten. An diesem Abend erhielten wir Kinder auch von der Mutter das so sehnlich erwartete Chanukageld, das gew�hnlich in neun gl�nzenden Kupferm�nzen bestand. Man blieb an diesem Abend sp�ter auf als gew�hnlich, spielte auch l�nger Karten, und es wurde ein reiches Abendbrot geboten, [22] bei dem die sogenannten Latkes[B] das Hauptgericht bildete. Latkes sind eine Art Flinsen aus Buchweizenmehl mit G�nsefett und Honig; sie werden aber auch aus Weizenmehl mit Hefe, eingemachten Fr�chten und Zucker zubereitet und sind sehr schmackhaft. Als Getr�nk gab es eine Art Kaltschale, aus Bier, �l und ein wenig Zucker bestehend. Dazu kam Schwarzbrot, klein geschnitten, mit Zucker und Ingwer bestreuter Zwieback. G�nsebraten wurde gereicht mit allen m�glichen Beilagen, gesalzenen und sauren, unter denen der Sauerkohl und die Gurken nicht fehlen durften. Endlich ein reiches Dessert von Konfit�ren und Fr�chten, wobei Keller und Vorratskammer viel einb��ten. Die G�ste musterten, beurteilten und lobten die Speisen.

Das Ergebnis des Kartenspielens konnte man auf unseren Gesichtern lesen; mancher verlor sein ganzes Chanukageld und bem�hte sich, die Tr�nen zu verbergen. Es blieb nur ein Trost: die Hoffnung, da� solche Spielabende sich wiederholen werden. Dann wandte sich das Gl�ck und f�llte wieder die leere B�rse.

An solchen Abenden stellte mein Vater sogar das �Lernen� im Talmud ein und gesellte sich zu den Spielenden, obgleich er, wie meine Mutter, keine Idee vom Kartenspiel hatte. Sehr beliebt war auch das �Dreidlspiel�, auch goor genannt. Das Dreidl wurde eigens aus Blei gegossen. Es hat eine w�rfel�hnliche Form. Unten war eine Spitze, so da� der �Apparat� wie ein Kreisel gedreht werden konnte. Auf jeder der Seitenfl�chen war ein Buchstabe markiert. Fiel das Dreidl auf נ, so hatte der Spieler verloren. Bei ש blieb der Einsatz stehen. Fiel es auf ה, so konnte er die H�lfte des Einsatzes nehmen. Wenn das Dreidl aber auf ג fiel, so war �goor�; der W�rfler konnte den ganzen Einsatz einstreichen.

[23]

Nach der Chanuka-Woche kam das Leben in unserem Hause wieder ins alte Geleise. Es sei denn, da� Einquartierung die Ruhe wieder st�rte: Besuch eines hochgestellten Milit�r- oder Zivilbeamten. Die Festung in Brest besa� damals noch keinen Palast, und das Haus meiner Eltern war reich und bequem eingerichtet. Der damalige Kommandant Piatkin, der mit meinem Vater befreundet war, pflegte hohe G�ste in unserem Hause einzulogieren. Mancher kann ich mich noch sehr gut erinnern, z. B. des F�rsten Bebutow aus Grusinien im Kaukasus, der sp�ter in Warschau einen hohen Posten bekleidete. Er wohnte sehr lange bei uns, war zu uns Kindern freundlich und gegen alle sehr zuvorkommend. Oft brachte er uns, w�hrend wir im Blumengarten vor den Fenstern spielten, Bonbons und Honigkuchen, und unterhielt sich mit uns gem�tlich in russischer Sprache. Er hatte einen Diener, der Johann hie�. Er war lang und hager, hatte eine Habichtsnase und mandelf�rmig geschnittene, schwarze, gl�hende Augen, kletterte wie eine Katze bis zur �u�ersten Spitze der h�chsten Pappel, machte kunstvoll die Dschigetowka burduk, indem er sich von seinem im raschesten Lauf hinst�rmenden, feurigen Pferde bis zur Erde herabneigte, um eine kleine M�nze aufzuheben. Er war recht j�hzornig; man durfte ihn nicht reizen oder ihm in den Weg kommen, wenn er aufgeregt war, denn er f�hrte immer einen Dolch bei sich. So hat er einen Hund, der ihm einmal vor den F��en lief, mit dem Dolch entzwei gehauen. Ein anderes Mal hat er einen Hahn im Fluge aufgefangen und ihm mit den H�nden den Kopf vom Rumpfe heruntergerissen. Wir Kinder f�rchteten ihn sehr.

[24]

Der zweite Gast, dessen ich mich noch entsinnen kann, war der damalige Gouverneur von Grodno, Doppelmeyer, der oft nach Brest kam und stets bei uns wohnte. Er war ein sehr leutseliger, starker, blonder Herr, der bei uns als guter Freund aufgenommen wurde. Er hielt es f�r seine Pflicht, meinen Eltern, so oft er kam, eine Visite zu machen. Geschah dies an einem Freitag Abend, so wurde er mit einem St�ck Pfefferfisch regaliert, den er mit gro�em Appetit verzehrte. Auch dem sch�nen geflochtenen Schabbes-(Sabbat) Strietzel lie� er volle Gerechtigkeit widerfahren. Es mu� ein wohlgef�lliges Bild gewesen sein, wenn alle meine Geschwister mit ihren jungen, bl�henden Gesichtern und meine Eltern um den Tisch sa�en. Denn der Gouverneur sagte viel Schmeichelhaftes dar�ber und begl�ckw�nschte meine Eltern. Er unterhielt sich mit meinem Vater �ber mancherlei ernste Angelegenheiten und blieb plaudernd bis zum Ende der Mahlzeit: Der Verkehr zwischen Juden und Christen war damals noch nicht durch den Antisemitismus vergiftet ...

Unter den G�sten meines Vaterhauses war auch ein kleines, j�disches M�nnchen, das allj�hrlich im Hochsommer zu uns kam und einige Wochen bei uns weilte. Er geh�rte der Sekte �Dower min hachai� an, d, h. die nichts vom Lebendigen Genie�enden; die man jetzt Vegetarier nennt. Er hielt diese Vorschriften aber so strenge inne, da� er nicht einmal von dem Geschirr a�, das auch nur einmal zu Fleischspeisen benutzt worden war. Meine fromme Mutter pflegte selbst f�r ihn die Speisen zuzubereiten, eine Suppe aus sauren, roten R�ben oder Sauerampfer, Gr�tzbrei ohne jeden Fettzusatz, nur mit etwas Baum�l zubereitet; ferner N�sse in Honig, oder Rettig in Honig mit Ingwer gekocht, Tee und schwarzen Kaffee. — [25] Er war ein stiller, h�chst bescheidener Mann und wurde von uns allen sehr verehrt, insbesondere auch von meinem Vater, der mit ihm in seinem Kabinett �ber die Folianten gebeugt zu sitzen und zu disputieren pflegte.

Das Leben im Winter hatte f�r mich einen besonderen Reiz. Gerade wenn es t�chtig schneite, liebte ich es, drau�en herum zu spazieren. In der D�mmerstunde, wenn ich zu frieren anfing, schlich ich mich in den �Fl�gel�, so hie� das Seitengeb�ude im Hofe, wo meine verheirateten Schwestern mit ihren M�nnern und Kindern lebten. Mein Besuch dort galt der Njanja (Kinderw�rterin) des kleinen Sohnes meiner Schwester. Die Njanja erz�hlte mir oft sehr interessante M�rchen und sang sehr sch�ne Liedchen. Ich fand sie gew�hnlich an der Wiege sitzend, die sie mit einem Fu� in Bewegung hielt, w�hrend ihre gerunzelten, blau-gelben H�nde an einem dunkelgrauen, groben Wollstrumpf strickten. Ich kroch mit H�nden und F��en auf das Bett, auf dem sie sa�, und bat mit allerlei Schmeichelworten, sie solle mir den Strumpf zum Stricken geben.

�Nein�, grinste sie, �du wirst wie gestern nur wieder die Maschen fallen lassen. Geh weg von mir!�

�Chainke, Jubinke�, begann ich aufs Neue, �wenn Ihr mir nicht den Strumpf gebt, so singt mir von den Liedelach, die Ihr singt, wenn Ihr Berele einschl�fert.�

Gr�mlich antwortete sie: �Mir ist nicht zum Singen.�

�Seid Ihr krank, Chainke?� fragte ich sie besorgt.

�La� mich in Ruh�, schrie sie aufspringend. Aber ich lie� mich von dieser ihr eigenen Laune nicht abschrecken und wiederholte meine Bitte, die ich durch K�sse ihrer faltigen Wangen und Streicheln ihres runzeligen Halses unterst�tzte.

�Mischelaches!� (Gottesplage) schrie sie auf, �um von [26] dir poter zi weren (um dich los zu werden), werd' ich dir schon singen.�

Ich setzte mich zurecht, als ob sie ohne meine Vorbereitung nicht singen k�nnte und lauschte.

Und sie sang:

�Patschen, patschen K�chalach,
Kaufen, kaufen Schichalach,
Schichalach kaufen,
In Cheider (Schule) wet das Kind laufen,
Laufen wet es in den Cheider,
Lernen wet es gur Kiseider (der Reihe nach)
Wet es oblernen etliche Schures (einige Zeilen)
Wet man heren gute Bsures (gute Nachrichten h�ren)
Bsures toiwes (gute) zu zuheren
Abi dem Oilom (Publikum) a Eize zu geben (Rat zu geben),
Eine Eize zu geben mit viel Mailes (gute Eigenschaften)
Wet das Kind paskenen Scheiles (Fragen �ber koscher und treife und andere talmudische Fragen entscheiden)
Scheiles wet es paskenen.
Drosches wet es darschenen (talmudische Reden halten)
Wet men ihm schicken die gildene Pischkele, (wird man ihm schicken eine goldene Dose)
Un a Streimele (Festtagspelzm�tze)�

�Ach, wie sch�n, wie sch�n�, rief ich, Beifall klatschend, �Aber Ihr werdet mir noch, Chainke, ein zweites Liedele singen.�

�Was is dus heint far a Mischelaches (Gottesplage) auf [27] mir gekummen!� Sie sprang schreiend auf vom Sitz, so da� eine Stricknadel in die Wiege fiel und die Maschen von ihr herabglitten. Nun zweifelte ich nicht, da� ich heute nichts mehr zu h�ren bekommen w�rde. Ich blieb still sitzen, bis sie brummend und grimmig den Strumpf in Ordnung gebracht hatte; sie sah mich mit w�tenden Blicken von der Seite her an, als verst�nde es sich von selbst, da� ich Schuld an dem Unfall hatte. Ich regte mich nicht. Und da sie in meinen Mienen das Bekenntnis meiner Schuld fand, wurde sie wieder vers�hnt. — Freilich trug auch mein Versprechen, ihr etwas von meinem Vesperbrot zu bringen, zur Besserung ihrer Laune bei. Um mich los zu werden, sang sie mir noch ein zweites Lied:

�Schlaf mein Kind in Ruh,
Mach deine koschere (reine) �ugelach zu.
Unter dem Kinds Wiegele
Steht a wei�e Ziegele,
Die Ziegele is gefohren handeln,
Rosinkes (Rosinen) mit Mandeln.
Das is die beste S'choire (Ware)
Berele wird lernen Toire
Toire, Toire im Kepele (K�pfchen)
Kasche (Brei) Kasche im Tepele (T�pfchen)
Broit (Brot) mit Butter schmieren
Der Tate (Vater) mit der Mame (Mutter) Berele zu der Chupe (Trauung) f�hren.�

Es ist bezeichnend, da� der Jude damals selbst in den Wiegenliedern nur vom Thoralernen, Cheidergehen phantasierte — und nicht von Jagd, Hunden, Pferden, Dolchen, Krieg.

[28]

Chainke begeisterte sich an ihrem Gesange selbst recht sehr und sang mir noch mehrere Liedchen. Eins m�chte ich hier noch anf�hren:

Zigele, migele
Wachsen im Krigele
Roite Brenselie
As der Tate schlugt die Mamme
Reissen die Kinderlach Krie —

Zigele, migele
Wachsen im Krigele
Roite Pomeranzen
As der Tate kuscht die Mamme,
Gehen die Kinderlach tanzen.

Sicher animierte sie zu dieser Zugabe die Aussicht auf mein Vesperbrot. Inzwischen war es recht dunkel geworden. Ich lief eilig �ber den Hof ins Hauptgeb�ude zur�ck, wo meine Geschwister schon t�chtig dem Vesperbrot zusprachen. Unser Kinderm�dchen Marjascha konnte mit dem Brotschneiden und dem Aufstreichen von eingemachten Stachelbeeren — unserem Lieblingsgericht — gar nicht fertig werden. Ich bekam meinen Teil und husch! war ich schon wieder auf dem Wege zum Fl�gelgeb�ude, wo ich von der mir jetzt geneigten S�ngerin viel freundlicher als zuvor behandelt wurde. Und wir verzehrten gemeinschaftlich mit Behagen den Leckerbissen..... —

.... Die gr��ere H�lfte des Winters war vor�ber, und das Purimfest mit seinen aufregenden Freuden, mit den vielen Beschenkungen stand vor der T�r. Damals war es [29] unerl��lich, f�r unsere Cousinen und Nichten Handarbeiten zum Scholachmones (gesandte Geschenke) anzufertigen. Wir arbeiteten Tage und N�chte mit gro�em Eifer, und als nun alles fertig war, erg�tzten wir uns bei dem Gedanken, wie die Beschenkten vor Bewunderung beinahe neidisch auf unsere Geschicklichkeit sein w�rden. Der ersehnte Purimtag r�ckte immer n�her. Am Vortag war Esthertanes (der K�nigin Esther Fasttag), an dem alle �lteren Familienmitglieder fasteten. Schmackhafte Purimb�ckereien wurden von meinen Schwestern im Hause bereitet. Die Hauptrolle spielten die Hamantaschen (dreieckige Mohnkuchen) und die Monelach (in Honig gekochter Mohn). Gerieten sie gut, so versprach man sich ein gutes Jahr. Wir Kinder durften auch bei dieser Arbeit helfen, konnten wir doch bei dieser Gelegenheit nach Herzenslust naschen. Der ganze Tag verging ohne die �blichen Mahlzeiten. Aber wie gro� war die Lust, sich am Abend unter die gro�en mischen zu d�rfen und die gebackenen, gebratenen und gekochten Herrlichkeiten verzehren zu k�nnen! Und erst die freudige Aussicht auf den n�chsten Tag! Am Abend wurde zu Hause gebetet. Nachher fand sich eine zahlreiche Gesellschaft aus der Nachbarschaft ein. Hierauf wurde die M'gilla Esther (das Buch Esther) vorgelesen. Und so oft der verha�te Name Haman vorkam, stampften die M�nner mit den F��en, und die Jugend l�rmte mit den schrillen Gragers (Schnarren). Mein Vater �rgerte sich dar�ber und verbot es. Aber es half nichts: jedes Jahr tat man es wieder.

Erst nach dem Ablesen der M'gilla, das oft bis acht oder neun Uhr abends dauerte, begab man sich ins E�zimmer, und lie� sich die appetitlichen Speisen, die in reicher F�lle auf dem Tisch standen, gut schmecken. Jeder bediente sich, so rasch [30] er konnte, um den laut protestierenden Magen, der doch mehr als 20 Stunden keine Nahrung erhalten hatte, zu befriedigen.

Am fr�hen Morgen des darauffolgenden Tages konnten wir Kinder vor Aufregung nicht mehr schlafen und riefen einander noch in den Betten zu: �Was ist heute?� — �Purim!� lautete die frohlockende Antwort. Und nun kleidete man sich so rasch wie m�glich an. Die freudige Erwartung verwandelte sich in Ungeduld. Wir w�nschten, der Morgen m�ge doch endlich schon zum Nachmittag werden, da wurden ja die Scholachmones abgeschickt und empfangen.

Mein Vater und die jungen Leute kamen aus dem Bethause, wo ein Halbfeiertagsgottesdienst abgehalten und wieder die M'gilla vorgelesen worden war. Das Mittagmahl wurde zu fr�her Stunde genommen (es bestand aus den vier traditionellen G�ngen: Fische, Suppe mit den unvermeidlichen Haman-Ohren, d. h. dreieckige Kreppchen, Truthahn und Gem�se), um die zweite Mahlzeit, die Sude (Festmahl), die eigentlich am Purimfest die Hauptrolle spielte, noch vor Abend beginnen zu k�nnen. Dabei gibt sich der Jude, — so will es der Gebrauch — der wahren oder der vermeintlichen Freude hin und darf sich einen kleinen Rausch antrinken. So viel ich mich zu erinnern wei�, ist jeder Jude an diesem Tage munter und fr�hlich, er g�nnt sich gutes Essen und Trinken und bem�ht sich schon Tage vorher, f�r den Schmaus viel Geld aufzutreiben.

Uns Kinder besch�ftigte nur der Gedanke an das Abschicken und Empfangen des Scholachmones. Endlich kam die wichtige Stunde, da alle fertigen Geschenke auf ein Teebrett gelegt wurden. Dem Dienstm�dchen wurde eingesch�rft, welches Geschenk f�r den und jenen bestimmt sei. Mit besorgter, [31] vor Aufregung bebender Stimme wurde ihr verboten, sich unterwegs aufzuhalten oder mit jemand zu sprechen, nicht einmal im Vor�bergehen. Sie sollte direkt zu unseren Tanten gehen. Selbst die Art, wie sie das Teebrett mit den Geschenken auf den Tisch setzen m�sse, und wie sie jedem sein Geschenk auszuh�ndigen habe, wurde ihr genau angegeben. Dabei stellten wir uns lebhaft die Ausrufe des Entz�ckens vor, die unsere Arbeiten hervorlocken w�rden. Und wir zeigten wiederholt dem M�dchen jedes St�ck. Endlich ging das M�dchen fort und gelangte gl�cklich an Ort und Stelle.

�Bist du von den Kindern der Muhme geschickt?� eilten dem M�dchen dort die Kinder, hastig fragend, entgegen — denn ebenso wie bei uns, war man auch dort aufgeregt und ungeduldig gewesen.

�Ja!� stammelte das best�rmte M�dchen, das kaum die Wohnstube erreichen konnte, da ihr alle l�rmend und fragend folgten. Sie bem�chtigten sich endlich des Tablettes, st�rzten sich auf die Geschenke, um alles zu besichtigen, zu beurteilen und zu bewundern. Das unbeholfene M�dchen tat nicht so, wie wir befohlen hatten, da sich die Beschenkten die Sachen, ohne zu fragen, selber nahmen. Dann machten sich die Kinder daran, die f�r uns bestimmten Geschenke abzusenden. Das geschah in der n�chsten Viertelstunde. Die arme Botin aber, welche mit solchem Jubel empfangen worden war, ging fast unbemerkt, ganz still fort und wurde von uns dann mit der gleichen Ungeduld und Spannung ausgefragt, ob man dr�ben sehr erstaunt gewesen, und welche Meinung �ber unsere Geschenke ge�u�ert worden sei. Nun empfingen wir von unseren Cousinen die Gegengeschenke, welche unsere Erwartungen weit �bertrafen oder — auch nicht. Bei ihrer Entgegennahme [32] mu�ten wir an uns halten, ruhig zu bleiben. Wir durften uns vor der Botin nicht so ungeduldig und so neugierig zeigen, wie wir es tats�chlich waren; denn die Mutter hatte uns streng befohlen, ein ruhiges, w�rdiges Benehmen an den Tag zu legen.

Inzwischen wurden allerhand Purimspiele (Szenen aus der biblischen Geschichte, haupts�chlich aber mit einem Motiv aus dem Buch Esther) vorgef�hrt. Die erste Szene brachte das Achaschweros (K�nig Artaxerxes)-Spiel nach der Migilla, diejenige, in der der K�nig, Haman, Mardechai und die K�nigin Esther die Hauptrollen hatten. Gew�hnlich gab ein junger Bursche in Damenkleidern die K�nigin Esther, die von uns mit neugierig erregten Augen verfolgt und angestaunt wurde. Die Kleidung der anderen Darsteller zeichnete sich nicht durch besondere Reinlichkeit und Eleganz aus. Der dreieckige Hut mit dem Federbusch, die Epauletten und das Portepee waren aus dunkelblauem und wei�gelbem Pappendeckel verfertigt. Die Auff�hrung dauerte l�nger als eine Stunde, und wir folgten ihr mit dem gr��ten Interesse. Dann kam das Josefsspiel, dessen interessanteste Szenen der Bibel entlehnt sind. Bei allen St�cken wurde viel gesungen. Ich erinnere mich genau der Melodieen — und des komischen Tanzes, den Zirele Waans, eine Frau aus dem Volke, und ein armer Mann, Lemele Futt, auff�hrten. Sie tanzten und sangen dazu im Jargon. Wir kicherten heimlich �ber die grotesken Gestalten und ihre eckigen Bewegungen.

Am am�santesten f�r uns Kinder war das sogenannte Lied von der Kose (Ziege). Ein Fell mit einem Ziegenkopf wurde von einem Mann, der darin stak, auf zwei St�cken gehalten. Der Ziegenhals war mit allerlei bunten Glasperlen [33] und Korallen, Silber- und Messingm�nzen, Schellen und noch vielem anderen schimmernden, blinkenden Zeug behangen. Auf den beiden H�rnern waren zwei gr��ere Gl�ckchen befestigt, die bei jeder Kopfwendung schrill erklangen und sich mit dem anderen bimmelnden Tand zu einer seltsamen �Musik� vereinigten. Der gute Mann im Ziegenfell machte allerhand Bewegungen, er tanzte, sprang hoch und nieder. Das Singen besorgte mit lustiger, heiserer Stimme der F�hrer der Kose (Ziege).

Das Liedchen lautet:

Afen hoichen Barg, afen gr�nem grus, (gras)
Stehn a por Deutschen mit die lange Beitschen.
Hoiche manen seinen mir
K�rze kleider gehen mir.
Owinu Meilach (Unser Vater, K�nig)
Dus Harz is �ns freilach. (fr�hlich)
Freilach wellen mir sein
Trinken wellen mir Wein.
Wein wellen mir trinken
Kreplach wellen mir essen
Un Gott wellen mir nit vergessen.

Der S�nger war ein hagerer, langer, blonder Bursche, der das ganze Jahr in unserer Ziegelfabrik Lehm transportierte und den Spitznamen die �Kose� trug. F�r uns kleine Kinder war das Schauspiel voller Erg�tzlichkeiten. Aber wir konnten uns dennoch eines gewissen Angstgef�hles nicht ganz erwehren und fl�chteten uns auch bald, nachdem sie erschienen, auf den Ofen im E�zimmer, von dem aus wir die Vorg�nge mit mehr Sicherheit �berschauen konnten. Und da sahen wir mit [34] Interesse, wie �die Kose� ein Glas Branntwein hinuntergo�, das unsere Mutter ihr an den Mund gebracht hatte, dann steckte die Mutter ihr einen gro�en Purim-Mohnkuchen in den Mund, welchen die Kose, wie uns schien, im Nu verschluckte. Zu einer festen Ansicht, ob es denn wirklich eine Ziege war, oder ob ein Mensch darin stak, kamen wir nicht. Die Sache erschien uns durchaus r�tselhaft....

Der Scherz wurde laut belacht, und der Lehmf�hrer wurde mit einem guten Trinkgelde verabschiedet, wof�r er mit komischen Geb�rden dankte und alle segnete. Die vorgef�hrten Szenen fanden im Speisezimmer statt und wurden durch die vielen Boten, die Scholachmones brachten, oft unterbrochen. Die Boten harrten der Auftr�ge meiner Mutter, welche f�r die Abschickung der Gegengeschenke Anordnungen traf. Auf dem langen Tisch befanden sich verschiedene Sorten teuren Weines, englisches Porter, die besten Lik�re, Rum, Kognak, Bonbons, Apfelsinen, Zitronen, marinierter Lachs. Diese edlen Dinge verteilte meine Mutter und meine �lteren Schwestern unaufh�rlich auf Teller, Sch�sseln und Tablette. Es gab kein bestimmtes Ma�, keine bestimmte Zahl. Eine Sendung bestand gew�hnlich aus einer Flasche Wein oder englischem Porter und einem St�ck Lachs, aus Fischen und einigen Apfelsinen oder Zitronen. Ein so zusammengestelltes Geschenk war zumeist einem Herrn zugedacht. Die Geschenke f�r Frauen bildeten Kuchen, Fr�chte und Bonbons. Die Leute niederen Standes erhielten Honigkuchen, N�sse, �pfel auf einem Teller, der mit einem roten Taschentuch �berdeckt war, dessen Enden nach unten zusammengeknotet wurden. Ich erinnere mich lebhaft eines aufregenden Vorfalles am Purim. Meine Mutter hatte vergessen, einem Hausfreunde Scholachmones [35] zur�ckzuschicken.[C] Das fiel ihr erst sp�t nachts ein, und sie konnte vor �rger dar�ber nicht einschlafen. Am fr�hen Morgen kleidete sie sich rasch an und begab sich zu dem Freunde, um ihn um Verzeihung zu bitten und zu beteuern, da� der Irrtum nicht aus Geringsch�tzung, sondern aus Verge�lichkeit geschehen w�re. Die Versicherung war n�tig, denn der Freund hatte sich tats�chlich zur�ckgesetzt und verletzt gef�hlt. Von solcher Wichtigkeit und Bedeutung war damals jeder j�dische Gebrauch!

Die Boten kamen und gingen, und so verflossen die Nachmittagsstunden von eins bis sechs Uhr, die uns Kindern lauter Naschwerk und Leckerbissen brachten. Diese Zeit pflegte der Vater f�r sein Nachmittagsschl�fchen zu verwenden. Als er aufstand, erwartete ihn bereits der dampfende Samowar mit dem duftenden Tee auf dem Tisch. Sodann verrichtete er das Vorabendgebet. Denn die Sude (Festmahl) stand nahe bevor. (Nach der Vorschrift mu� diese noch vor Abend beginnen.)

Der gro�e Kronleuchter im gelben Salon wurde angesteckt. Alle Wachskerzen in den Wandleuchtern brannten. Auch die �brigen Zimmer waren hell erleuchtet. Die Tafel wurde aufs neue mit allen erdenklichen kalten, schmackhaften Speisen besetzt. Besondere Sorgfalt wurde an diesem Abend auf die Getr�nke verwendet, was in unserem Hause sonst nicht �blich war. Fast schien es, als s�he es unser Vater als gutes und gottgef�lliges Werk an, wenn sich jemand am Purim ein R�uschchen antrank.

[36]

Wir Kinder f�hrten an diesem Abend eine Posse auf, in der meine �ltere Schwester und ich die Kleider der Njanja und der K�chin ben�tzten. Sie waren nat�rlich zu lang und zu breit und schleppten nach. Meine Schwester stellte eine Mutter dar, ich ihre Tochter, deren Gatte sie mit einem Kinde in Armut verlassen hatte. Gute Menschen sollten uns nun helfen, den Mann aufzusuchen, denn sonst mu�te ich eine �Agune� bleiben (d. h. ich durfte nicht mehr heiraten) und mu�te seine R�ckkehr abwarten. Auf die Frage, woher wir k�men, hatten wir mit verstellter Stimme geantwortet: �Aus Krupziki.� Unser Benehmen und unsere Haltung waren so ruhig und ernst, da� selbst unsere Mutter uns im ersten Augenblick nicht erkannte, geschweige die G�ste. Der Vater rief aus: �Wie hat sich der Diener unterstanden, diese Leute ins Speisezimmer hereinzulassen, worin G�ste sind? Was ist das f�r eine Bel�stigung?� Wir baten um Almosen in Geld oder in Speisen, wir w�ren hungrig und h�tten heute noch nichts gegessen — das alles sprachen wir im echtesten Jargon. Unsere Bitte um Speise und Trank wurde bald erf�llt, man lud uns ein, am Tisch Platz zu nehmen. Wir taten es mit gespielter Befangenheit, und wir begafften und bewunderten alles, was man uns vorsetzte und sparten nicht mit Seufzern, was die Tischgenossen zum Kichern brachte. Wir waren so gut vermummt, der abenteuerliche Kopfputz war so tief in die Stirn ger�ckt, da� wir den Scherz unerkannt bis zu Ende f�hren konnten.

Wie ich mich seit meiner zartesten Jugend bis in die sp�teste Zeit erinnern kann, wurde am Purimfest bei uns zu Hause immer bis zum Tagesanbruch viel gegessen, getrunken und gelacht. Es herrschte Heiterkeit bis zur Ausgelassenheit. Alle sonst verbotenen Streiche und Possen waren gestattet. Jede Disziplin [37] bei Tische war aufgehoben. Das Fest lie� die beste Erinnerung zur�ck und auch greifbare Andenken: eine h�bsche Halsbinde, ein kleines Parfum-Flacon, das man immer wieder in den H�nden hin- und herwandte, um das Etikett, das man schon auswendig kannte, wieder mit erneutem Vergn�gen zu lesen. Lange wurde das Fl�schchen in der Kommode verwahrt, bis es bei einer wichtigen und passenden Gelegenheit zur Benutzung kam.

Schon am darauffolgenden Tage, am Schuschan-Purim, hielt meine Mutter mit der K�chin langen Rat �ber die gro�en Vorbereitungen zum Pesach (Osterfest). Die wichtigste Speise, rote R�ben zum Einlegen f�r den �Borscht� in einem �gekascherten� Fa�, wurde schon an diesem Tag angesetzt. Nach einigen Tagen erschien auch schon Wichne, die Mehlverk�uferin, in ihrem unvermeidlichen Pelz und brachte allerlei Mehlproben f�r die Mazzes. Meine Mutter beriet sich mit meiner �lteren Schwester beim Pr�fen des Mehles, man knetete aus den Proben einen Teig und buk kleine d�nne Pl�tzchen, bis die Wahl auf eine erprobte Mehlgattung fiel. Einen Tag vor Rosch-Chodesch (Neumond) Nissan mu�te meine �ltere Schwester einen Sack n�hen (denn die Mutter traute der K�chin nicht, da� sie das auch gen�gend sauber machen w�rde) und das mu�te vorsichtig in einer gewissen Entfernung von Brot oder Gr�tze geschehen: Meine Mutter war in allen diesen Vorbereitungen zum Osterfest so peinlich, da� die K�chin darob oft au�er sich geriet und grob wurde.

Meine �lteren Schwestern bereiteten f�r die Feiertage moderne, h�bsche Putzsachen vor. Schneider, Schuster und Putzmacherinnen fingen an, h�ufige Besucher in unserem Hause zu werden, mit denen die Saisonangelegenheiten gar oft �berlaut [38] er�rtert wurden. Rosch-Chodesch Nissan r�ckte heran, und nun begann man mit dem Backen der Mazzes. Diese Arbeit bildete eine Aufgabe in der h�uslichen Wirtschaft, mit der sich alle Hausgenossen, selbst Vater und Mutter, besch�ftigten. Schon am Vortage, ganz fr�h am Morgen, erschien Wichne, die Mehlfrau, mit dem S�ckel Mehl unter dem Pelz, der diesmal vorn mit einer langen, bis an den Hals reichenden Sch�rze bedeckt war. Den wei�en, aus d�nner Leinwand verfertigten Sack brachte meine Schwester ins Speisezimmer, wohin auch Wichne mit dem Mehl folgte. Wir Kinder durften nat�rlich auch da nicht fehlen, um and�chtig die abgemessenen T�pfe Mehl mitz�hlen zu helfen. So und so viel T�pfe wurden gez�hlt; der Sack wurde verbunden, in einen Winkel des E�zimmers gestellt, und sehr sorgf�ltig mit einem wei�en Leintuch bedeckt. Uns Kindern wurde streng verboten, mit Brot oder sonstigen Speisen in die N�he zu kommen, was wir ganz begreiflich fanden. Am n�chsten Morgen erschien das unentbehrliche Faktotum, die Aufwartefrau, die den Spitznamen Meschia Cheziche f�hrte, dieselbe, die schon zu Beginn des Herbstes als Aufseherin bei allen h�uslichen Arbeiten fungierte. Ihr ganzes praktisches Wissen bew�hrte sich haupts�chlich beim Einlegen von Kohl und beim Einkellern von Gem�se. Sie lebte mit ihrem Mann in einer Lehmh�tte bei unserer Ziegelfabrik, f�r die er Lehm transportierte, hielt sich aber die meiste Zeit bei uns auf. Sie war wirklich eine treue Seele, die sich f�r jedes von uns Kindern aufgeopfert h�tte. Ich sah sie nie anders als in einem zerlumpten, blaugestreiften Kattunkleid und in einem Paar sehr gro�er Schuhe, die ihr bei jedem Schritt von den auch im Sommer beinahe erfrorenen F��en herabfielen. Das braun-blau erfrorene Gesicht, war mit einem ehemals wei�en Kattuntuch [39] umwickelt, ein schmaler roter Wollstreifen um die Stirn gebunden und zwei Enden eines Schleiers hingen wie Fl�gel im Nacken. Die kleinen, tief in den Kopf gesunkenen matten Augen dr�ckten immer Wohlwollen und Dankbarkeit aus. Der ungeheuer breite Mund mit den schmalen Lippen schien nur die Worte sprechen zu k�nnen: �Gute Leut', erw�rmt mich und gebt mir etwas zu essen.�

Meine Schwestern lie�en jeden Herbst einen wattierten Rock und andere warme Kleidungsst�cke f�r sie anfertigen. Es scheiterte aber jeder Versuch, dieses g�nzlich durchfrorene Wesen zu erw�rmen. Also Meschia Cheziche kam; zuerst erhielt sie in der K�che einen Teller voll hei�er Gr�tzsuppe, und nachdem sie ges�ttigt war und sich etwas erw�rmt hatte, schlich sie zur T�r des Speisezimmers, streckte den Kopf zur halbge�ffneten T�r herein und meldete sich. Meine Mutter befahl ihr, sich ordentlich zu waschen; dann zog man der hageren Gestalt ein langes, wei�es Hemd �ber ihre Kleider und der Kopfputz wurde mit einem wei�en Leinentuch, das auch den breiten Mund bedeckte, umwunden. In diesem Aufzug, der ihr ein gespensterhaftes Aussehen verlieh, mu�te sie nun das Mehl f�r die Mazzes durchsieben. Nachdem sie meine Mutter mit den Worten gesegnet hatte: �Derlebts �ber a Juhr (k�nftiges Jahr) mit Eurem Mann und Kinderlach in gro�en Freuden!� begann sie ein Sieb nach dem anderen auf den vorbereiteten Tisch zu sch�tten. Welch ein erg�tzlicher Anblick, diese Erscheinung bei der Arbeit zu sehen! Wir Kinder standen in gemessener Entfernung und sahen aufmerksam zu. Meschia Cheziche war das Sprechen streng untersagt, damit kein Tr�pfchen aus ihrem Munde in das Mehl falle. Nach beendigter Arbeit blieb sie die Nacht in der K�che, und am fr�hen Morgen scheuerte sie die gro�en roten Kisten, [40] in denen das ganze Jahr reine W�sche aufbewahrt wurde, und, obgleich sie nie mit Speisen in Ber�hrung kamen, fa�te sie mit kr�ftigen H�nden an und wusch sie gr�ndlich, damit sie in tadelloser Reinheit die Mazzes aufn�hmen. Dann kamen die Holztische und die B�nke an die Reihe, die ebenfalls die Kraft des von Meschia Cheziche gef�hrten Scheuerbesens zu f�hlen bekamen. Auch die vielen Dutzende Rollh�lzer, Blechplatten, die ebenso gr�ndlich gereinigt wurden, wurden nicht verschont. Erbarmungslos rieb und scheuerte man auch zwei gro�e Messingbecken, legte rotgl�hende Eisenst�be darein und sch�ttete erst kochendes, dann kaltes Wasser so lange darauf, — ein solches Reinigen nennen die Juden. �Kaschern� — bis das Wasser �berlief; sp�ter wurden sie noch einmal gescheuert und dann blank geputzt, da� sie funkelten.

Das Wichtigste beim Mazzesbacken ist das Wasserholen vom Brunnen oder Flu�, was als gro�e Mizwe (gottgef�llige Handlung) gilt. Das Geschirr zum Mazzeswasser besteht aus zwei gro�en Holzschaffeln, die mit grauer Leinwand �berspannt waren, einem Eimer mit einem gro�en Sch�pfer und zwei gro�en Stangen. Das fehlende Geschirr wurde nat�rlich neu erg�nzt. Nachdem noch die gro�e K�che im Hof gereinigt, die Ziegel des Backofens durchgl�ht und �gekaschert� waren, wurde viel trockenes, harziges Holz, das unser bew�hrter alter W�chter Feiwele den ganzen Winter �ber zu diesem Zweck gesammelt hatte, in die K�che gebracht. Am Vorabend vor Rosch-Chodesch Nissan gab es im Hof vor dem Brunnen oder am nahen Flu� ein seltsames Schauspiel: Mein Vater, meine Schw�ger begaben sich in eigener Person, die Wasserschaffeln auf den langen Stangen tragend, zum Brunnen oder Flu�, um Wasser zu holen und es nach der gro�en K�che zu bringen, [41] wo die Schaffeln auf eine mit Heu bedeckte Bank gestellt wurden. Die Mutter und wir Kinder liefen dem seltsamen Zuge bald voran; bald hinterdrein. Die jungen M�nner waren dabei vergn�gt und munter. Mein Vater hingegen war ernst, denn diese Br�uche waren ihm als eine gottgef�llige Handlung heilig. Meine Schw�ger brachten auch den wohlverwahrten, verh�llten Sack Mehl in die gro�e K�che. Meschia Cheziche blieb die Nacht da, um rechtzeitig am n�chsten Morgen den Ofen zu heizen. Alle gingen zeitig zu Bette, um beim Beginn des Mazzebackens fr�h zugegen sein zu k�nnen.

Ich dr�ngte mich am n�chsten Morgen gleich an den Ofen und sah mit gro�em Interesse zu, wie gewandt eine alte Frau die runden, d�nnen Mazzen in den Ofen schob, die halbgebackenen zur Seite r�ckte, die ganz fertigen mit beiden H�nden sammelte und in einen Korb auf der nahe bei stehenden Bank warf, ohne da� auch nur eine einzige zerbrach, trotzdem sie so d�nn und zerbrechlich waren. Mir wurde bald eine Besch�ftigung zugewiesen: ich sollte die geschnittenen St�cke Teig den mit Rollh�lzern bewaffneten Weibern reichen, die um den langen, mit Blechplatten bedeckten Tisch standen. Meine �ltere Schwester hatte mich immer im Fr�haufstehen �bertroffen; auch jetzt erz�hlte sie mir mit Stolz, da� sie schon viele Mazzen aufgerollt habe, die sogar schon gebacken seien. Ich war mit mir sehr unzufrieden, schalt mich selber eine Langschl�ferin und suchte mich nun um so n�tzlicher zu machen. Ich beruhigte mich erst dann �ber das sp�te Aufstehen, als mich das viele Umherlaufen und Herumstehen t�chtig erm�det hatte. Ich wusch mir die H�nde und ging in die zweite Kammer, wo der Teig geknetet wurde. Da stand eine Frau �ber ein funkelndes Messingbecken gebeugt und knetete, ohne einen Laut von sich zu geben, ein [42] St�ck Teig nach dem andern aus abgemessenem Mehl und Wasser. Ich machte mich auch da n�tzlich, indem ich mir von dem kleinen Jungen, der das Wasser in das Mehl zu gie�en hatte, den gro�en Sch�pfer ausbat und seine Arbeit bed�chtig und still ausf�hrte, hie und da die knetende Frau ansehend, die �ber den Kleidern gleich Meschia Cheziche ein langes, wei�es Hemd trug und eine Sch�rze, die in der Taille nicht eingeschn�rt war. Kopf und Mund waren mit wei�en T�chern verbunden, ebenso wie bei Meschia Cheziche. Ich half mit, bis mich die M�digkeit �bermannte.

Das Backen der Mazzen dauerte fast zwei Tage. Meine Mutter ging unerm�dlich umher und besah von Zeit zu Zeit die Rollh�lzer, mit denen die Frauen die Mazzes rollten, um den angeklebten Teig abzukratzen; bei dieser Arbeit halfen meine Schw�ger und mein Bruder, die mit kleinen St�ckchen Glasscherben bewaffnet waren. Die Teilchen mu�ten entfernt werden, weil der angeklebte Teig bereits Chomez (d. h. ges�uerter Teig ist), und somit in den Mazzenteig (der unges�uert ist), nicht eingeknetet werden darf. Auch beim �R�deln� der Mazzen halfen die jungen M�nner mit; und es fiel keinem ein, eine solche Arbeit f�r unpassend zu halten, da alles, was Pesach und besonders die Mazzen betraf, als eine religi�se Handlung betrachtet wurde. Am darauffolgenden Tage untersuchte meine Mutter alle Mazzen, deren es oft mehrere Tausend gab, ob sich nicht etwa darunter eine verbogene oder nicht ganz ausgebackene befand. Denn eine solche war schon Chomez und mu�te beseitigt werden.

In strenger Ordnung legte man nun die tadellosen Mazzen reihenweise in die gro�en roten Kisten, die mit einem wei�en Tuch bedeckt wurden. Meine Mutter hatte unter dem Tuche [43] eine Mazze vorgenommen und ohne sie anzusehen, sogar mit geschlossenen Augen, die H�lfte abgebrochen, indem sie ein frommes, eigens f�r diese Handlung festgesetztes Gebet leise hersagte. Dann warf sie dieses St�ck Mazze wieder, ohne es anzusehen, in die Flammen. Diesen Gebrauch nannte man �Challe nehmen�; er soll wahrscheinlich an das Brandopfer der biblischen Zeiten erinnern.

Die n�chste Zeit bis Pesach verging in endlosen Vorbereitungen f�r die Wirtschaft, f�r Kleider und Putzsachen. Endlich nahte der wichtige Tag des Erew-Pesach heran. Da erreichte die Arbeit ihren H�hepunkt! Am Abend vorher wird auch eine rituelle Handlung vollzogen: das Bedike-Chomez, d. h. das Fortschaffen des ges�uerten Brotteiges aus dem Hause. Da begab sich meine Mutter in die K�che, lie� sich von der K�chin einen h�lzernen L�ffel und einige G�nsefedern geben, wickelte um beides einen wei�en Lappen, nahm ein Wachskerzchen dazu, band das ganze mit einem Bindfaden fest und brachte es in das Zimmer des Vaters, wo sie es auf das Fensterbrett legte. Diese scheinbar bedeutungslosen Gegenst�nde sollten Abends bei einer religi�sen Handlung verwendet werden. Mein Vater nahm, nachdem er zu Abend gebetet hatte, das B�ndel, steckte das Wachskerzchen an und �bergab es meinem Bruder, dessen Hand ihm als Leuchter dienen sollte, und nun ging der Feldzug gegen den Chomez durch das ganze Haus. Jedes Fensterbrett, jeder Winkel, in dem man Speisen vermutete, wurde von meinem Vater untersucht und von meinem Bruder mit dem Wachskerzchen erleuchtet. Die aufgefundenen Kr�mel wurden mit den Federn in den L�ffel gescharrt, nachdem mein Vater das dazu bestimmte Gebet gesprochen hatte. Wir Kinder machten uns manchmal den Spa�, vorher �berall Kr�melchen anzuh�ufen, [44] wor�ber sich der Vater wunderte, da doch an diesem Tage die Fensterbrettchen gew�hnlich mit besonderer Aufmerksamkeit gereinigt wurden. So untersuchte er nun gr�ndlich die Fenster, und die Mutter mu�te sich beeilen, das noch vorhandene Brot aus dem Hause zu schaffen, denn das Gesetz gebot, da� alles Brot, das auf der Suche durchs Haus vorgefunden wurde, gesammelt und verbrannt werde. Nachdem diese Handlung vollbracht war, speiste man etwas fr�her zu Abend als sonst. Das inzwischen verborgene Brot durfte nun zwar auf den Tisch kommen, die gesammelten Brotkr�mel im L�ffel aber wurden mit dem Wachskerzchen und den Federn in einen Lappen gebunden und auf dem H�ngeleuchter im Speisezimmer recht hoch befestigt, damit es keine Maus erreiche, welche die Kr�mel sonst wieder zerstreuen k�nnte. Man ging zeitig schlafen, um am n�chsten Morgen recht fr�h aufzustehen, denn um 9 Uhr morgens darf sich kein Bissen Brot oder sonstiger Chomez im Hause eines religi�sen Juden vorfinden. Wir Kinder wurden sehr fr�h geweckt und sollten Fr�hst�ck und Mittagessen auf einmal verzehren. Das Nationalgericht f�r diesen Morgen ist hei� gesottene Milch mit Wei�brot. Doch war selbst zu dieser fr�hen Stunde schon ein Braten fertig, an dem sich mancher Hausgenosse g�tlich tat. �Und nun rasch, rasch!�, trieb meine Mutter alle im Hause an, auch die Dienerschaft a� doppelt so viel als sonst, denn es durfte ja nichts vom Chomez zur�ckbleiben. Wir Kinder machten allerhand Sp��e und verabschiedeten uns dann f�r volle acht Tage vom Brote. Das Geschirr wurde rasch gewaschen, und die Mutter befahl dem Diener, alles ins Speisezimmer zu bringen. Von dem teuren Porzellanservice an bis zur letzten Kupferkasserole wurden alle St�cke bunt durcheinander auf die Diele, den Tisch, die Fenster gestellt und dann mu�te alles in gro�e [45] Kisten gepackt und auf den Boden gebracht werden, woher sodann die gef�llten Kisten mit dem Pesachgeschirr herunter getragen wurden. Das Speisezimmer wurde wieder gr�ndlich gereinigt, die Fensterbrettchen mit wei�em Papier bedeckt. Der gro�e Speisetisch wurde auseinandergezogen, mit einem wei�en Tuch oder mit Papier bedeckt und dann der zu seiner ganzen L�nge ausgezogene Tisch mit dickem Filz, einer Schicht Heu und vieler grauen Leinwand bedeckt, die mit kleinen N�geln befestigt wurde. Nach dieser Prozedur durfte erst das Pesachgeschirr ausgepackt werden, das wir Kinder mit so gro�er Neugierde erwarteten, weil jedes von uns darunter seine bestimmte Kaus (kleiner Becher von h�bscher Form) hatte. Aber damit nicht genug! Es gab um diese Zeit auch an allen Orten und in allen Zimmern viel Interessantes f�r uns zu sehen, besonders im Hof, wo alle Holztische und -b�nke zum Kaschern aufgestellt waren. Man bego� den Tisch oder die Bank mit siedendem Wasser, strich mit einem zum Gl�hen gebrachten Eisen dar�ber hin und her und sch�ttete dann gleich kaltes Wasser auf die Gegenst�nde. Au�er diesem Schauspiel gab es aber noch etwas Gro�artigeres: der Vater erschien n�mlich in der K�chent�r mit dem Chomez von gestern in der Rechten und lie� Feiwele, den alten W�chter, Ziegelsteine und trockene Holzst�cke bringen. Der Alte besorgte das blitzschnell, errichtete aus den Ziegeln einen kleinen Herd und legte die Holzst�cke darauf. Mein Vater legte den L�ffel mit den darin befindlichen Kr�meln auf den Scheiterhaufen und lie� das Holz in Brand setzen. Wir Kinder liefen hin und her, um uns, wenn irgend m�glich, dabei n�tzlich zu machen. Das trockene Holz fing sofort Feuer, und ein Fl�mmchen nach dem anderen z�ngelte aus dem Scheiterhaufen hervor. Und wir Kinder schrieen: �Seht, seht, die Federn sind [46] schon versengt! Der Lappen brennt schon ...� Endlich verschlangen die vereinten Flammen auch den L�ffel, und es dauerte nicht l�nger als 10 Minuten, so war das Autodaf� des Chomez vollzogen. Mein Vater verlie� nicht eher den Schauplatz, als bis alle �berbleibsel des Scheiterhaufens wegger�umt waren, denn nach der Vorschrift darf man selbst auf die Asche nicht treten, auch wenn es �Nutzen oder Vergn�gen� br�chte.

Wir Kinder sprangen von da in das E�zimmer, wo �Schimen, der Meschores� (der Diener) mit dem Auspacken des Pesachgeschirrs besch�ftigt war. Wir wollten auch hier helfen und von unseren Kausses (Weinbecherchen) Besitz ergreifen, da schmunzelte der Bocher (Junge) schalkhaft und meinte, da� wir dazu noch nicht geh�rig vorbereitet seien. Wir waren verbl�fft und sahen ihn fragend und best�rzt an. Mit gleichgiltiger Miene erkl�rte er, da� wir noch nicht gescheuert und gekaschert seien. �Wieso gekaschert?� fragten wir. �Ja, ja�, versetzte unser Peiniger, �Ihr m��t hei�e, gl�hende Steindelach (Steinchen) in den Mund nehmen, sie dort herumkollern, hernach mit kaltem Wasser aussp�len, ausspucken, dann erst d�rft Ihr dieses Geschirr anr�hren.� Wir fanden keine Antwort und st�rzten weinend in die K�che, wo meine Mutter in voller Arbeit war. Sie beriet eben mit der K�chin die Bereitung des Indian-Vogels, eines riesigen Truthahns, der bereits geschlachtet, gerupft, gesengt, gesalzen und dreimal mit Wasser abgesp�lt war. Jetzt lag er auf dem Brett, und die K�chin hielt ihn mit beiden H�nden fest, als wenn er davonfliegen wollte, w�hrend die Mutter, mit einem gro�en K�chenmesser bewaffnet, den Hauptschnitt ausf�hrte. Unweit von diesem Schauplatz, rechts von der Bank, lag auf einem neu abgehobelten Brett in seiner ganzen L�nge ein silberschuppiger Hecht aus dem Flusse Bug, noch der [47] kunstgerechten Behandlung harrend. Auf der linken Seite stand der sauber gescheuerte K�chentisch, auf dem sich verschiedene Sch�sseln, Teller, Gabeln, L�ffel befanden, ferner ein gro�er Korb Eier, ein Topf Mazzesmehl, das meine Schwester eben siebte und aus dem sp�ter die schmackhaften Torten, Mandelkuchen usw. bereitet wurden. Wir wollten nun die Mutter fragen, ob Simon Recht h�tte. Aber wir blieben, von der Mutter reger Arbeit gefesselt, stehen. Die schreckliche Vorstellung von den gl�henden Steindlach im Mund erpre�te uns ein leises Schluchzen und meine j�ngere Schwester �berredete mich, die Mutter doch zu interpellieren. Allein die Mutter kam uns zuvor. Ihr war unser Fl�stern l�ngst aufgefallen und, halb verwundert, halb �rgerlich, fragte sie uns, weshalb wir so ungest�m in die K�che gest�rzt w�ren. Da erz�hlten wir mit kl�glicher Stimme, in halben S�tzen, was der b�se Schimen uns gesagt hatte. Sie verstand nicht recht und ward ungeduldig. Dann schrie sie pl�tzlich auf: �Was f�r gl�hende Steindelach? Wer hat sie in den Mund genommen? Wer hat sich mit hei�em Wasser begossen?� Nach einer langen Auseinandersetzung erfuhr sie endlich die eigentliche Ursache unserer Besorgnis: Sie lie� Schimen sofort kommen und verbot ihm energisch, uns so dummes Zeug vorzuschw�tzen. Uns sagte sie, wir sollten uns waschen und reine Kattunkleidchen anlegen, dann w�ren wir w�rdig, unsere Kausses in Empfang zu nehmen. Im Nu waren wir angekleidet. Mit triumphierenden Mienen sprangen wir ins E�zimmer und halfen nun das Geschirr abwischen.

Unter diesen und �hnlichen Arbeiten verging der halbe Tag, bis unsere gesunden Magen daran erinnerten, da� wir seit 9 Uhr morgens nichts gegessen hatten. Wir wu�ten im voraus, was man uns geben w�rde. Man brachte den gro�en Gonscher [48] (eine sehr breite Flasche) mit s��em Meth, den meine Mutter so meisterhaft zu kochen verstand, und ein volles Sieb mit Mazzes: bis zu diesem Tage waren sie in strenger Verwahrung gewesen, da vor den Feiertagen Mazzes zu essen bei frommen Juden nicht erlaubt ist. Man f�llte also unsere Kausses mit Meth und wir machten uns an die Mazzes. Ein St�ck nach dem andern wurde in Meth getaucht und verschwand rasch, von unseren gesunden Z�hnen wie zwischen M�hlsteinen zermalmt.

Die Mutter kam endlich aus der K�che herein. Auch mein �lterer Bruder erschien und brachte �pfel, Walln�sse und Zimt. Aus diesen Materialien bereitete er, indem er alles in einem M�rser zerstie�, Charauses, d. i. eine Masse, welche wie Tonlehm aussieht und abends auf den Sedertisch kommt. Der �Lehm� soll daran erinnern, da� unsere Vorfahren in Egypten f�r den Pharao Ziegelsteine kneteten.

Nachdem mein Bruder mit dieser Arbeit fertig war, lie� die Mutter den E�tisch in den gelben Salon tragen und in seiner ganzen L�nge vor dem Sopha aufstellen. Sie bedeckte ihn dann mit einem wei�en Damasttischtuch, das nach beiden Seiten bis zur Diele reichte. Dann lie� sie den Diener das Porzellan- und Kristallgeschirr bringen, ordnete es und ging selbst an den Schrank, der das ganze Silbergeschirr enthielt. Der Diener stellte auf das gro�e silberne Tablet die Becher und Kannen, die sehr sch�n gearbeitet waren. Namentlich eine Kanne war besonders kunstvoll durch Intarsien aus Elfenbein, die mythologische Figuren darstellten. Der Deckel und das Gef�� waren aus massivem Golde. Mein Vater hatte einige hundert Rubel f�r das Kunstwerk bezahlt. Eine andere ziemlich gro�e Kanne war aus getriebenem Silber. Daneben standen gro�e und kleine Becher, deren Boden franz�sische M�nzen bildeten.

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Bald kam auch die Obsth�ndlerin (Gereziche) mit dem frischen gr�nen Salat, der an diesem Abend, dem Seder-Abend, eine wichtige Rolle spielte. Der Diener brachte aus der K�che eine Sch�ssel voll hartgesottener Eier, einen Teller frisch geriebenen Meerrettig (Moraur genannt), — ein Symbol, das an die Bitterkeit der Verh�ltnisse erinnern sollte, unter denen unsere Vorfahren in Egypten gelebt hatten. Dann einige gebratene St�ckchen Fleisch, die sogenannte Seroa, zur Erinnerung an die Pesach Korben, d. h. Osteropfer im Tempel zu Jerusalem; ferner einen Teller mit Salzwasser und einige Schmure-Mazze (geh�tete Mazzes[D]). Alle diese Speisen bedeckte meine Mutter mit einem wei�en Tuch. Nur den Salat lie� sie unbedeckt, als sollte er das eint�nige Wei� des Tischtuches beleben, w�hrend der rote, funkelnde Wein in der Kristallkaraffe sich in den gl�nzend geputzten Silberleuchtern und in jedem Kristallglas vielf�ltig wiederspiegelte. W�hrend meine Mutter mit dem Tischdecken und dem Vorbereiten der verschiedenen kleinen Symbole f�r die Abendfeier besch�ftigt war, kam der Vater oft und erkundigte sich, ob nichts vergessen worden sei. Zur Kr�nung des Werkes lie� die Mutter noch einige Daunenkissen und eine wei�e Piqu�decke holen und bereitete f�r den Vater zur linken einen Ruhesitz, das sogenannte Hessebett[E], ein �hnliches wurde auf zwei St�hlen f�r die [50] jungen M�nner neben ihren Sitzpl�tzen hergerichtet. Jeder Winkel atmete Sauberkeit und Behaglichkeit, und die festliche Stimmung, die im Hause herrschte, teilte sich jedem mit.

Die Abendd�mmer stiegen langsam hernieder. Die Theestunde nahte. Wir tranken und schl�rften das duftende Getr�nk mit besonderem Behagen, denn er schmeckte in der festlichen Umgebung ganz besonders gut. Alles blitzte und funkelte. Selbst f�r das Trinkwasser waren neue Gef��e in Verwendung.

Nun gings an die Toilette! Es dauerte nicht lange, so erschien meine Mutter festlich gekleidet, um die Kerzen anzuz�nden. Sie war zur Zeit, die ich schildere, jung und h�bsch. Ihre Haltung war bescheiden und doch selbstbewu�t. Ihr ganzes Wesen, ihre Augen dr�ckten wahre, tiefe Religiosit�t, Ruhe und Seelenfrieden aus. Sie dankte dem Sch�pfer f�r die Gnade, da� er sie und ihre Lieben diesen Festtag in Gesundheit hatte erleben lassen. — Ihre Kleidung war reich wie die einer Patrizierin jener Tage. Aus ihrer ganzen Art leuchtete die vornehme, adelige Abkunft. Mancher von der jungen Generation wird bei dem Wort �adelige Abkunft� sp�ttisch l�cheln, als g�be es keinen j�dischen Adel! Freilich hat der Jude sein Adelsdiplom weder auf dem Schlachtfeld noch aus K�nigspal�sten f�r Heldentaten auf der gro�en Landstra�e erworben. Den j�dischen Adel gab das geistige Leben: lebendiges Talmudstudium, Liebe zu Gott und den Menschen. Und es traf sich oft, da� zu diesen Tugenden auch �u�erer Reichtum und W�rden kamen.

Nachdem meine Mutter die Kerzen angez�ndet hatte, verrichtete sie ein kurzes Gebet, bedeckte sich, wie es der Brauch will, die Augen mit beiden H�nden. Bei dieser Gelegenheit [51] konnten wir die kostbaren Ringe an ihren Fingern bewundern, in denen das Kerzenlicht in allen Regenbogenfarben glitzerte und flimmerte. Besonders der eine blieb mir in Erinnerung, der einen gro�en, gelben Brillanten in der Mitte hatte, den in l�nglicher Form drei Reihen wei�er Brillanten umschlossen.

Nun erschienen meine �lteren, verheirateten Schwestern in reichem Putz. Man trug in den vierziger Jahren statt des goldgestickten, schmalen Rockes einen faltenreichen, breiten Rock, der aber weder Reifrock noch Turn�re besa�, die den jugendlichen K�rper verunstalteten.[F] Auch meine vier unverheirateten Schwestern bis zur allerkleinsten trugen Schmuck.

Wir M�dchen hatten schon im Alter von zw�lf Jahren die Pflicht, am Vorabend der Festtage und des Sabbaths Kerzen anzuz�nden. So versammelten wir uns alle um den Tisch. Wir gl�hten in freudiger Erwartung des Sederabends. Alle Kerzen brannten. Vor dem Sitze des Vaters brannten zwei Spirmazet-Kerzen, die man �Manischtane�-Kerzen nannte nach den sogenannten vier Fragen, die das j�ngste Kind am Tisch stellt. Denn Lampen kannte man zu jener Zeit �berhaupt noch nicht. Ich sa� noch in den vierziger Jahren an den langen Winterabenden mit meinen Schwestern bei einer Talgkerze, und wir haben, ohne die geringste Unbequemlichkeit zu empfinden, dabei unsere Schulaufgaben gemacht oder bis in die sp�te Nacht die spannende Erz�hlung von dem Prinzen Bowe mit seinem treuen, gefleckten Hund gelesen. Die Beschaffenheit der Talgkerze mit ihrem dicken Docht machte den h�ufigen Gebrauch der Lichtputzschere n�tig, die heute als arch�ologische [52] Seltenheit zu betrachten ist. — Eine bessere Beleuchtung erreichte man durch Spirmazet-Kerzen oder �llampen. Aber beide waren nur f�r die Reichen. Der B�rger erlaubte sich solchen Luxus nicht. Gegen Ende der vierziger Jahre kam die Stearinkerze auf, die schon ein etwas helleres Licht gab und die Talgkerze in den Hintergrund dr�ngte. In den sechziger Jahren kam mit der geistigen Erleuchtung auch die hellbrennende Petroleumlampe. Das war ein Jubel, den das ganze Volk im Land aus Freude dar�ber anstimmte. Alles glaubte, da� damit, wie bei den Fuhrwerken, das letzte Wort f�r die Bequemlichkeit der Menschen gesprochen sei. Alle Welt schaffte sich Lampen an und lie� sich unterrichten, wie sie zu behandeln seien, wieviel Petroleum hineinzugie�en sei, wie breit, lang und dick der Docht sein m�sse. Auch dazu gab es eine Schere, die aber der Kerzenputzschere nicht gleich war. In den ersten paar Jahren nach Einf�hrung der Lampen wurden selbst die Leuchter ganz abgeschafft. — Auch die Bauern, denen bisher der Pechspahn[G] oder Kahanez[H] als Beleuchtung gedient hatte, schafften sich jetzt Lampen an. Zwar war das Licht der damaligen Petroleumlampe mit der gelbr�tlichen Flamme grell und dem Auge unangenehm, nichtsdestoweniger arbeiteten die Lampenfabriken unaufh�rlich. Unz�hlige Millionen Pud Petroleum flossen in das russische Reich. Und die Herrschaft der Petroleumlampe bestand bis zu den

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achtziger Jahren, gegen deren Ende sie schon durch das Gas verdr�ngt wurde: eine neue Aufregung unter der Bev�lkerung! Freilich diente diese Erfindung nur der Stadt f�r die Stra�enbeleuchtung und den Reichen f�r ihre H�user. Mit prahlerischem L�cheln drehte der gro�st�dtische Hausherr den Hahn zur Gasbeleuchtung in seinem Kabinet auf, um seinen Gast aus der Provinz mit der pl�tzlichen Helle zu �berfluten. In der ersten Zeit kostete die neue Erfindung auch noch viele Menschenleben; die R�hren der Stra�enbeleuchtung platzten und waren undicht und in den H�usern erstickten viele durch ausstr�mendes Gas, wenn die Gash�hne w�hrend der Nacht nicht fest geschlossen waren. Erst viel sp�ter hielt dann die Elektrizit�t ihren Einzug und �berstrahlte mit ihrer Helle und Bequemlichkeit die bisherige k�nstliche Beleuchtung.

Die Sedertafel gl�nzte und strahlte. Der Meschores (Diener) hatte einen neuen Kaftan an, sein ganzes Auftreten atmete feierliches Selbstbewu�tsein, als bediente er an diesem Abend aus Liebensw�rdigkeit, Gef�lligkeit, nicht aus Pflicht, als f�hlte er sich den Herrschaften gleich. Er brachte das silberne Becken mit der Kanne und viele Handt�cher. Man erwartete die Herren aus dem Bethause, die auch bald erschienen. Schon beim Hereintreten meines Vaters f�hlten wir an dem Ton, mit dem er laut �Gut Jom-Tow� (Guten Feiertag) sagte, eine gewisse Feierlichkeit, eine wohltuende Vergn�gtheit. Er lie� meinen Bruder s�mtliche Hagadas[I] bringen und erteilte den Kindern den Segen. Hierauf nahmen wir am Tische Platz und zwar in der Reihenfolge des Alters. Heute durfte auch [54] �Schimen, der Meschores�, an einer Ecke des Tisches sitzen, nach patriarchalischer Art, womit bekundet wird, da� an diesem Abend alle gleich sind — Herr und Diener. Das Aussehen meines Vaters war w�rdevoll; seine gro�en, klugen Augen, die edlen Gesichtsz�ge dr�ckten eine innere Zufriedenheit und Seelenruhe aus. Die m�chtige, breite Stirn zeugte von rastloser Gedankenarbeit. Der lange, gut gepflegte Bart vervollst�ndigte das ehrw�rdige, patriarchalische Aussehen, und sein Verhalten den Kindern, sowie allen anderen gegen�ber, fl��te, obwohl er erst vierzig Jahre z�hlte, Ehrfurcht ein, als w�re er ein Greis von achtzig Jahren. Mein Vater war auf sein �u�eres sehr bedacht, ohne eitel zu sein. Der Ernst der j�dischen Erziehung sch�tzte gegen solchen Leichtsinn. Seine Festtagskleidung bestand aus einem schwarzen langen Atlaskaftan. Er war der L�nge nach von beiden Seiten mit zwei Samtstreifen besetzt, neben denen eine Reihe kleiner schwarzer Kn�pfe angebracht war. Die Kleidung vervollst�ndigte eine teure pelzverbr�mte M�tze (Streimel genannt) und ein breiter Atlasg�rtel um die Lenden. Von dem feinen wei�en Leinenhemd war blo� der Kragen sichtbar, der vorteilhaft den schwarzen luxuri�sen Anzug hervorhob. Auch das rote Foulard-Taschentuch fehlte nicht. Meine �lteren Schw�ger kleideten sich wie der Vater; bei meinem j�ngeren machte sich schon die europ�ische Mode geltend, indem er eine schwarze Sammetweste mit einer goldenen Uhrkette trug. Auch mein �ltester Bruder, ein kluges, aufgewecktes Kind mit gro�en, grauen, schw�rmerischen Augen, wiewohl erst zw�lf Jahre alt, kleidete sich wie die �lteren Herren. Bei der Anfertigung der Kleider war besonders wegen des �Schatnes� Bedacht zu nehmen. Es ist nach dem j�dischen Gesetze verboten, Wollstoffe zu tragen, die mit Zwirn gen�ht waren, ferner auf [55] gepolsterte M�bel, Equipagensitze sich zu setzen, die mit Tuch bedeckt waren und mit F�den gen�ht. Ein Pelz, der mit Zwirn gen�ht, war, durfte nicht mit Tuch bedeckt sein. Meines Vaters Pelze waren mit Seide zusammengen�ht. Einmal ertappte man den Schneider, da� er Zwirn verwendet hatte, und er mu�te St�ck f�r St�ck auftrennen und alles wieder mit Cordonetseide zusammenn�hen.

Mein Vater lie� sich gem�tlich auf seinen Sitz nieder, legte seine pr�chtige Schnupftabaksdose mit dem roten Foulardtaschentuch auf den Tisch zu seiner Rechten und begann in der Hagade zu lesen. Er bat die Mutter, ihm die einzelnen Gerichte von den Tellern zu reichen, auch die j�ngeren Herren folgten seinem Beispiel. Dann f�llte die Mutter auf eine besondere Bitte des Vaters hin den Becher mit Rotwein. Die verheirateten Schwestern f�llten hierauf auch ihren M�nnern die Becher, w�hrend unsere �ltere, unverheiratete Schwester das Amt des Einschenkens bei uns Kindern und den anderen Tischgenossen, selbstverst�ndlich auch beim Meschores, versah. Jeder der Herren bekam auf seinen Teller drei Schmure-Mazzes, zwischen denen sich bereits die Seroa, ein wenig von dem vorbereiteten Meerrettig, ein wenig Salat, Charausses, ein gebratenes Ei, ein Radieschen befanden. Das alles war mit einer wei�en Serviette bedeckt. Der Vater nahm den Becher Wein in seine rechte Hand und sagte das Kiduschgebet[J] und leerte das Glas. Alle Tischgenossen folgten seinem Beispiel, nachdem sie Amen gesagt hatten. Meine Mutter f�llte [56] von neuem den Becher, die anderen Frauen taten es wieder f�r ihre M�nner, w�hrend die Becher der anderen Tischgenossen mit s��em Rosinenwein gef�llt wurden. Dann nahm der Vater sein Gedeck mit allen darauf befindlichen Dingen in die rechte Hand, hob es in die H�he und sprach dabei laut das Kapitel Ho lachmo anjo. Die m�nnlichen Tischgenossen wiederholten den Satz bis zum zweiten Kapitel Mah-nischtano, den sogenannten vier Fragen, welche das j�ngste Kind bei Tische zu fragen hat. Diese lauten: �Warum essen wir an allen Abenden des Jahres ges�uertes und unges�uertes Brot, heute aber blo� unges�uertes?� usw. (siehe Hagade). Der Vater beantwortete, mit bewegter Stimme aus der Hagade lesend: �Awodim hojinu.� ... �Knechte waren wir bei Pharao in Mizraim und h�tte uns damals Gott der Allg�tige in seiner Allmacht nicht erl�st, und w�ren wir nicht von dort ausgezogen, w�ren wir, unsere Kinder und Kindeskinder bis jetzt noch Sklaven gewesen, und wenn wir auch alle kluge Schriftgelehrte w�ren, so ist es dennoch unsere Pflicht, vom Auszug aus �gypten zu erz�hlen.�

Bei diesen Worten brach der Vater immer in Tr�nen aus — er konnte und durfte seinem Sch�pfer gewi� aus vollem Herzen danken, wenn er seinen Blick �ber die sch�ne Tafelrunde schweifen lie� und die junge, h�bsche Frau mit den bl�henden Kindern, die kostbar geschm�ckt dasa�en, sah! Er durfte sich wirklich im Vergleich zu jener Zeit der Sklaverei als einen F�rsten betrachten.

Nun folgten die Psalmen, die als Hallelgebet zusammengefa�t sind, dann nach oftmaligem H�ndewaschen die Erkl�rung, warum wir an diesem Abend die vielen bitteren Kr�uter essen. Es ist zur Erinnerung daran, da� unsere Vorfahren [57] reich an Bitternissen waren, und da� sie, durch die W�ste ziehend, keine andere Erquickung hatten als bittere Kr�uter. Hierauf brachen die Herren die mittlere der drei Mazzen entzwei, legten die eine H�lfte unter das Polster zum �Aphikomon� (Nachspeise) und die andere H�lfte verteilten sie in kleinen St�cken unter die Tischgenossen als �Mauze� (der Jude betet vor dem ersten Bissen Brot, vor jeder Mahlzeit). Dann a� man vom Meerrettig: erstens zu Moraur, der in Charausses getunkt so rasch als m�glich verschluckt wird, da dies ohne Mazzen geschehen mu�. Dann der Kaurach, wieder eine Portion Meerrettig zwischen zwei Mazzesst�ckchen gelegt. F�r jeden Brauch wird zuvor ein bestimmtes Gebet gesprochen. Mit einem Wort, man bekam an diesem Abend den Meerrettig geh�rig zu sp�ren; und wir mu�ten mit Tr�nen in den Augen zugeben, da� das Leben unserer Vorfahren in �gypten bitter war. Sp�ter wurden Radieschen und Eier in Salzwasser getaucht; das mundete schon besser, und endlich kam das Abendbrot an die Reihe, das mit Pfefferfischen begann, dem eine fette Br�he mit Mazzemehlkl��chen folgte und das mit einem feinen frischen Gem�se endete. Dann bekam jeder Tischgenosse ein St�ck von dem aufbewahrten Aphikomon. Nun wurden die Becher aufs neue mit Wein gef�llt. Man go� sich Wasser �ber die H�nde, was man �Majim Acheraunim� nennt (letztes Wasser), wobei ein kleines Gebet verrichtet wurde; und nun schickte man sich an, das Tischgebet zu sagen, womit gew�hnlich einer der Herren bei Tische als Vorbeter beehrt wurde. Am Schlu� des Gebetes fiel die ganze Tischgesellschaft mit einem lauten �Amen� ein; und nachdem jeder f�r sich leise das Nachtischgebet mitgebetet hatte, wurden erst die Becher geleert. Und jetzt begann der zweite Teil der Hagade. Zum vierten Male f�llte [58] man die Becher. Diesmal wurde auch die gro�e silberne Kanne gef�llt, die in der Mitte der Tafel aufgestellt und f�r den Propheten Elia bestimmt war. Dieser Brauch findet in den kabbalistischen Schriften seine Erkl�rung. Nach der kabbalistischen Lehre ist alles, was man in paarweiser Zahl i�t oder trinkt (sogenannte kabbalistische Suges) sch�dlich oder es kann zum mindesten sch�dlich wirken. Daher mu� bei der Sedermahlzeit zu den vier Bechern, die getrunken werden, noch ein f�nfter gef�llt werden.

Wir Kinder glaubten fest an die Volkssage, da� der Prophet Elia ungesehen hereinkomme und an dem Becher nippe. Wir blickten daher unverwandt nach der Kanne und wenn sich die �u�erste Schicht an der Oberfl�che leise bewegte, waren wir �berzeugt, da� der Prophet anwesend war und uns �berrieselte es kalt und hei�. S�mtliche Becher wurden gef�llt, und der Vater befahl dem Diener, die T�r zu �ffnen. Nun begann man das Kapitel �sch'fauch chamos'cho� zu rezitieren; hierauf folgten die Schlu�kapitel des Hallel. Und zum Schlu� das allegorische Liedchen �chadgadjo, chadgadjo�, �Ein Zicklein, ein Zicklein�. Mit diesen und �hnlichen Versen fand der Sederabend seinen Abschlu�. Jeder hatte seinen vierten Becher Wein ausgetrunken. Auf den Gesichtern aller Tischgenossen sah man die Abspannung und Erregtheit infolge des ungewohnten Weingenusses. Meine �lteren und j�ngeren Schwestern verlie�en eine nach der anderen die Tafel, ehe noch die Verse zu Ende gesungen waren, was nicht als Verletzung der Religion oder der Hausdisziplin galt. Mich aber hielt etwas zur�ck, das ich mir um nichts entgehen lassen wollte. Es war Schir haschirim, das Hohe Lied, das Lied der Lieder Salomos, von dem ich jedes Wort, jeden Ton mit meiner ganzen Seele aufnahm. Die herrliche Verschmelzung von [59] T�nen und Worten wirkte auf das Kindergem�t berauschend; ich lauschte entz�ckt. Das ganze Lied wurde im Rezitativ in sieben T�nen gesungen, wobei sich mein �lterer Schwager David Ginsburg besonders auszeichnete, und hat sich so lebhaft, so unverge�lich meiner Seele eingepr�gt, da� ich den Anfang noch heute, an meinem sp�ten Lebensabend, auswendig kann. Was g�be ich darum, noch einmal in meinem Leben das Lied so sch�n singen h�ren zu k�nnen! Auch meine Mutter pflegte gew�hnlich noch bei Tische zu bleiben.

Meine Mutter ermahnte mich dann mehr als einmal, zu Bette zu gehen. Ich aber bat, noch bleiben zu d�rfen, was sie mir f�r ein Weilchen auch gestattete. Als sie aber bemerkte, wie m�d und abgespannt ich war, erfolgte eine zweite Ermahnung, und ich wiederholte meine fr�here Bitte noch inst�ndiger. Meine Stimme war wahrscheinlich dabei so innig, da� ich die Erlaubnis erhielt. Ich gab mir M�he, nicht m�de zu scheinen und kroch auf einen im Winkel stehenden gro�en Armstuhl und h�rte mit wahrem Seelengenu� dem Gesange zu. Bis zum Schlu� hielt ich es aber nicht aus, und ich erwachte erst auf meinem Lager, als meine Njanja mich entkleidete und zurecht legte. Ich wurde dabei munter, schlief aber bald wieder in der seligsten Stimmung ein und erwachte am Morgen mit der gleichen frohen und vergn�gten Laune. Alles im Hause war festlich geschm�ckt; �berall feierliche, herrliche Osterstimmung! Drau�en strahlte der Fr�hlingssonnenschein vom heiteren Himmel herab. Die Luft war mild und warm. Die ganze Natur schien ein festliches Kleid angelegt zu haben, wie wir alle im Hause. O goldene Kinderzeit im Elternhause, wie sch�n bist du! — — —

Zum Tee bekam ich Mazzen und Butter. Man zog mir ein neues Kleidchen an, und ich lief hinaus zu den Nachbarkindern, [60] die mich auf der Wiese bereits erwarteten. Wir h�pften und tanzten und sangen: �Der Fr�hling ist da, der Sommer ist gekommen, huha! huha! huha! huha!�

Die Frauen und M�nner des Hauses waren bereits seit dem fr�hen Morgen in der Synagoge zum Gottesdienste, wo das Gebet um Tau heute gesprochen wurde, ein Gebet, welches das konservative, j�dische Volk noch immer inbr�nstig betet, wiewohl es seit fast 2000 Jahren au�er dem Bereich seiner n�chsten Interessen liegt, da� das Korn auf dem Felde durch den Himmelstau gedeihen m�ge, das Gras durch das reiche Tropfen des Taues saftig werde, der Most gerate und nicht sauer werde. Dieses Gebet wird nach der alten Tradition also weiter gebetet, und zwar wie die meisten j�dischen Gebete, halb singend, wobei die Frauen mit den Tr�nen nicht sparen.

Ein Volk, behauptete Lord Beaconsfield, das zweimal j�hrlich den Himmel um Tau und Regen f�r die Felder anfleht, wird gewi� noch einmal sein eigenes Land besitzen.

Das zeigt, wie tief die Liebe zum Ackerbau und zur Scholle den Juden im Blute sitzt, gebietet doch das j�dische Gesetz, erst einen Weingarten zu pflanzen; sein Feld zu bestellen, dann ein Haus zu bauen und dann erst zu heiraten!

Gegen ein Uhr kamen alle Synagogenbesucher nach Hause. Da fanden sich auch schon G�ste ein, welche ihre Jomtow — (Feiertags-) Besuche machten und mit allerlei S��igkeiten und mit Wein bewirtet wurden.

Das Mittagmahl bestand aus den vier traditionellen G�ngen: dem obligaten, gef�llten Indian-Hals, den schmackhaftesten und besten Gem�searten, welche die Osterzeit bot, und wovon ein armer Jude an diesem Feiertage blo� tr�umen kann. Diese fetten, s��en Gerichte, wozu noch die Pfefferfische [61] und die �ppigen Kn�del (Kl��chen) kamen, steigerten den Durst auf das h�chste. Es wurde reichlich darauf guter, alter Schnaps, Rotwein, endlich auch Apfelkwas getrunken. Nach Tisch gab es ein allgemeines Schnarchen in allen Schlafzimmern, K�chen, auf dem Heuboden, w�hrend wir Kinder uns auf den Wiesen und Feldern, die bei unserem Hause lagen, in v�lliger Freiheit tummelten und mit den Nachbarkindern um N�sse spielten. Diese absolute Ruhe im Hause dauerte bis sechs oder sieben Uhr. Um diese Stunde wird Tee getrunken. Nach dem Tee gingen die Herren ohne ihre Frauen spazieren, die Frauen gingen ebenfalls mit ihren Freundinnen in die frische Luft, und dann begab man sich in die Synagoge zum Abendgebet, doch heut begann das Sphirez�hlen.[K]

Meine Mutter ging nicht in die Synagoge, da, wie gestern am Vorabend, der Sedertisch hergerichtet werden mu�te. Dieser zweite Abend hatte f�r uns Kinder auch sein besonderes Interesse. Es war �blich, die Kinder auf jede Art wach zu halten, vor allem, damit das j�ngste Mitglied der Familie nach der Vorschrift die vier Kasches (Fragen: warum essen wir heute unges�uertes Brot usw.) noch stellen konnte, und dann, um an diesem Abend das Geschichtsdrama des Auszuges der Juden aus �gypten ausf�hrlicher als es die Hagade tut, mit den �lteren und j�ngeren Hausgenossen zu besprechen. Man gab uns �pfel und N�sse zum Spielen. Wir waren sehr vergn�gt und blieben bis zum Schlusse des Seders wach. Die Tafel [62] war wie gestern reich besetzt. Aber manche Speise — besonders der Salat — trug den Charakter des M�den, Verwelkten. Blo� der frisch geriebene Meerrettig verbreitete seinen scharfen Duft.

An dieser zweiten Sederfeier wartete man nicht mehr mit Ungeduld, wie an der ersten, auf das Abendessen, weil alle noch satt waren von dem �ppigen Mittagsmahl. Das Nachtmahl wurde erst gegen zehn Uhr abends fertig, da am Tage nichts gekocht werden durfte und erst mit Eintritt der Dunkelheit, wenn Sterne am Himmel zu sehen sind, mit der Bereitung des Abendessens begonnen wurde. Es bestand lediglich aus einer Br�he oder aus einem Borscht (Suppe aus roten R�ben) und gekochtem Gefl�gel. Braten gab es nicht, weil die Seroa, das Symbol des Brandopfers, auf dem Tische stand. Der Vater fragte an diesem Abend gew�hnlich mit Ungeduld nach dem Essen, da noch vor Mitternacht der Aphikomon gegessen und die Sederfeier beendet sein mu�. Die Einzelheiten waren die gleichen wie am vorigen Abend, wenn sie auch weniger feierlich und schneller aufeinander folgten; und es gelang auch in diesem Tempo, das Aphikomon noch vor der Mitternachtsstunde zu verspeisen. Nach Schlu� der zweiten H�lfte des Seders wurde wieder das Hohelied bis weit �ber Mitternacht hinaus gesungen, das ich aufrecht sitzend bis zum Schlu� anh�rte.

Die folgenden vier Tage hei�en Chaulhamaued (Werktage, Halbfeiertage, an denen das Leben fast wie an einem gew�hnlichen Tage hinflie�t und fast alles gestattet ist). In unserem Hause freilich glich das Leben dem an gew�hnlichen Feiertagen: es kamen viele G�ste zum Tee, zum Mittag- und Abendessen.

Viele M�he machte das Bewachen der Schmure, der Mazzes und Gef��e. Mehr als einmal gab es �rger mit den Bediensteten, [63] die oft die Geschirre verwechselten. Ich erinnere mich eines Falles: es war am Erew-Jomtow (Vor-Feiertag) der letzten zwei Festtage des Pesachfestes. Eine stattliche Anzahl von H�hnern und �Indians� (Puten) lagen koscher gemacht, d. h. nach ritueller Vorschrift gew�ssert und gesalzen, da erschien meine Mutter in der K�che, nahm ein gro�es Messer und untersuchte, ob nicht etwa ein Hafer- oder Gerstenkorn, womit das Gefl�gel gem�stet wurde, irgendwo stecken geblieben war als Chomez, so da� das Gefl�gel f�r Passah unbrauchbar w�re. Und richtig! Sie fand ein Haferkorn in der Kehle eines Indianvogels, womit nun alle seine Leidensgef�hrten gerichtet, d. h. also Chomez waren und nicht mehr verwendet werden durften. Meine Mutter war deswegen sehr �rgerlich, sah die K�chin mit vorwurfsvollen Blicken und triumphierender Miene an und rief: �Da hast du die Bescheerung, du ungeschicktes Ding! Wo hattest du deine Augen? Du warst wahrscheinlich blind beim Koschermachen des Gefl�gels? Du h�ttest es auch jetzt nicht bemerkt. Ich danke Gott f�r die Gnade, da� ich das Haferk�rnchen gefunden habe, sonst h�ttest du uns alle mit Chomez gef�ttert!�

M�he und Kosten waren nun umsonst gewesen, das ganze Gefl�gel wurde beseitigt und anderes mu�te geschlachtet, geputzt und koscher gemacht werden! Man denke sich den �rger der Mutter und Hausfrau! Der Tag war vorger�ckt, die Speisestunde nah! Nichtsdestoweniger milderte ihren �rger ein Gef�hl freudiger Befriedigung, weil Gott sie vor einer S�nde bewahrt hatte. Ist doch die strenge Beobachtung aller Pesachvorschriften f�r den frommen Juden um so bedeutungsvoller, als ihre Verletzung mit fr�hzeitigem Tod bestraft werden soll. So wurde denn das Todesurteil an ebensoviel H�hnern [64] und Indianv�geln vollzogen, obwohl sie im Hofe laut dagegen protestierten!

Es geschah auch einmal in diesen Tagen, da� der Diener der K�chin eine gew�hnliche Mazze statt der Schmure-Mazze zum Fischkochen gab. Eine Viertelstunde vor Tische ordnete die Mutter die schmackhaft gekochten Fische auf der Sch�ssel und erkannte das Versehen. Meine Mutter geriet in Zorn und �rger, und der Diener bekam seine wohlverdienten Vorw�rfe zu h�ren. Der Vorfall erf�llte das ganze Haus mit L�rm und gerechter Wut; und weder die Eltern, noch der Melamed haben die so appetitlichen Fische ber�hrt! Der Vater, die Mutter, der Melamed a�en blo� von den Schmure-Mazzes, hatten auch besonderes Geschirr, w�hrend die �brigen Hausgenossen die gew�hnlichen Mazzes verzehrten.

Nun kam der letzte Tag des Osterfestes. Die achtt�gige Qu�lerei mit dem Essen, den Speisezubereitungen, die man in unserem Elternhause so geduldig und piet�tvoll ertragen hatte, war zu Ende. In der D�mmerstunde des letzten Tages machten sich die Jungen im Hofe der Synagoge den Spa� und schrien: �Kommt zum chomezigen Borchu!� (Das erste Wort des Abendgebetes.)

Mein Vater kam von der Synagoge heim und machte, am E�tisch stehend, Awdole, d. h. er weihte die kommenden Werktage mit einem Becher Wein ein und dankte Gott daf�r, da� er Fest- und Werktag, Licht und Finsternis von einander geschieden hat. Am Schlu� des Gebetes leerte er den Becher, go� den Rest auf den Tisch, nachdem er an der mit Nelken gef�llten wohlriechenden Dose gerochen, die Finger gegen das geflochtene, brennende kleine Wachslicht gehalten hatte und durchleuchten lie� und l�schte dann im Rest des Weines das Licht aus.

[65]

Nun war man von allem Zwang, den das Pesachfest trotz aller Herrlichkeiten auferlegte, befreit, und der Fr�hling mit seinen Freuden, den lustigen Spielen im Freien nahm f�r uns Kinder seinen Anfang. Im Hause gab es noch lange Zeit Arbeit, ehe das Pesachgeschirr bis auf den letzten Topf und die letzte Sch�ssel aus allen Ecken und Winkeln zusammengetragen und wieder fortgestellt war. Schimen, der Meschores, holte abends die gro�en Kisten vom Boden herunter und packte alles ein, so da� am folgenden Tage keine Spur mehr von dem mit soviel M�he veranstalteten Pesach zu sehen war. Selbst die �briggebliebenen Mazzes durften nach der Vorschrift nicht gegessen werden; in manchen j�dischen H�usern pflegte man eine einzige, gro�e, runde Mazze an einem Schn�rchen an die Wand zu befestigen, die zur Erinnerung das ganze Jahr bis zum n�chsten Pesach h�ngen blieb. Gleich nach dem Feste wurden die verschiedenen Arten von Gr�tzen untersucht, ob sich nicht in der achtt�gigen �Schonzeit� etwa Milben entwickelt h�tten, da es um diese Zeit in unserer Gegend schon sehr hei� war. Bei uns freilich wurde die vorj�hrige Gr�tze nicht mehr gegessen. Wir warteten, bis es wieder frische Gr�tze gab — sich chodisch-essen war f�r diesen Brauch der terminus technicus.

Die ersten Fr�hlingswochen verliefen in unserem Hause in der gedr�ckten Stimmung der Sphirezeit (von Ostern bis Pfingsten), w�hrend der jede Freude, jedes Spiel verboten ist. Konzerte und Theater zu besuchen, eine Hochzeit zu feiern oder auch nur ein neues Kleid oder neue Schuhe anzulegen, selbst bei dr�ckender Hitze ein Flu�bad zu nehmen, war in meinem Elternhause streng verp�nt. Nur am Freitag durfte man, nachdem der halbe Tag vorbei war, ein warmes Reinigungsbad [66] nehmen. Alle Schmucksachen, wie Perlenschn�re und die gestickte Stirnbinde wurden beiseite gelegt. Man trug einfache, alte, abgen�tzte Kleider. Meine Eltern und meine Geschwister enthielten sich w�hrend der Sphirezeit im Gegensatz zu ihrer sonstigen Gewohnheit aller Sp��e, und sie lachten und scherzten fast nie. Meine Mutter versprach uns oft viel N�sse, wenn wir sie erinnern wollten, jeden Abend Sphire zu z�hlen. Das Erinnern war �berfl�ssig, denn sie verga� nie zu z�hlen, wie viele Tage und Wochen in der Sphire abgelaufen sind. — — —

Der Fr�hling hatte f�r mich einen besonderen Reiz. Die Wiesen, die in der N�he unseres Hauses lagen, lockten. Den ganzen Morgen sprang ich in der heitersten Laune umher und pfl�ckte eine Butterblume nach der anderen und freute mich �ber jede junge Bl�te. Ich wand mit Hilfe meiner steten Begleiterin Chaie, der Klempnerstochter, aus diesen Wiesenblumen Kr�nze, f�r die ich noch vom Ufer des nahen Flusses viele zarte Vergi�meinnicht holte. Wir bekr�nzten uns die K�pfe und gingen so geschm�ckt nach Hause. Oft unternahm ich in Gesellschaft armer Nachbarskinder Streifz�ge in die Geb�sche, welche den hohen Berg neben unserem Hause umgaben und zahllose hochrote, wilde Beeren bargen. Aus diesen machten wir lange Schn�re und schm�ckten uns damit. Bei diesen Streifz�gen verga� ich oft, nach Hause zur�ckzukehren, und meine Mutter geriet in Unruhe und Sorge um mich. Alle waren bereits bei Tisch, und ich war immer noch nicht heimgekehrt, und man mu�te mich suchen.

Zu meinen Lieblingspl�tzchen geh�rte der einsame Heuboden, wo das duftende junge Heu in Massen aufgeh�uft lag. Ich grub mir da eine Art H�hle und setzte mich hinein. Hier [67] spielte ich mit meinem Lieblingsk�tzchen, lehrte es auf den Hinterbeinen stehen und sitzen, wickelte es in meine Sch�rze, zog es am Ohr und schrie hinein: �K�tzele, willst du Kasche?� (Brei). Und das gemarterte Tierchen ri� sein Ohr aus meiner Hand los, sch�ttelte sich, was ich als �Nein� deutete; dann nahm ich das zweite Ohr und schrie hinein: �Willst du vielleicht Kugel?� (ein fettes Sabbathgericht). Und das K�tzchen stie� ein lautes Miauen aus, welches ich als ein �Ja� deutete. Aber bei diesem Spiel hielts mich nicht lange, ich beugte mich �ber die Bretter vor, und warf den Pferden durch die gro�en �ffnungen in den Stall Haufen Heu gerade vor ihren K�pfen herunter, das sie gierig verschlangen.

Um meinem Schlendrian und dem freien Herumwandern in den Bergen, durch Feld und Geb�sch und dem gef�hrlichen Hocken auf dem Heuboden ein Ende zu setzen, beschlo� meine Mutter, mich in den Cheder zu geben (Volksschule), und mich dem Melamed (Volksschullehrer) anzuvertrauen, bei dem meine �ltere Schwester hebr�ischen Unterricht hatte.

An einem sch�nen Nachmittag mitten im eifrigsten Spielen wurde ich pl�tzlich von meiner Mutter, die am Fenster stand, ins E�zimmer gerufen. Da sa� bereits, meiner harrend, Reb Leser, der Melamed, und meine Mutter sagte, sich zu ihm wendend: �Das ist meine Pessele, morgen kommt sie mit Chaweleben (meine Schwester) zu euch in den Cheder.� In meiner Sch�chternheit wagte ich es kaum, meine Augen zu ihm zu erheben. �Aber dein K�tzele darfst du in den Cheder nicht mitbringen�, sagte Reb Leser zu mir. Diese Worte waren gerade nicht dazu angetan, mich f�r ihn einzunehmen. Der Reiz des Neuen, der in dem Chederbesuch lag, war mir damit zur H�lfte genommen. Ich blieb verstimmt sitzen und dachte, [68] was wohl jetzt mit meinem K�tzchen und den anderen Herrlichkeiten werden solle. Ich h�rte, wie Reb Leser zur Mutter sagte: �Also Dienstag wird sie der Behelfer in den Cheder abholen.� Er w�nschte �gute Nacht� und verschwand in der D�mmerung. Und nun hie� es Abschied nehmen von den lustigen Spielen mit Chaie, des Klempners T�chterlein, das so h�bsche T�pfchen mitzubringen pflegte, mit Peyke, die im Puppenspiel so erfinderisch war und Jentke — wie oft sa�en wir dort, am Ende des gro�en Gartenzaunes auf dem gro�en Holzklotz so traulich beisammen und erz�hlten uns traurige und heitere M�rchen, da� wir bitter weinen oder herzlich lachen mu�ten! Es schnitt mir ins Herz, das alles aufgeben zu m�ssen. Allein meine Neugierde, den Schauplatz meines neuen Lebens zu sehen, tr�stete mich ein wenig. Die Mutter riet mir, bald nach dem Abendessen schlafen zu gehen, um zu gleicher Zeit mit meiner Schwester am fr�hen Morgen aufzustehen und zusammen in den Cheder zu gehen. Mein Schlaf war diese Nacht nicht so ruhig wie sonst! Ich war sogar fr�her auf den Beinen, als meine Schwester. Die Njanja mu�te mich zuerst waschen und ankleiden, ich mu�te sogar auf meine Schwester warten.

Der erste Schultag!....

Der �Unterbehelfer� erschien, um uns abzuholen. Ich war sehr gespannt, ihn zu sehen. Es war ein hochaufgeschossener Junge mit zwei langen, d�nnen, blonden Locken vor den gro�en Eselsohren und einem ungeheuer breiten Mund. Seine Augen konnte man nur selten sehen, er trug n�mlich seine wattierte Kutschme[L], die er selbst bei der gr��ten Hitze in die Stirn gedr�ckt hatte, als w�re sie f�r alle Ewigkeit auf seinem Kopfe [69] festgewachsen. Seine �brige Kleidung konnte man auch nicht gerade luxuri�s nennen. Von der Fu�bekleidung war der eine Schuh so gro�, da� er ihn bei jedem Schritt verlor, w�hrend der andere so knapp sa�, da� er das zweite Bein hinkend nachschleppen mu�te; offenbar geh�rten die zwei Schuhe zwei verschiedenen Paaren an. Er war aus der Kehile (Gemeinde) Sabludewe (hier im Sinne von Kr�hwinkel) und hie� Welwel. Das alles erfuhr ich, als er in die K�che trat, zu deren halb offener T�r ich neugierig den Kopf hineinsteckte. Er sollte gerade sein Fr�hst�ck bekommen; er a� n�mlich bei uns �T�ge�, wie man es damals hie�, d. i. an jedem Tag in der Woche a� er bei den Eltern eines anderen Sch�lers. Zu uns kam er jeden Dienstag. Ich mu�te lachen �ber ihn. Er war aber auch zu drollig, wenn sich dieser lange Mensch just auf die �u�erste Kante der K�chenbank plump hinsetzte, so da� sich das andere Ende in die H�he hob und er, der Bocher, in seiner ganzen L�nge ungeschickt auf die Diele purzelte. Selbst unsere m�rrische K�chin mu�te da lachen. Der Unfall hinderte jedoch den Behelfer nicht, sein Essen mit einem wahren Wolfsappetit zu verschlingen. Dann segnete unser Begleiter unseren ersten Chedergang, indem er ausrief: �Nun mit dem rechten Fu�!� Unterwegs bildete er meist die Arri�regarde, wahrscheinlich infolge seines ungleichen Schuhwerks. Bald aber sollte er sich als unser tapferer Besch�tzer bew�hren.

Die Gelegenheit dazu bot ein w�tender Hund, der uns anfiel und verfolgte. Hilfesuchend sahen wir uns nach unserem Besch�tzer um — aber der erste, der j�mmerlich aufschrie, war er. Trotz seiner Schuhe lief er, was er nur konnte, immer schneller, wir versuchten ihm nachzukommen, aber er [70] war der bessere Renner — wir erreichten ihn nicht. Meine Schwester ergriff meine Hand und in atemloser Angst wiederholten wir das Spr�chlein, wie ein Gebet:

�Hintale (H�ndchen) Hintale, willst mich beissen?
Werden kommen drei Teiwolim (Teufelchen),
Werden dich zerrei�en.
Hintale, Hintale, willst mich bei�en?
Werden kommen drei Teiwolim, werden dich zerrei�en.
Ich bin Jakow (Jakob), du bist Esau,
Ich bin Jankow, du bist Esau!�

Der Spruch mu�te rasch, in einem Atem und ohne da� man sich von der Stelle r�hrte, hergesagt werden. Wir waren fest �berzeugt, da� der Hund still werden und uns passieren lassen w�rde....

Unser �bew�hrter� F�hrer wartete auf seinem Platze, wo er sich in Sicherheit f�hlte, so lange, bis wir zu ihm kamen. Und nun bewegte sich der Zug weiter. Meine Schwester zeigte und erkl�rte mir auf dem Wege alles, was mir neu und merkw�rdig schien. Wir sahen viele Buden, Kr�mergestelle und mu�ten uns durch die Menschenmassen hindurchdr�ngen, bis wir gegen acht Uhr den Cheder erreichten.

Das H�uschen war wohl einst, vor langer, langer Zeit, gelb angestrichen. Nun stand es tief in die Erde gesunken mit kleinen Fensterscheiben, die nur sp�rlich das Tageslicht einlie�en. Das H�uschen war von einer Prisbe (Erdbank) umgeben, auf der ich meine k�nftigen Mitsch�lerinnen, die ungef�hr in meinem und meiner �lteren Schwester Alter standen, bei verschiedenen Spielen sah. Sie gafften mich mit gro�en Augen an. Wir blieben vor der Eingangst�r stehen. So leicht konnte der Uneingeweihte [71] hier seinen Weg nicht finden! Meine Schwester ging voran; sie �ffnete die T�r, sprang in den Flur und streckte mir die Hand entgegen. Ich erfa�te sie und streckte das eine Bein vor, um Boden zu finden. Diesen bildete ein halb verfaultes St�ck Holz, das ganz tief eingesunken in dem Lehmboden lag. Ich mu�te das Bein weit von mir strecken, um das Holz zu f�hlen. Nun setzte ich auch das zweite Bein hinunter und tat mutig einen Schritt vorw�rts. Meine Schwester ermahnte mich, da� ich nicht �ber die zum Boden f�hrende Leiter stolpere. Einen Schritt weiter stand schon ein Wasserfa�, an dessen Rand der gro�e h�lzerne Wassersch�pfer lag, der uns Kinder sp�ter immer zum Trinken animierte. Ferner befand sich hier noch ein Eimer und ein Besen. Links erblickte ich eine T�r, die statt der Klinke einen h�lzernen Stock hatte, der vom vielen Gebrauch so glatt wie eine Glasur war. Meine Schwester �ffnete die T�r, sie trat in den Schulraum, und ich folgte ihr. Wir konnten beide nicht bequem gerade stehen. Beim ersten Schritt stie�en wir auf eine Bank, die mit einem langen Holztisch fast wie verbunden war, auf dem allerlei Lehr- und Gebetb�cher lagen. An der anderen Seite des Tisches stand eine �hnliche Bank, die bis an die Wand reichte. Ich �berlasse es der Phantasie des Lesers, die Breite dieses Gemaches zu ermessen! Reb Leser, der Melamed, thronte oben an der Spitze des Tisches, von da aus konnte er mit Herrscherblicken das ganze Gebiet �bersehen.

Reb Leser war kr�ftig gebaut, breitschulterig, mit seiner wuchtigen Gestalt verdeckte er das Fenster, neben dem er sa�, in seiner ganzen Breite und H�he. Seine wasserblauen, gro�en, hervorstehenden Augen, vor denen sich fortw�hrend ein paar kleine graue Pees (Ohrl�ckchen) bewegten, und sein langes Gesicht mit dem spitzen, grauen Bart verrieten Selbstbewu�tsein [72] und Stolz. Die Stirn mit den starken, geschwollenen Adern zeugte von Energie. Seine Tracht war zeit- und standesgem��: kurze, an den Knien gebundene Beinkleider, graue dicke Str�mpfe, gigantische Schuhe; seine Hemd�rmel waren von zweifelhafter Reinlichkeit; ein langer bunter, dunkler Arbakanfos[M] aus Kattun ersetzte den Rock im Sommer (im Winter trug er einen wattierten Rock). Das schwarze kleine Sammetk�ppchen auf dem gro�en Kopf vervollst�ndigte die damalige Tracht seines Standes.

Am anderen Ende des Tisches sa�, stets in geb�ckter Haltung, der Ober-Behelfer. Er hielt einen langen schmalen Holzstift in den H�nden (das Deitelholz genannt), womit er den Kindern beim Lesen Buchstaben f�r Buchstaben, Zeile f�r Zeile zeigte. Er hatte die Aufgabe, das vom Rebben Vorgetragene mit den Sch�lerinnen zu wiederholen. Er war immer ernst, hatte eine Nase von der Form eines Spatens, kleine, melancholische Augen und vor den Ohren zwei lange, schwarze Pees, die in steter Bewegung waren.

[73]

Wir blieben also stehen, wir mu�ten auf demselben Fleck stehen bleiben. Der Rebbe erhob sich, als er mich erblickte mit dem Ausruf: �Ah!� Dann fa�te er mich unter die Arme, hob mich auf die Bank und setzte mich neben sich hin. Die Sch�lerinnen kamen inzwischen hereingelaufen, um mich, das neuangekommene Wundertier, zu sehen und Bemerkungen auszutauschen. Meine Schwester, die bereits heimisch war, suchte ihren Platz auf, blickte aber wie sch�tzend zu mir hin. Angst, Befangenheit, die vielen fremden Gesichter, die dumpfe Luft in der Stube, die niedrige Decke, zu der ich fortw�hrend �ngstlich hinaufsah, das alles und wahrscheinlich noch die Nachwirkung des Schreckens durch den w�tenden Hund, schn�rten mir die Kehle zu, und ich wu�te nichts Besseres anzufangen, als pl�tzlich heftig und bitterlich zu weinen. Ich sch�mte mich und machte mir im stillen Vorw�rfe, allein ich konnte mich nicht beherrschen. Reb Leser suchte mich zu beruhigen, indem er mir versprach, da� heute noch nicht mit dem Unterricht begonnen wurde. Ich k�nne mit den Sch�lerinnen in der Ruhepause spielen. Aber je mehr er mir zusprach, desto reichlicher flossen meine Tr�nen. Der Rebbe erriet endlich, da� es die vielen neugierigen Augen waren, die mich schreckten, und er stampfte mit seinen gro�en F��en auf, da� alles erbebte und er schrie: �Hinaus, auf die Gasse, Schickses![N] Was gafft Ihr, habt Ihr so etwas noch nicht gesehen?� Auf diesen Befehl zerstoben sie nach allen Richtungen und nahmen schlie�lich ihre Spiele auf der Prisbe auf. Ich ward ruhiger, wagte aber nicht, mich von der Stelle zu r�hren. Meine Schwester nahm einen Absatz mit dem Rebben durch, wiederholte ihn mit dem Ober-Behelfer und wollte dann auch zum Spiel hinausgehen und mich mitnehmen. Ich aber lie� mich dazu nicht bereden. Nach einer Weile h�rte ich, da� unser ritterlicher Begleiter Welwel vermi�t und mit Ungeduld erwartet wurde, da er f�r fast alle Sch�lerinnen das Mittagessen holte. Ich war zu sehr mit mir und der neuen Sph�re besch�ftigt und hatte gar nicht daran gedacht, wo und wann wir zu Mittag essen w�rden. Der sehnlichst Erwartete kam endlich und ein seltenes Bild bot sich mir: Welwel trug Kr�ge, T�pfe, Sch�sselchen, Gl�ser, L�ffel verschiedener Gattungen und Gr��en, Brot und Speisen in folgender Anordnung: die T�pfe und Kr�ge waren an seinem langen breiten G�rtel, fest um den Leib gebunden und reichten bis weit �ber die H�fte. Das Brot plazierte der erfinderische Bocher auf der Brust zwischen dem Hemd und dem Kaftan, die gef�llten Sch�sselchen hatte er �bereinander gestellt, dr�ckte sie auf dem Arm gegen die Brust recht fest und hielt sie mit der anderen freien Hand. Das Dessert, das aus N�ssen, �pfeln, gekochten Bohnen und Erbsen bestand, verwahrte er in seinen langen Diebstaschen. So ausger�stet, bewegte sich �das Schiff der Stadt� langsam seinem Ziele, dem Cheder, entgegen. Es war ihm tats�chlich nicht m�glich, sich irgendwo hinzusetzen.

[74]

Endlich war er da! Der Rebbe schalt ihn wegen seiner Saumseligkeit, worauf er klagend erz�hlte, wo und wie lange er auf das Essen hatte warten m�ssen. �Gib geschwind die zinnernen Sch�sseln und die Blechl�ffel her�, befahl nun der Rebbe und schleunigst wurde der Befehl ausgef�hrt. Der Rebbe sch�ttete unser Mittagsessen in eine Sch�ssel, und ich bekam einen Blechl�ffel, der am Ende des Stieles ein kleines Loch hatte, was bedeuten sollte, da� er �milchig� war, d. h. nur f�r Milchspeisen gebraucht werden durfte. Ich drehte den L�ffel mehrere Male in den H�nden hin und her und konnte mich nicht entschlie�en, damit aus der Sch�ssel zu sch�pfen. Ich dachte bei mir: Wie, nicht aus meinem wei�en Porzellanteller und mit diesem blechernen L�ffel soll ich essen? Wieder kamen mir die Tr�nen in die Augen, und der Hals war mir wie zugeschn�rt. Der Rebbe sah mich verwundert an und konnte sich diesmal den Grund meiner Tr�nen nicht erkl�ren! Meine Schwester aber war praktischer als ich (und diesen Vorzug mir gegen�ber behielt sie durch das ganze Leben). Sie griff t�chtig [75] zu, f�hrte einen L�ffel nach dem andern zum Mund und lie� sichs gut schmecken. Als sie einigerma�en satt war, fragte sie mich verwundert, warum ich nicht esse. Ich blieb ihr die Antwort schuldig, denn ich f�hlte, da� mir bei den ersten Worten die Tr�nen noch wilder aus den Augen st�rzen mu�ten. Ich bezwang mich aber und sch�pfte einen L�ffel voll, dessen Inhalt ich zusammen mit meinen Tr�nen verschluckte. Nach beendeter Mahlzeit hob mich der Rebbe von der Bank, und ich begann, wiewohl der Verlauf des Mittagessens mich gekr�nkt hatte, in meinem kindlichen Sinn alle Vorz�ge des Essens im Cheder, im Vergleich zu dem Mittagbrot zu Hause, herauszusuchen. Hier durften wir w�hrend der Mahlzeit nach Belieben sprechen und trinken, was zu Hause erst nach dem Braten gestattet war. Hier durften wir uns vom Tisch erheben, wann wir wollten, zu Hause erst, nachdem der Vater aufgestanden war. Als ich nach dem Essen wieder trinken wollte, machte man mich auf den gro�en Holzsch�pfer auf dem Wasserfa� aufmerksam, den ich benutzen sollte. Dann nahm mich meine Schwester an der einen Hand, eine Sch�lerin an der zweiten und in ihrer Mitte erschien ich endlich auf der Gasse und beteiligte mich an den Spielen. Das dauerte bis sieben Uhr abends. Da wurden wir in das Cheder-Lokal zusammenberufen, um das Abendgebet zu verrichten. Der Behelfer stand in der Mitte. Wir um ihn geschart. Unsere Augen auf ihn gerichtet, sagten wir ihm jedes vorgesprochene Wort nach, dann ging es rasch nach Hause.

Ich kehrte von den Erlebnissen des Tages so abgespannt heim, da� ich meiner Njanja nur wenig erz�hlen konnte. Ich trank meinen Tee und schlief ohne Abendbrot ein. Doch erwachte ich am n�chsten Morgen mit einer gewissen Ungeduld [76] und voll des lebhaften Verlangens, da� der Cheder-Behelfer m�glichst rasch kommen m�ge, damit ich nur die Gesichter, die mir gestern noch so peinlich waren, wiedersehen k�nnte. Aber noch mehr sehnte ich mich danach, die unterbrochenen Spiele fortzusetzen. Welwel, der tapfere Wegweiser, erschien auch p�nktlich, und wir kamen diesmal ohne Zwischenfall in den Cheder.

Und nun benahm ich mich auch schon anders.

Ich lernte zum erstenmal mit meinem Rebben, sp�ter spielte ich mit den anderen Sch�lerinnen. Es verging kaum eine Woche, da f�hlte ich mich schon sehr behaglich und kannte jeden Schlupfwinkel in der Schule.

Au�er der langen, schmalen Lehrstube gab es noch ein langes, finsteres Durchgangsloch, — jede andere Bezeichnung daf�r w�re unrichtig — in welchem sich das Bettgestell des Rabbi und das seiner Rebbezin befanden. Vor den Betten hing auf zwei dicken Stricken, die �ber einen Balken gespannt waren, die Wiege, in der ihr einziges T�chterchen Altinke lag; jeder, der nach dem dritten Raum wollte, stie� unvermeidlich gegen diese Wiege, die dann noch lange in Bewegung blieb. Dieser Raum, ebenso die Bett- und Wiegenw�sche waren keineswegs sauber zu nennen. Aber man mu� mit allem zufrieden sein, hei�t es, und die Bewohner dieser verfallenen H�tte waren es im vollsten Sinne des Wortes. Sie verlangten nicht mehr. Ihre einzige Sorge war nur, da� ihre �Altinke� (wiewohl schon 2 Jahre alt, konnte das Kind noch nicht aufrecht stehen) als die einzige von vier Kindern am Leben blieb. Man beh�tete und pflegte sie und sch�tzte sie wie den Augapfel. Am Halse trug es verschiedene Amulette: Ein M'susele[O] und ein Heele (auch eine [77] Art von Amulett, welches aus Blei gegossen, mit einer mystischen Aufschrift versehen war). Das B�ndchen, an dem diese Dinge und auch ein Wolfszahn hingen, klebte infolge der best�ndigen N�sse vom Mundspeichel und des Schmutzes an dem wattierten Leibchen des Kindes. Dieses kleine, ungl�ckliche Gesch�pf lag meist in der Wiege, da Feige, so hie� die Rebbezin, allerlei Gesch�fte auf eigene Faust f�hren mu�te, wie Honigkuchen mit warmem Kraut backen, Erbsen und Bohnen kochen, Leckerbissen, die ihr die Sch�lerinnen t�glich abkauften. Besonders waren es die Gluckhenne mit ihren K�chlein, die ihr viel zu schaffen machten. Freilich blieb bei dieser Arbeit wenig Zeit, das Kind auf dem Arm herumzutragen. T�glich w�hlte sie eine andere der Sch�lerinnen, die ihr in allen h�uslichen Angelegenheiten behilflich war; so entdeckte sie auch in mir eine gehorsame, willige Helferin. Bald wiegte ich ihr Kind (was ich �brigens mit gro�em Vergn�gen tat), bald half ich ihr, den Spaten mit Mehl zu bestreuen, wenn sie das Brot in den Ofen schieben mu�te; bald sah ich unter die Siebe nach frisch gelegten Eiern (mit denen ich mir, wenn sie noch ganz warm waren, gern �ber die Augen strich).

Die Gestalt der Rebbezin erinnerte an eine Hopfenstange; sie hatte ungew�hnlich lange Arme, einen langen, d�nnen Hals, der einen Pferdekopf trug, kleine, umherirrende Augen, knochige Wangen und blaue, d�nne Lippen, die sich seit der Kindheit wohl nicht mehr zu einem L�cheln verzogen hatten. Die lange Habichtsnase verdeckte zur H�lfte den Mund und gab dem Gesicht den Ausdruck eines Raubvogels. Die langen Pferdez�hne und vor allem die Zahnl�cken bewirkten, da� die Worte aus ihrem Munde nicht sehr sch�n klangen. Aber das hinderte sie weiter nicht, ihre ganze Umgebung vom fr�hen Morgen [78] bis zum sp�ten Abend von dem Vorhandensein ihres ungeschw�chten Sprechorgans zu �berzeugen. Auch ich sollte bald erfahren, da� mit der Rebbezin nicht zu spa�en war, und ein Handgriff von ihr nicht auf ein sehr sanftes Wesen schlie�en lie�. Mein K�tzchen hatte ich zu Hause lassen m�ssen, ich verschmerzte es zu Beginn, weil ich an den H�hnern der Rebbezin Ersatz fand. Ich ging oft zum Pripoczok (Ofen, unterer Teil), zur br�tenden Henne und sah zu, wie sie mit ausgebreiteten Fl�geln behutsam auf den Eiern sa�. Ihr Auge dr�ckte w�hrend dieser Zeit fast eine menschliche Z�rtlichkeit aus. Das Tier sa� geduldig ohne Nahrung und wartete, bis man sie herunternahm und sie f�tterte. So geschah es einmal, da� ich mich zur Gluckhenne beugte, um sie wegzutragen und zu f�ttern. Die Rebbezin erblickte mich dabei von ihrem Sitz aus und erschrak �ber die M�glichkeit, da� ich die Henne aufscheuchen und da� sie am Ende wegfliegen k�nnte. Die Eier w�rden kalt und nicht mehr ausgebr�tet werden k�nnen. Behende sprang Feige zu mir, erfa�te mich etwas unsanft an der Schulter und schrie aus Leibeskr�ften: �Was tust du? Was willst do hoben? Meschuggene, a weg!� (fort von hier). Ich sah zu der vor Zorn keuchenden Rebbezin auf. Die Henne entri� sich tats�chlich meinen H�nden und wandte ihren raschen Flug nach der Richtung, wo Reb Leser thronte; daneben befand sich im Winkel ein dreieckiges F�cherchen, darauf lie� sich die Henne nieder, sah mit lautem Gegacker umher, als gefiele es ihr hier, begab sich hierauf auf Reb Lesers Kopf, duckte sich nieder und lie� ein Andenken an ihren kurzen Aufenthalt zur�ck; dann flog sie, mit den Fl�geln schlagend, auf das Fach, wo die Zinnteller und Sch�sseln standen, warf alles um, was nat�rlich viel L�rm machte und suchte ihr Loch unter dem Pripoczok auf, wo sie sich [79] endlich beruhigte. Dagegen konnte sich Reb Leser nicht so bald beruhigen, der, als die um den Tisch sitzenden Sch�ler mit lautem Lachen nach seinem Kopf zeigten, nach seiner Kopfbedeckung fa�te, und da er voll Wut das hinterlassene Andenken wegwischen mu�te, schalt und fluchte er mit lauter Stimme. Seiner Eheh�lfte schwur er hoch und teuer, er werde alle ihre H�hner schlachten. Das sollte sogar schon morgen geschehen. Aber unsere unerschrockene Rebbezin dachte anders dar�ber und verteidigte bei offener T�r ihre Sch�tzlinge. Sie brachte Argumente vor, die mich als die Hauptschuldige an dem Unfall erkennen lie�en. Schlie�lich meinte sie, ihr Mann h�tte �berhaupt kein Recht, die H�hner zum Tode zu verurteilen. Ihre gl�nzende Verteidigungsrede war wohl hinreichend energisch gewesen, da Reb Leser den k�rzeren zog und zum Schweigen gebracht wurde. So verwandelte er das Todesurteil in eine Begnadigung. Diese Begebenheit gab viel Stoff zu Gespr�chen im Cheder und im sogenannten �Schmolen G�ssel� (schmalen G��chen). Es hatten sich viele Zuschauer eingefunden, die zu den Fenstern hineinsahen und beinahe in den Kampf mit hineingezogen wurden. Diesen Abend hatte ich meiner Njanja viel zu erz�hlen....

Wenn Reb Leser schlie�lich die Bemerkungen seiner Frau unbeantwortet gelassen hatte, so tat er es mit dem Selbstbewu�tsein eines Mannes, dessen W�rde trotz alledem unbestreitbar war. Er hatte auch allen Grund dazu, denn er war nicht nur in seinem Hause, in der Schulgasse und im schmolen G�ssel, sondern auch weiterhin auf der Insel Kempe, jenseits des Teiches, sehr popul�r! Zu Reb Leser, dem Melamed, kam man, wenn ein Kind erkrankte, fieberte. Er verstand zu heilen und ein �Ajin hora� (b�ses Auge, Blick) zu besprechen. Er nahm zu [80] diesem Zwecke ein Kleidungsst�ck des �Befallenen�, etwa ein Str�mpfchen oder ein Leibchen, fl�sterte einen geheimnisvollen Spruch und spuckte dreimal darauf. Das gen�gte, um das Kind genesen zu machen, ohne da� er es pers�nlich gesehen h�tte. Dem �berbringer wurden die Gegenst�nde mit den Worten zur�ckgegeben: �Es wird schon gesund werden.� Hatte jemand Zahnschmerzen, so stellte ihn Reb Leser bei Mondenschein Punkt zw�lf Uhr nachts gegen den Mond und streichelte ihm bald die rechte, bald die linke Backe, wobei er mystische Worte murmelte. Und Reb Leser war dann sicher, da� der Schmerz aufh�ren w�rde — eventuell freilich erst nach langer Zeit oder nachdem der Zahn gezogen war. Wer an heftigen R�ckenschmerzen litt, mu�te sich auf der Diele hinstrecken; Reb Leser, der B'hor (Erstgeborene), stellte sich mit einem Fu� auf den R�cken des Kranken f�r einen Augenblick und der Kranke war genesen!

Wollte jemand eine Kuh kaufen, so war er fest �berzeugt, da� sie viel Milch geben w�rde, wenn Reb Leser den Kaufpreis zum Scheine nach l�ngerem Feilschen festgesetzt hatte. Ein Wort von Reb Lesers Lippen vermochte vieles zu bewirken.

Das waren die kleinen Quellen seines Einkommens; dagegen brachte ihm das Schadchengesch�ft viel mehr Geld ein. Diese T�tigkeit warf ihm beinahe so viel ab wie seine Schule und hatte dabei auch den Vorzug, da� sie gew�hnlich bei einem Gl�schen Schnaps vor sich ging. Je nach dem Gelingen einer Partie mehrten sich seine Freunde und — Feinde. Von den letzteren gab es mehr!.. Reb Leser lie� sich darob keine grauen Haare wachsen. Ihm galten alle Partien gleich gut. Er betrieb dieses Gesch�ft in seinen Mu�estunden zwischen Minche und Marew am Sonnabend Abend, da der Jude von damals, nachdem er [81] vierundzwanzig Stunden geruht hatte, in der richtigen Stimmung war, von derartigen Dingen zu sprechen. Es war vielleicht gut, da� Reb Leser so wenig Zeit auf diese Sache verwenden konnte....

Der denkw�rdige Vorfall mit der Henne war hinreichend, mir das Innere des Cheders zu verleiden und mich st�rker f�r die Spiele drau�en zu interessieren. Ich erreichte in manchem eine gro�e Fertigkeit — so im Zeichenspiel, wobei man sich einer Art aus Knochen primitiv gefertigter W�rfel bediente; im N�sse-Spiel und im Stecknadelspiel paar und unpaar. Eine meiner Freundinnen war im Stecknadelspiel sehr geschickt und erregte meinen Neid: sie konnte eine Menge von Stecknadeln unterhalb der Zunge im Munde halten und dabei ungehindert sprechen.

Es wurde so viel gespielt, da� wir Kinder gar oft den eigentlichen Zweck unseres Schulbesuches verga�en.

Ich machte mich bald mit der ganzen Umgebung des Chederlokals vertraut und stand mit der Nachbarschaft auf gutem Fu�. Mein besonderer Liebling war der kleine Schulklopfer, ein mageres, gebeugtes M�nnchen mit einem gr�ngelben Ziegengesicht und bl�den Ziegenaugen, die den Zug des Gequ�lten hatten. Sein ganzes Leben schien er an Keuchhusten zu leiden. Wenn wir Kinder ihn in der Gasse erblickten, liefen wir ihm entgegen und schrieen �berm�tig: �In schaul! In schaul!� und begleiteten ihn eine Strecke. Er erschien n�mlich vor dem Morgen- und Abendgebet in der Schulgasse und rief, mit seiner ganzen noch �brig gebliebenen Lungenkraft schreiend: �In schaul! In schaul!�, die Gemeinde zusammen. Dann stemmte er die H�nde in die Seiten und konnte lange vor Husten nicht zu Atem kommen. �brigens hatte er noch eine andere [82] Besch�ftigung; an jedem Freitag lief er kurz vor Beginn des Sabbathfestes zu den j�dischen Kr�mern und ermahnte sie, die L�den rasch zu schlie�en. Und vor Neujahr weckte er mit Tagesanbruch die Gemeinde zu Sliches (Fr�hgebet w�hrend der ganzen Woche vor dem Neujahrsfest).

Der kleine, niedere Cheder-Raum konnte alle Sch�lerinnen nicht fassen und drau�en vor der T�r verjagte uns oft die sengende Sonnenglut; so mu�ten wir uns mit unseren W�rfel- und N�ssespielen in eines der vielen Vorh�uschen in der gegen�ber dem Cheder befindlichen gro�en Synagoge fl�chten, wo es immer k�hl und ger�umig war. Ich entsinne mich, da� ich nie weiter als ins Vorhaus zu gehen wagte und welchen gewaltigen Eindruck ich hatte, als mich die Gespielinnen einmal zwangen, die Abteilung zu betreten, in der die M�nner zu beten pflegten. Der gro�e Raum mit den vielen B�nken und Tischen war imposant. In der Mitte der Synagoge befand sich ein viereckiger erh�hter Platz, der von einem niederen, geschnitzten Gel�nder umgeben war; auf dieser Erh�hung stand ein schmaler, hoher Tisch, auf dem die Thorarollen beim �Leienen� lagen. Im Hintergrund war eine hohe Pforte, deren zwei T�ren zum Oren-hakodesch f�hrten. Diese heilige Lade war mit einem roten Sammetvorhang verh�ngt, in dessen Mitte das Mogendavidzeichen eingewirkt war. Zu beiden Seiten dieses j�dischen Paniers standen in Lebensgr��e zwei L�wen aus Bronzemetall in aufrechter Stellung, wie Wache haltend. An der �stlichen Wand, der Misrachwand, waren die Ehrenpl�tze f�r die �ltesten und angesehensten Juden der Stadt Brest. Dort befand sich auch die �Matan b'sseisser Puschke�, d.h. die B�chse der geheimen Gaben. Wenn jemand ein Lieblingswunsch in Erf�llung gegangen oder ein besonderes Gl�ck [83] widerfahren war, wovon er zu niemand sprechen mochte, spendete er ganz im geheimen etwas in diese B�chse. Au�en war nur ein kleiner Spalt in einer Nische der Mauer zu sehen. In diese �ffnung warfen die Spender ihre geheime Gabe, nicht ohne sich vorher �ngstlich zu vergewissern, da� auch niemand sie beobachte. Von der himmelblau mit silbernen Sternen bemalten Decke der Synagoge hingen an Ketten zahlreiche Leuchter herab. All diese seltsame Pracht erf�llte das Kindergem�t mit Ehrfurcht und Scheu.

Meine Begleiterinnen erz�hlten mir, geheimnisvoll fl�sternd, da� sich hinter den hohen T�ren des Oron hakodesch ein Schrank mit vielen Sefer thaures (heilige Rollen) befinde und da� von da ein unterirdischer Gang nach Jerusalem f�hre. Freitag Abend versammeln sich die vom Gehinom (H�lle) befreiten R'schoim (S�nder), um allerlei Schabernack zu treiben. Noch andere, �hnliche M�rchen erh�hten meine angstvolle Scheu. Ganz besonders wirkte auf mich das M�rchen vom �lehmenen Goilem� (Ton-Figur) ein: auf dem Oren kaudesch in der Synagoge da liegt eine gro�e Figur aus Ton, die einst alle Handlungen eines lebenden Menschen verrichten konnte. Die alten Kabbalisten bedienten sich solcher Tonfiguren, die sie mit Amuletten, Hieroglyphen und sonstigen, niemand bekannten Zeichen versahen und fl�sterten den Lehmfiguren Zauberformeln ins Ohr, da� sie anfingen sich zu regen und allerhand Dienste leisten konnten wie ein Mensch. Alles, was diese Figur tun sollte, mu�te man ihr bis ins einzelne genau und bestimmt angeben, z.B.: �Geh zur T�r, ergreife die Klinke, dr�cke sie nieder, mach die T�r auf, mach sie zu, geh in das Haus in jener Stra�e, dr�cke die Klinke nieder, mach die T�r auf, mach sie zu, begib dich ins erste Zimmer, geh an den Tisch, an dem mein Freund sitzt, [84] sag ihm, er soll heute mit dem Buch zu mir kommen.� Auch der R�ckweg mu�te der Figur Schritt f�r Schritt genau beschrieben werden, sonst war der Goilem (die Tonfigur) imstande, das ganze Haus, in dem der Freund wohnte, auf seinen Schultern zu bringen. Er war eben ein Trottel; und noch heute ist im j�dischen Volke die Bezeichnung: �Du bist ein lehmener Goilem� ein Schimpfwort.

Ein einziges Mal wagte ich es noch, allein den gro�en Raum zu betreten, aber ich lief, von einem unheimlichen Schauer erfa�t, weinend und schreiend fort, und Reb Leser verbot mir, ohne Begleitung wieder hinzugehen.

Ich sehe noch jetzt im Geiste den sch�nen, majest�tischen Bau im altmaurischen Stil mit dem runden Glasturm, durch dessen Scheiben das Tageslicht fiel und das Innere der Synagoge erhellte.

Als die Stadt Brest demoliert und 1836 zu einer Festung umgewandelt wurde, mu�te auch die Synagoge niedergerissen werden und der Grundstein, den man fand, wies auf fr�here Jahrhunderte zur�ck, auf die Tage Saul Wahls, der f�r eine Nacht von den streitenden polnischen Parteien zum K�nig gew�hlt worden war. Wahl hatte die Synagoge zum Andenken an seine verstorbene Frau Deborah erbaut.


[85]

II. Teil.

Dem Rosch-Chodesch (Neumond) Sivan (etwa Mai) folgte sechs Tage sp�ter das Schewuaus-Fest (Pfingsten), das sch�ne und angenehme Fest, von dem die Juden sagen, da� man alles und �berall essen darf, w�hrend man am Osterfest nicht alles und am Laubh�ttenfest nicht �berall, d. h. nur in der Laube essen soll. Daher dauert Sch'wuaus nur zwei Tage....

Auch f�r dieses Fest wurden nat�rlich in unserem Hause mancherlei Vorbereitungen getroffen. Uns Kindern wurde im Cheder die Bedeutung des Festes erkl�rt als Gedenkfeier an den Tag, an dem Moses auf dem Berge Sinai die heiligen Gesetzestafeln empfangen hatte. Drei Tage vor Pfingsten (Schlauscho jemei hagbole wird diese Periode genannt), endet die Trauer der Sfirezeit und die Freude lebt wieder auf. Man sucht sich f�r die sechsw�chentlichen Entsagungen schadlos zu halten. Die Kinder blieben nur einen halben Tag im Cheder und tummelten sich ungebunden im Freien und im Hause herum. Und in den H�usern wurde wieder gebraten und gebacken, namentlich viel Butterkuchen! An diesen Festtagen i�t man haupts�chlich Milch- und Buttergerichte. Die traditionellen K�se-Blintschki mit saurer Sahne, eine Art Flinsen, d�rfen nicht fehlen. Am Erew-Jomtow, am Vorabend des Festes, gab es wieder viel eilige Arbeit im Hause. Alle Zimmer wurden mit Gr�n geschm�ckt und festlich beleuchtet: Wir Kinder wurden festlich gekleidet und der Tisch zum Abendessen gedeckt; die Fenster der mit Kerzen erleuchteten R�ume standen weit offen, und die warme, frische Fr�hlingsluft str�mte herein, ohne die Flammen der [86] vielen Kerzen auch nur leise zu bewegen. Sie brannten ruhig und feierlich.

Die M�nner kamen vom Bethaus zur�ck und man begab sich zu Tische. Schon nach dem ersten Gang wurde ein Abschnitt aus dem Tiken-Schwuaus-Gesetze von den M�nnern vorgelesen und nach dem zweiten Gericht wieder ein Abschnitt. Nach dem Essen zogen sich meine Schw�ger mit ihrem Melamed in ihr Studierzimmer zur�ck, um dort bis zum fr�hen Morgen den Tiken-Schwuaus zu Ende zu lesen. Mein �lterer Schwager unterzog sich ohne Murren diesem Gebot. Aber der j�ngere h�tte wahrscheinlich eine andere Besch�ftigung vorgezogen. Aber es half nichts, die Disziplin und die religi�se Tendenz unseres Hauses galten mehr als pers�nliche W�nsche und Neigungen. Auch dann noch, als der Geist Lilienthals in den K�pfen der jungen Leute schon schwirrte.

Am fr�hen Morgen ging es in die Synagoge, wo ein Festgottesdienst abgehalten, die Akdamess (Anf�nge) gesagt, die M'gile (Ruth) vorgelesen wurde, was oft bis 12 Uhr Mittags w�hrte. Im Hause herrschte frohe Laune: man trank vortrefflich duftenden Kaffee und a� Butterkuchen und Blintschikes und ging hierauf im Freien spazieren.

Bald kam auch der Sommer mit seinen Herrlichkeiten, die wir Kinder nach Herzenslust genossen. Die Zeit von Pfingsten bis zum siebzehnten Tag im Tamus (Monat Juli) war f�r den Juden der ersten H�lfte des vorigen Jahrhunderts die genu�reichste und sch�nste des ganzen Sommers. Aber zu lang darf die Reihe von sch�nen Tagen f�r ihn nicht sein, sonst k�nnte er in seinem �bermut Gott vergessen und darum, glaube ich, ist ihm nach einer kurzen Erholungszeit immer wieder ein Fasttag auferlegt. Und so ist schon der Schiwo osser betamus [87] (siebzehnte Tag im Tamus) ein Fasttag, dem die sogenannten drei Wochen folgen, die mit einem Trauertag, dem neunten Tag des Monats Ab (Tischeb'aw) endigen. Und wieder ist es untersagt, Vergn�gungen nachzugehen, Hochzeit zu halten, im Flusse zu baden, Schmuck zu tragen und in den letzten neun Tagen darf man auch kein Fleisch genie�en; am neunten Tage, am Erew-Tischeb'aw, wird in der Synagoge und im Hause eine Trauergedenkfeier an die Zerst�rung Jerusalems abgehalten. Am Freitag vor Schabbes-chason (Sonnabend vor Tischeb'aw) erschien einmal unsere Mutter, w�hrend wir am Fr�hst�ckstisch sa�en, erregt und ernst, in der einen Hand ein mit einer schwarzen Masse gef�lltes Holzgef��, in der andern Hand einen Pinsel haltend. Wir waren gespannt, was die Mutter damit beginnen wollte. Sie stieg auf das Sopha und machte mit dem Pinsel auf die sch�ne rote Tapete einen viereckigen, schwarzen Fleck. Auf unsere Frage, was dies zu bedeuten habe, erhielten wir zur Antwort, dieser Fleck, den sie seicher l'churben nannte, soll uns erinnern, da� wir Juden im Golus, d. h. unterjocht sind. Ich entsinne mich noch, wie mein Vater und die jungen M�nner am Erew-Tischeb'aw, d. h. am Vorabend des neunten Tages im Monat Ab die Schuhe ablegten und auf niederen Schemeln Platz nahmen. Der Bediente stellte eine niedrige Holzbank vor sie hin und setzte darauf das Fasten-Abendbrot, das aus hartgesottenen Eiern bestand, die in Asche gew�lzt und dann mit harten Kringeln gegessen wurden. Bewegt, mit dem Ausdruck aufrichtiger Trauer in den Z�gen, sa�en sie da, als h�tten sie die Zerst�rung des Tempels zu Jerusalem selbst miterlebt, mit eigenen Augen seinen Glanz, seine Gr��e untergehen sehen. So gegenw�rtig war ihnen die Vergangenheit, so tief empfindet der fromme Jude noch heute [88] den Schmerz um den Verlust der alten Heimat. Dann gingen die M�nner in Str�mpfen ohne Stiefel in die Synagoge. Meine Mutter blieb mit den �lteren Schwestern zu Hause. Es wurden mehrere Fu�b�nke in ein Zimmer gebracht und Kerzen auf niedrige Tische und St�hle gestellt. Wir alle setzten uns um die Mutter herum auf die Fu�b�nke und nun begann man mit der Verlesung der �Zerst�rung von Jerusalem�. Die Mutter weinte und wir Kinder weinten leise mit. Dann wurde noch die M'gile Echo — die Klagelieder — vorgelesen und unsere Tr�nen flossen reichlich. Die Buben freilich hatten ihr eigenes Treiben.

Runde, gr�ne Kletten, wie kleine Kartoffeln, mit Stacheln wie Stecknadeln bewachsen, die an jeden Gegenstand sich anheften, pflegten die �kundesim� (Gassenjungen) am �erew tischeb'aw� den ernst trauernden, alten M�nnern in die Haare und an die Str�mpfe zu werfen, um diese zu �rgern.

Am folgenden Tage herrschte noch tiefe Trauer und die schwere Stimmung lag noch auf allen. Des Morgens durften wir uns nicht einmal waschen; auch wir Kinder fasteten manchmal etliche Stunden und die Eltern lobten unsere Standhaftigkeit. Mit desto gr��erem Appetit fielen wir �ber das Essen her, als der halbe Tag vergangen war. Im Hause begann es auch wieder lebhafter zu werden, man r�umte die Zimmer auf und in der K�che regte sich's wieder. Wir Kinder nahmen Spiel und Vergn�gen auf. Eines dieser Spiele an einem Tischeb'aw blieb mir besonders in Erinnerung: Mein Bruder hatte schon einige Tage vorher mit einem Freunde gleichen Alters, dem jetzigen Doktor H. S. Neumark, verabredet, da� er an diesem Tage einige hundert Knaben aus der Stadt Chedunim zu meinem Bruder nach der Vorstadt Zamuchawicz bringen solle, mit denen die beiden diesen Tag entsprechend und w�rdig verbringen wollten. [89] Sie beabsichtigten n�mlich, zur Erinnerung an jene Schlacht, die vor ungef�hr 2000 Jahren bei der Zerst�rung des Tempels zu Jerusalem stattgefunden, einen Kampf zu veranstalten. Die Jungen mu�ten ihre rotgef�rbten Holzschwerter, wie sie an diesem Tage jeder j�dische Knabe besa�, mitbringen. Als Waffen dienten auch Pfeil und Bogen, ein Kn�ttel, selbst eine Bauernpeitsche. Doch galt hier haupts�chlich die pers�nliche Tapferkeit mit der Faust. Mein Bruder und sein Freund w�hlten einen freien Platz, neben unserem Hause, auf dem die Schlacht stattfinden sollte. Die �Soldaten� kamen einzeln und in Scharen. Die Kampflustigen waren verschieden an Gr��e, Alter und Stand; doch wurden in diesem Heer derartige Kleinigkeiten nicht beachtet! Es wurden Gener�le, Oberste und Offiziere eingesetzt, und die anderen bildeten sodann die Mannschaft — das Fu�volk; mein Bruder und sein Freund wurden zu K�nigen ernannt. Die Gener�le erhielten Sternchen aus Papier und Eichenlaubbl�ttern; �ber die Schulter quer fielen Sch�rpen aus blauem, rotem oder wei�em Glanzpapier. Die Dreispitzh�te wurden aus dunkelblauem Zuckerhutpapier hergestellt, die von den Knaben Krepchen (Kreplach) genannt und mit B�schen aus Hahnenfedern geschm�ckt wurden. Der Oberste trug als Abzeichen Schn�re aus roten Beeren um die Schulter, und den Offizieren steckte man als Kokarde eine gro�e, gelbe Kamille an den Schirm der M�tze. Die ganze Armee wurde in zwei gleiche Abteilungen geteilt und jeder K�nig �bernahm sein Heer und stellte die Soldaten in Reih' und Glied auf. Die Kleidung der K�nige unterschied sich in auff�lliger Weise von der der anderen Krieger; der eine K�nig hatte ein grosses Handtuch, der zweite ein Laken quer �ber der Brust und beide trugen zahllose Orden, die auf dem Felde und auf den Wiesen gepfl�ckt waren: Sonnenblumen, [90] wei�e, gelbe und rote Bl�ten in allen Gr��en. Und um die k�niglichen H�upter waren gro�e Kr�nze aus Hanfzweigen gewunden. Zwischen beiden Armeen wurde ein Kordon gezogen, und nun sollte das Zeichen zum Angriff gegeben werden. Doch wer sollte mit dem Angriff beginnen? So schrie man denn von der einen Seite her�ber: �Scheli, scheli, scheloch!� (Schick' Dein Volk heraus!) Darauf erwiderte man: �Mein Volk ist krank.� Nun n�herte sich aus diesem Heere ein Krieger dem K�nig des ersten Heeres, ergriff dessen Hand und sagte, den Zeigefinger erhebend: �Der Malach (Engel) hat dir drei Pl�tze geschickt — siehst du Feuer? Siehst du Wasser? Siehst du den Himmel?� Der K�nig mu�te bei der letzten Frage zum Himmel hinaufsehen, inde� der Bote entfliehen und den Kordon �berschreiten mu�te, wenn er nicht gefangen genommen werden sollte. War es ihm aber gegl�ckt, den Kordon rechtzeitig zu �berschreiten, so hatte sein Volk den Vorzug, den Kampf zuerst beginnen zu d�rfen. Nun fing man mit Schwert und Pfeil und Bogen an; da diese Waffen aber bei dem ersten Zusammenprall zerbrachen, waren die Soldaten auf ihre F�uste angewiesen.

Eine Viertelstunde mochte der Kampf bereits gedauert haben, aber noch war der Sieg nicht entschieden. Das Heulen und Schreien jedoch wuchs entsetzlich an. Da schwenkte einer der K�nige ein wei�es Taschentuch auf einem wei�en Stock und schrie laut: �Genug! Stillstehen! Nicht mehr schlagen!� Die z�gellosen Jungen h�rten aber nicht darauf und fuhren fort, die Sch�del und R�cken der Schw�cheren zu bearbeiten, bis sie durch Hiebe ermahnt werden mu�ten, das fast zum Ernst gewordene Spiel abzubrechen. Die meisten zogen mit Ehrenzeichen, wie blaugeschlagene Augen, blutende Nasen, verwundete [91] Beine, vom Kriegsschauplatz ab. Die K�nige tr�steten die braven Helden, und wir M�dchen, die der Schlacht zusahen, brachten von Hause frisches Wasser, Handt�cher, Tischt�cher und erf�llten das Amt der barmherzigen Schwestern, indem wir den Verwundeten die blutenden Stellen wuschen und trockneten. Nachdem die Ruhe einigerma�en hergestellt war, fingen die Heerf�hrer an, den Triumphzug vorzubereiten. Wir wurden aufs Neue ins Haus geschickt, um die n�tigen Requisiten zu holen, wie ein gro�es Messingbecken, das Messingtablett des Samowars und einige Kupferkasserollen. Die Soldaten hatten mit Papier �berzogene K�mme, die als Blasinstrumente verwendet werden sollten und h�lzerne kleine Pfeifen. Die ganze Armee wurde wieder auf dem Platz gesammelt und geordnet. Zwar konnte sich mancher Soldat nur mit M�he auf den Beinen halten, allein an dem feierlichen Akt, der nun folgen sollte, wollte jeder teilnehmen. Nun w�hlte man unter den Soldaten einige aus, welche die von uns zusammengetragenen Ger�te als Musikinstrumente zu behandeln verstanden. Die K�nige nahmen eine w�rdevolle Haltung an, als sie mit �berlautem Hurrah! begr��t wurden und mit ihren bekr�nzten H�uptern den Dank nickten. Der Zug setzte sich in Bewegung. Das Messingbecken, von einer m�chtigen Faust geschlagen, machte bet�ubenden L�rm. Die beiden kr�ftig aneinandergeschlagenen Kasserollen dr�hnten. Die schrillen T�ne der Pfeifen klangen wie ein schwacher Protest gegen diesen L�rm und das Getute auf den mit Papier �berzogenen K�mmen erg�nzte diese seltsame Musik. Auch die Stimmen der Soldaten taten ihr M�glichstes: Sie sangen einen Zapfenstreichmarsch mit wilder Kraft. Unter diesen Musikkl�ngen bewegte sich der Triumphzug langsam vorw�rts. In der Haltung der [92] K�nige lag etwas Imposantes, das sie mit Recht zu Herrschern unter diesen Knaben machte. Wir M�dchen begleiteten den Zug mit H�ndeklatschen und waren von dem ganzen Schauspiel entz�ckt. Man marschierte an dem Garten entlang, bei unserem Hause vorbei. Dann l�sten sich die Truppen auf, und ein jeder Krieger ging mit Stolz von dannen. Auch die K�nige verabschiedeten sich mit huldreichen Worten, zufrieden mit dem Gelingen des Unternehmens, das lange das Gespr�ch in der ganzen Stadt bildete. Trotz der blutigen K�pfe freuten sich unsere Eltern �ber die Sitte der kriegerischen Spiele sehr.

Die j�dische Sitte hat, wie es scheint, das Bestreben, jeden Trauer- oder Fasttag durch einen darauffolgenden Freudentag auszugleichen. So folgt auf Tischeb'aw bald Schabbes-Nachmu, d. i. der trostreiche Sabbath: Gott tr�stet sein Volk und verspricht ihm durch den Mund des Propheten die Wiederaufrichtung des Tempels, der sich noch herrlicher als zuvor erheben soll und verj�ngt wird die Mutterstadt Jerusalem aus ihren Tr�mmern erstehen. An diese Verhei�ung glaubten meine Eltern unersch�tterlich fest. Sie hatten noch ihre Illusionen und Hoffnungen, die sie vor Verzweiflung sch�tzten und ihnen die Kraft verliehen, die Leiden der Gegenwart zu tragen. Geh�rte doch zu jener Zeit ein Selbstmord unter den Juden zu den gr��ten Seltenheiten, weil sie in dem Glauben an Gottes Wort und an das Jenseits Trost f�r alles irdische Leiden fanden. Dieser starke Glaube lebt auch in einem kleinen Liede, das uns unsere fromme, kluge, g�tige Mutter lehrte.

[93]

Es lautete ungef�hr:

Der Jude, der Jude, ein wunderbares Ding,
Betrachtet ihn mit Ehrfurcht, achtet ihn nicht gering!

Dem winzigsten Volke geh�rt er ja an,
Doch h�ben und dr�ben man treffen ihn kann.

Steig' immer zur H�he, du sto�est auf ihn,
Sinke nieder zur Tiefe, du wirst ihn nicht fliehn!

Schlie� dich ein in Burgen, er bleibt Dir dennoch nah,
Verkrieche dich in H�tten, du findest ihn auch da!

Gefoltert, gemartert, gepeinigt aufs Blut,
Beharret im Glauben, verliert nicht seinen Mut!

Du glaubst ihn bezwungen zu Boden gestreckt,
Er richtet empor sich: Er ward nur erschreckt!

Eins aber sagt ihm immer sein Herz:
Was immer du auch leidest, Gott lohnet deinen Schmerz!

Ein ander Liedchen, das sie uns lehrte, ist eine Allegorie, ein Gemisch in polnischer und althebr�ischer Sprache. Nach der neuesten Meinung der j�dischen Forscher in Ru�land haben die Juden in Ru�land nur Russisch mit Hebr�isch vermengt gesprochen, so auch in Polen. Diese Meinung st�tzt sich auf eine Menge Volkslieder, die in der neuesten Sammlung von Saul G�nzburg in Petersburg herausgegeben wurden.

Immer kehrt derselbe Gedanke wieder; immer ist die allegorische Anspielung klar, da� die Juden f�r die S�nden ihrer Vorfahren leiden, aber von Gott die Verhei�ung erhalten haben, da� er sie wieder aufrichten wird. Meine Mutter sang diese Liedchen mit leuchtenden Augen und versicherte uns Kinder im seligsten Vertrauen, da� sich diese Verhei�ung auch gewi� einst erf�llen m�sse. Erst im reiferen Alter begriff ich ihre Inbrunst beim Gebet, diese echte Religiosit�t und die aufrichtende Kraft eines reinen Gottesglaubens. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie mit geschlossenen Augen und herabh�ngenden [94] Armen versonnen dastand, und wie sie, entr�ckt, allen kleinen, irdischen Dingen, das leise Gebet Schemoneessere betete. Die Lippen bewegten sich kaum, aber in ihren Z�gen lag ihre betende Seele! Fromme Ergebung, das Bewu�tsein der S�ndhaftigkeit, ein Flehen auf Vergebung und Hoffnung auf die Gnade des Herrn.

Der Schabbes-Menachem brachte Frohsinn in das j�dische Leben, und man beeilte sich, die Entbehrungen der Trauerzeit, da Eheschlie�ungen und sonstige Vergn�gungen verboten waren, wettzumachen, und die T�chter oder die S�hne so rasch wie m�glich in goldene Ketten zu legen! Lange durfte man nicht z�gern, denn dem Monat der Fr�hlichkeit folgte schon Rosch Chodesch Elul (Neumond September) und mit dem Wehen und Blasen der Herbstwinde und dem Fallen des gelb gewordenen Laubes begann auch die Zeit des Schofars, der den ganzen Monat hindurch t�glich nach dem Fr�hmorgengebet geblasen wurde. Er rief wieder zur Selbsteinkehr und Sammlung, regte die Selbstanklage an, die Reue wegen der im ganzen Jahr begangenen S�nden. Fasten, Kasteiungen und die hei�en Gebete zum Sch�pfer sollten die Vergebung vorbereiten. Und viele fromme Werke wurden ge�bt. In den meisten j�dischen H�usern waren damals an irgendeiner Zimmerwand, meist in der N�he der M'susaus im E�zimmer, Sammelb�chsen aus Blech mit Deckelverschlu� angebracht. Die eine dieser B�chsen hie� die �Erez Jisroel Puschke�. Die darin gesammelten M�nzen waren f�r die talmudischen Schulen in Pal�stina und f�r alte Leute in Jerusalem bestimmt, die meist dorthin ausgewandert waren, um auf dem heiligen Boden zu sterben und in pal�stinensischer Erde begraben zu werden. Schrieb man doch dieser die Kraft [95] zu, die in ihr ruhenden Toten vor der Verwesung zu bewahren, so da� sie sich bei der Ankunft des Messias in voller Frische aus ihren Gr�bern erheben w�rden. Im Vertrauen auf die der pal�stinensischen Erde innewohnende Kraft lie�en sich in Europa lebende fromme Juden S�ckchen dieser Erde kommen, um sie in ihre Gr�ber streuen zu lassen. — Pflicht der j�dischen Gemeinden war es jedenfalls, diese in Jerusalem ihren Tod Erwartenden bis zum Ende ihres Lebens zu erhalten, und dazu diente noch der Inhalt dieser B�chse, der allj�hrlich von dem Erez-Israel-Meschulach (Bote) in Empfang genommen wurde. Dieser reiste im ganzen Lande umher und pflegte, wenn er nach Brest kam, bei uns zu logieren. Er war ein r�stiger Mann mit dunklem, sonnengebr�untem Gesicht und klugen Augen. Bei Tisch pflegte er uns viel von Pal�stina zu erz�hlen, und wir lauschten diesen fremdartigen Erz�hlungen wie einem M�rchen.

Die zweite B�chse war die �Reb Meier Balhaness-(Wundert�ter) Puschke�. Wenn jemand ein Ungl�ck drohte, bei Krankheitsf�llen oder sonstigen Gefahren, spendete man in diese B�chse eine Summe in H�he von 18 Kopeken, 18 Rubeln oder 18 Dukaten, je nach Verm�gen und Anla�; jedenfalls mu�te die Wertangabe der Zahl 18 entsprechen, weil diese in hebr�ischen Buchstaben das Wort chaj gleich Leben bedeutet.

Uns Kindern gingen die schweren Tage der Bu�e nicht sehr nah, im Gegenteil, wir freuten uns der sch�nen Herbstzeit mit dem reifen Obst, das wir in gro�en Mengen vertilgten. Eine Sch�rze voller Fr�chte bekamen wir f�r einen Kupfergroschen, den uns die Mutter an jedem Tag schenkte, und der junge Magen nahm die Gaben des Herbstes geduldig auf. Auch bei uns im Garten waren die Fr�chte gereift und harrten [96] hier der pfl�ckenden Hand, der naschenden M�uler. Die Baumzweige hingen zum Brechen voll und das Gem�se stand hoch in pr�chtigen Farben. Der Kohl wurde reif. Meine �lteste Schwester verstand es trefflich, aus dem Strunk ein wie aus Talg gerolltes Lichtchen herzustellen. Sie putzte den Strunk, rundete ihn ab und steckte einen etwas in Ru� geschw�rzten Holzsplitter an die Spitze, so da� es wie ein Licht aussah. Sp�t vor Abend gab sie dieses Lichtchen zum Anz�nden bald der K�chin, bald dem Diener. Der Holzsplitter fing f�r einen Moment zwar Feuer, verlosch jedoch bald, wor�ber die besagte Person sich �rgerte. Wir Kinder sahen von der Ferne zu, kicherten und freuten uns �ber den gelungenen Spa�. Das wurden nun unsere Freuden, denn wir konnten uns nicht mehr solange im Freien aufhalten, es war bereits empfindlich k�hl. Die Tage wurden k�rzer und tr�be. Wir gingen nicht mehr so fr�hzeitig in den Cheder. Wir mu�ten oft im Chederraum spielen, weil uns h�ufig der Herbstregen von der Stra�e scheuchte.

Im Hause wurde es stiller und stiller, die Eltern und die erwachsenen Geschwister wurden immer ernster, je n�her der Monat Elul seinem Ende kam. Die Sorgen der Slichauszeit nahten. Schon ehe der Tag graute, wurden die Bu�gebete verrichtet. Die Gebete sind oft so umfangreich, da� man z. B. am letzten Tage vor Rausch-Haschone (Neujahr) schon um Mitternacht beginnen mu�, um �berhaupt zu Ende zu kommen. Dieses Gebet nennt sich Sechor bris.

Das Neujahrsfest selbst gilt zwar als sehr ernst und heilig, wird aber als freudiger Feiertag betrachtet. Bei uns wurden allerhand Fladen gebacken, Konfit�ren in Honig und Zucker vorbereitet, das Wei�brot wurde in Form von Kringeln [97] gebacken, was symbolisch das runde Jahr darstellen soll. Die Frauen hatten zumeist wei�e Kleider, die nur am Neujahrsfest und am Vers�hnungstage angelegt wurden. Am Vorabend wurden viele Kerzen angez�ndet, �ber die die Frauen den Segen sprachen; die Stimmung ist zwar eine festliche, aber noch immer liegt etwas Trauriges, ein gewisser Ernst �ber den Gem�tern. Beim Abendgebet in der Synagoge wird viel geweint. Ich entsinne mich, da� unser guter Vater vom Weinen heiser nach Hause zu kommen pflegte. Doch gewann die Festtagsstimmung bald die Oberhand, und mein Vater gab uns frohgemut den Segen und machte Kidusch (Segnen des Weines) in freundlicher Stimmung. Wir alle sch�tteten uns zuerst reichlich Wasser �ber die H�nde, trockneten sie sodann ab, setzten uns stumm zu Tische und beteten still mit, w�hrend der Vater �ber die beiden gro�en Brote, die vor ihm bedeckt lagen, einen Spruch sagte; er schnitt eines von ihnen in zwei Teile, von dem einen Teil schnitt er eine Scheibe, die er in Honig tauchte und murmelte leise ein Gebet. Ehe er den ersten Bissen gegessen hatte, durfte weder er, noch ein anderer bei Tische sprechen. Nun bekamen auch die Kinder die Mauzes (die ersten Bissen Brot) mit Honig und dann wurde das reiche Abendmahl genommen. Obgleich es erst um neun Uhr abends begann, ging man doch gleich darauf zur Ruhe, um am n�chsten Tage in aller Fr�he ins Bethaus gehen zu k�nnen. Ich erinnere mich nicht, die Mutter oder die anderen Synagogenbesucher an diesem Morgen je gesehen zu haben, wenn ich auch noch so fr�h aufstand. Alle waren bereits beim Beten und sie kehrten erst um ein oder zwei Uhr mittags heim, ersch�pft, aber in gehobener Stimmung — das war die Wirkung der f�r diesen Tag bestimmten Gebete — die erhabene Piutim-Poesie, die philosophischen [98] Betrachtungen �ber das irdische, verg�ngliche Leben, der Gerechtigkeit und der gnadenvollen Nachsicht unseres einzigen Gottes, �der auf seinem Richterstuhl sitzt�, wie es in den Spr�chen hei�t, �und Gerechtigkeit �bt�.

�Er �ffnet dem das Tor, der daran mit aufrichtiger Reue pocht, der im Gericht seinen Zorn unterdr�ckt, mit Huld und Milde sich als Richter schm�ckt. Er, der S�hnung aller Schuld gew�hrt, der seine Huld l�sset walten. Er z�rnt nur kurze Zeit und ist gro� an Langmut. Er ist g�tig dem B�sen wie dem Guten. Er, der ausharrt, bis sich der Frevler fromm bekehrt.�

Mein Vater pflegte bei Tische mit den jungen Leuten diese Stellen des Gebetes singend zu wiederholen; und sie weinten dabei ...

Das Nachmittagsschl�fchen am ersten Neujahrstag unterlie� man, denn an diesem Feiertag sollte mehr gebetet als gegessen und geschlafen werden. Man ging zum sogenannten Taschlich, d. h. man begab sich zum Flu�, wo man ein kurzes Gebet verrichtete und die S�nden gleichsam von sich absch�ttelte und ins Wasser warf. Dieser Gebrauch wurde von meinem Vater nicht ernst genommen und deshalb beteiligte er sich nicht daran. Vom Flusse begab man sich wieder in die Synagoge, wo das Vorabend- und Abendgebet verrichtet wurde. Zu Hause z�ndeten die Frauen wieder die Kerzen an, der Vater kam aus der Synagoge, erteilte uns wieder den Segen und machte �ber den Becher Wein Kidusch und Schechejone �ber eine Frucht (Segenspruch �ber eine Frucht, die man im Laufe des Sommers noch nicht gegessen hat). Meine Mutter kaufte gew�hnlich hierzu eine Wasser- oder Zuckermelone oder eine Ananas. (Diese Fr�chte waren in unserer Gegend sehr selten). Nach dem Abendbrot, das ebenfalls sehr fr�h [99] genommen wurde, begaben sich alle zur Ruhe, um am n�chsten Morgen fr�hzeitig in der Synagoge mit dem Beten beginnen zu k�nnen, das wieder bis nach ein Uhr w�hrte. Der n�chste Tag ist ein Fasttag, der Zaum Gdalja hei�t. Alle fasteten. Niemand fiel es ein, zu murren und so qu�lte man sich auch den dritten Tag. Darauf folgten die zehn Bu�tage (Asseres jemei Tschuwe), die zwischen Rosch-Haschono und Jom-Kippur (Vers�hnungstag) fallen, und mit dem heiligen Vers�hnungstag ihren H�hepunkt und ihr Ende erreichen.

Mit ehrfurchtsvollem Schauer gedenke ich noch heute des Erew-Jomkippur (des Vorabends des Vers�hnungstages) in unserem v�terlichen Hause, da unsere frommen Eltern alle Sorgen um die weltlichen Dinge verga�en und nur im Gebete lebten. Schon als der Vortag d�mmerte, r�stete man sich, um Kapores zu schlagen. Jeder Mann nahm einen Hahn, jedes Weib nahm eine Henne, man hielt dieselben bei den F��en, man betete ein eigens dazu bestimmtes Gebet. Am Ende schwingt der Beter dreimal das Gefl�gel um seinen Kopf und wirft es dann von sich; dieses Gefl�gel wird geschlachtet und gegessen.

Auch die Herstellung des Jaum-Kippur-Lichtes war eine heilige Pflicht. Schon ganz fr�h am Erew-Jomkippur kam die alte Gabete Sara (Gabete nannte man alte Frauen, deren selbstgestellte Lebensaufgabe es ist, fromme Werke zu unternehmen f�r Kranke, Arme und eben Verstorbene) mit einem ganzen Packet Tchines — kleine Gebetb�cher nur f�r Frauen in j�disch-deutsch geschrieben — und einem ungeheuer gro�en Kn�uel Dochtfaden und einem gro�en St�ck Wachs. Meine Mutter pflegte vorher nichts zu essen, bis das Licht fertig war, denn mit n�chternem Magen ist jeder Mensch geneigter zu weinen, [100] und sein Gem�t ist weicher. Meine Mutter und die obengenannte Sara fingen die Arbeit damit an, da� sie viele Tchines ans dem Packete unter heftigem Weinen sagten; dann erst nahm man den Kn�uel Docht zur Hand, Sara legte ihn in ihre Sch�rze, stellte sich gegen die Mutter in einer Entfernung von einem Meter ungef�hr, gab das Ende des Fadens vom Kn�uel meiner Mutter und zog ihn auch zu sich. Nun fing meine Mutter mit weinender Stimme an, die Namen aller ihrer verstorbenen Familienmitglieder zu nennen und erinnerte dabei an ihre guten Taten, und f�r jeden wurde ein Faden vom Dochtfadenkn�uel weiter gezogen, bis alle erw�hnt waren und ein geh�rig dicker Docht entstand. Auf solche Art wurde auch aller lebenden Familienmitglieder gedacht. Es war auch Sitte, wenn jemand sehr gef�hrlich krank wurde, den Friedhof mit dem Dochtfaden nach allen vier Enden abzumessen und dann diesen Faden zum Docht f�r Wachskerzen zum Jom-Kippur zu gebrauchen.

Den halben Tag verbrachte man noch munter, aber schon in feierlicher Stimmung; man a� nach Vorschrift viel Obst und betete hundert Broches (Segensspr�che). Dann ging es ans Baden und Waschen. Man kleidete sich in wei�, um gleichsam rein und w�rdig vor den ewigen Richter zu treten. Beim Vorabendgebet (Minche) mu� man sich schon 35mal an die Brust schlagen, wobei die Tr�nen reichlich flie�en. Die M�nner lie�en sich noch vom Synagogendiener die sogenannten Malkes auf den R�cken schlagen. Ich erinnere mich, da� sie alle mit rotgeweinten Augen aus der Synagoge kamen, und das rechtzeitig gerichtete Abendmahl wurde in stummer Feierlichkeit genommen. Die jungen Leute und wir Kinder waren erf�llt von einer bangen Erwartung; alle schwiegen unter dem Druck [101] von etwas Unsagbarem und Schwerem. Beim Tischgebet rannen die Tr�nen, deren sich keiner erwehren konnte. Nach Tisch legten alle die Schuhe ab, und die M�nner zogen ihre langen wei�en Kittel �ber die Kleider. (Dieser wei�e Kittel ist beim Juden das Totenhemd, in welchem er begraben wird.) Ein Silberstoffg�rtel und ein Silberstoffk�ppchen vervollst�ndigten die Tracht, und nun ging man, einen Mantel um die Schulter, in die Synagoge; das drittemal an diesem Tage. Ehe man fort ging, segnete, der Vater jedes Kind und Enkelkind, selbst das kleinste, das noch in der Wiege lag, mit Worten voll Innigkeit und Inbrunst, und ihm, sowie den Kindern, denen er die H�nde aufs Haupt legte, flossen die Tr�nen reichlich die Wangen herunter. Selbst das Dienstpersonal kam herbei und blieb an der Schwelle stehen — alle weinten und baten einander �Mauchel sein�, d. h. um Verzeihung. Auch meine Mutter bat mit bewegter Stimme um Nachsicht, wenn sie im Laufe des Jahres ihre Untergebenen beleidigt oder gekr�nkt haben sollte. Dieses Hervorsprudeln der edlen Gef�hle adelte die Seelen und gab ihnen Weihe und Frieden. Und das Bewu�tsein, da� Gott die S�nden vergeben werde, st�rkte den Willen, nun ein neues, gel�utertes Leben zu beginnen.

Alle Seelen der Gro�en, die sich in die Synagoge zu Kolnidre begaben, und der Kleinen, die zu Hause blieben, waren himmelw�rts gerichtet. Der eine Gedanke hielt alle im Bann, dass an diesem Abend die gro�e Abrechnung mit den s�ndigen Menschen beginne. In der Synagoge, die von vielen Kerzen hell erleuchtet war, bei dem feierlichen Kolnidregebet vor offenem Oren kodesch (heilige Bundeslade) mit den Seferthoras (heiligen Rollen) wurde mit tief bewegtem Herzen in der einm�tig reuevollen Stimmung der betenden Gemeinde jede [102] Beleidigung, die man einander w�hrend des ganzen Jahres angetan, zur�ckgenommen, jede Kr�nkung verziehen; auch den Andersgl�ubigen vergab man jede Beleidigung und Unbill. Jeder Jude wollte sich von der S�nde befreien und erkannte an diesem Abend eindringlicher als sonst seine Ohnmacht, die Ohnmacht des Menschen in dem gro�en Weltall und dem Sch�pfer gegen�ber mit den Worten: �Wir Menschen sind in Gottes H�nden wie Ton in des T�pfers Hand.... wie der Stein in des Bildhauers Hand.... wie das Silber in des Goldschmieds Hand.... er formt nach seinem Willen alles.�

Nachdem die Eltern zur Synagoge gegangen waren, scharten wir Kinder uns um die �lteste Schwester Chasche Feige, unsere liebevolle Sch�tzerin und Lehrerin. Sie betete das Abendgebet. Wir standen and�chtig neben ihr und wichen nicht von der Stelle. Ich h�rte sie schluchzen und mir wurde so bange zumute. Das ganze Haus lag in tiefer Stille und die Wachskerzen knisterten geheimnisvoll. Ich sah im Geiste, was im Himmel vor Gottes Thron vorging, wie die vereinten Stimmen der Menschen um Gnade flehten, und selbst die Engel in Furcht und Schrecken vor dem Allerh�chsten dastanden. Aber der Herr pr�fte in seiner Gnade das Herz der Gerechten und gab seine Gnade denen, die aufrichtig die begangenen S�nden bereuten.

Um neun Uhr hie� sie uns schlafen gehen. Uns war aber so schwer ums Herz, da� wir sie baten, sich zu uns zu setzen. Und sie sa� solange, bis wir einschliefen.

Am folgenden Tag war die Stimmung der Synagogenbesucher noch ernster, den weltlichen Dingen vollends entr�ckt; am Tage des Gerichts, am gro�en, heiligen Jom-Kippur, sind die Gebete von einem feierlichen Ernst. Gott der Herr [103] sitzt selbst zu Gericht �ber die S�nden der Menschen, die in einem Buch mit des T�ters Hand verzeichnet sind. Hier aber, in der Synagoge, wird mit zerknirschtem Herzen unter Tr�nen der so bedeutungsvolle Unessane-taukeff keduschas hajom gelesen. Die Engel zittern und rufen: �Das ist der Tag des Gerichts!� Die gro�e Posaune wird geblasen. Und es wird bestimmt, wer im k�nftigen Jahr leben soll oder eines nat�rlichen Todes sterben oder meuchlings umkommen, wer verarmen oder reich, erh�ht oder erniedrigt werden soll. Aber Reue, Gebet und Wohltaten befreien von b�sen Geschicken. Was ist der Mensch? �Er kommt aus der Erde und kehrt zur Erde zur�ck. Einem zerbrochenen Scherben gleicht er, dem Staubfaden einer Blume, die verwelkt; dem Gras, das verdorrt, dem Rauch, der spurlos dahinfliegt, einem Traum, der entschwindet.....�

Im Hause sah es bei uns tr�be aus; die Fensterl�den waren geschlossen, die Zimmer nicht ger�umt, die irdenen mit Sand gef�llten T�pfe standen noch da, in denen die St�mpfe der Wachskerzen von gestern abend langsam brannten und die Luft mit einem schweren Duft erf�llten.

Erst gegen zw�lf Uhr bekamen wir Kinder unseren Tee und das Fr�hst�ck, das aus Kapores (kaltem Huhn) und Wei�brot bestand und zugleich unser Mittagsmahl bildete. Dann fanden sich bald unsere Gespielinnen ein, und die schwere Trauer wich von uns Kindern allm�hlich. Mit der D�mmerung regte es sich wieder im Hause. Die Zimmer wurden wieder in Ordnung gebracht, man deckte den Teetisch, z�ndete viele Kerzen an und bereitete einen Becher Wein und ein geflochtenes Wachslicht zur Awdole vor. Je dunkler es drau�en wurde, um so lichter ward es im Zimmer. Der Samowar (Teemaschine) [104] brodelte bereits einladend auf dem Tisch, als die Synagogenbesucher um sieben Uhr nach Hause kamen. Sie waren alle ersch�pft vom Fasten und Beten, aber keiner nahm etwas zu sich; man wartete geduldig, bis der Vater und die anderen sich gewaschen und gek�mmt hatten, da dies am Morgen zu tun, verboten war. Dann machte unser Vater Awdole, d. h. er betete �ber den Becher Wein, und da erst setzten sich alle an den Tisch, der mit kalten Speisen und Kuchen reich besetzt war. Ohne R�cksicht darauf, da� der Magen w�hrend 24 Stunden nicht einmal einen Tropfen Wasser bekommen hatte, f�llte man ihn jetzt mit s��en, saueren, bitteren und gesalzenen Speisen. Und der Magen nahm Speise und Trank geduldig auf. Jede Spur von Ersch�pfung oder M�digkeit war nun verschwunden, und die Gesichter strahlten vor innerer Ruhe und Zufriedenheit. Nun hatte man diesen schweren Tag f�r ein ganzes Jahr hinter sich. Auch wir Kinder empfanden den Unterschied zwischen dem gestrigen und dem heutigen Abend. Ich war nie zu lustig oder gar �berm�tig und liebte die Einsamkeit, aber die dr�ckende Stimmung des Erew-Jomkippur und des Erew-Tischeb'eaw marterten mich arg.

Nachdem alle den ersten Hunger gestillt hatten, wurde man sehr heiter, und unser Vater, an der Spitze der Tafel in den gro�en Armstuhl gelehnt, begann die erhabenen Stellen aus den Gebeten des Tages halb singend vor sich hin zu sagen. Die jungen Herren stimmten ein, auch der Vorbeter der Synagoge, ein guter Freund unseres Hauses, fand sich gew�hnlich bei uns ein, und man erfreute sich an den poetischen Ges�ngen aufs neue. Man blieb nicht selten bis lange nach Mitternacht in heiterer, gehobener Stimmung, und keinem fiel es ein, nach den Strapazen des Tages sich zur Ruhe zu begeben, wiewohl man sich am [105] n�chsten Morgen schon mit dem ersten Tagesanbruch wieder im Bethaus einfinden mu�te, um, wie es hei�t, die Verleumdungen des Satans vor dem Allerh�chsten zu vernichten. Der Satan k�nnte sonst zu Gott, dem Sch�pfer sagen: �Sieh, Herr, du hast deinem Volk gestern die S�nden vergeben, und heute hat sich kein einziger eingefunden, dein Haus ist leer!�

Aber der Satan soll �ber das auserw�hlte Volk nicht triumphieren. Und so fanden sich denn die Frommen alle in der ersten Morgenstunde im Gotteshaus ein[P], wenn auch nur f�r kurze Zeit, da blo� ein Alltagsgottesdienst stattfand. Mein Vater ging gleich von der Synagoge fort, um einen Essrog (Citronen�hnliche Frucht) und einen Lulow (Palmenblatt) zu kaufen; und froh gelaunt kehrte er heim, wenn es ihm gelang, einen v�llig fehlerfreien Essrog — einen sogenannten �Mibuder� zu finden. Ein solches St�ck kostete im Jahre 1838 5-6 Rubel, da zu jener Zeit der Transport der Fr�chte aus Pal�stina, wo sie nur in geringer Zahl wuchsen, mit viel Schwierigkeiten und Gefahren verbunden war. Nichtsdestoweniger erhielt jeder der jungen M�nner unseres Hauses je einen Essrog f�r sich. Eine jede dieser wohlriechenden, pr�chtigen Fr�chte wurde sorgf�ltig in weichen Hanf gebettet und in einem Silbergef�� aufbewahrt. Diese Fr�chte werden im Verlaufe der acht Feiertage des Laubh�ttenfestes (Sukkoth) beim Morgengebet ben�tzt. Die Palmenbl�tter, Myrten und Weidenzweige, die der Vorschrift gem�� dazu geh�ren, standen in einem gro�en, mit Wasser gef�llten, irdenen Krug. Und im Hause wurde es wieder hell und heiter. Man a�, trank, lachte, plauderte nach Herzenslust. Ich h�rte oft sagen, da� in den vier Tagen vom Jom-Kippur bis Sukkoth [106] die S�nden des Juden nicht unter Kontrolle stehen, und von Gott nicht angerechnet werden.

Viele der Scherze galten den �Sogerkes�. In den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts geh�rte es noch zu den Seltenheiten, da� im einfachen Volke eine jede Frau hebr�isch zu beten verstand. Das Bed�rfnis jedoch, am Samstag und besonders an den heiligen Feiertagen zu beten, war gro�. Aber es gab auch lesekundige Frauen, die ihre Kenntnisse industrialisierten. F�r eine kleine Belohnung beteten sie an den erw�hnten Tagen in der Synagoge den Frauen die Gebete vor. In Ermangelung einer solchen Frau mu�te jedoch in den kleineren, j�dischen St�dtchen ein Mann in der Mitte der Frauenabteilung der Synagoge in ein Fa� kriechen und von diesem Schutzwall aus — von den Weibern umgeben — die Gebete vorlesen. Wie man sich denken kann, gab es dabei oft komische Szenen, und f�r die Anekdotenbildung war das Fa� ein unersch�pflicher Born....

Die Vorleserin nannte man �sogerke� und den Mann �soger�. Diese beiden mu�ten mit weinerlicher Stimme die Gebete vorsprechen, um das umstehende Weibervolk zum Weinen anzuspornen. Unter den Zuh�rerinnen befand sich in unserer Gemeinde die Frau eines Fleischers, die schwerh�rig war. Sie bat die Vorleserin, sie m�chte etwas lauter sprechen, daf�r w�rde sie von ihr eine gro�e Leber bekommen. Jene aber gab ihr mit tr�nender, weinerlicher Stimme im Gebetsingsang zur Antwort: �Wie mit der Leber, so ohne die Leber.� Das umstehende, unwissende Weibervolk aber glaubte, da� diese Worte zum Gebet geh�rten und alle riefen mit weinerlicher Stimme: �Wie mit der Leber, so ohne die Leber.�

Nach einem bestimmten Abschnitt begab sich eins dieser [107] Weiber nach Hause und traf unterwegs eine zweite Frau, die in die Synagoge zur�ckkehrte. Diese fragte, welches Gebet jetzt dort gesagt werde. �Nu ... das Gebet von der Leber.� Die eine: �Im vorigen Jahre hat man doch so etwas nicht gesagt.� Die andere: �heint efscher, weil ein Schaltjahr ist!� ...

Uns Kindern bot sich in den n�chsten Tagen eine Reihe sch�ner Aussichten. Mein Herz pochte freudig in Erwartung der kommenden Dinge.

Gleich nach dem Fr�hst�ck wurde die Laubh�tte besichtigt, eine ger�umige, l�ngliche, hohe Laube mit gro�en Fenstern, die das ganze Jahr unben�tzt blieb. Sie mu�te daher erst gewaschen, geschm�ckt und wohnlich gemacht werden, und der Diener ging sogleich ans Werk.

W�hrend der n�chsten drei Tage bis Sukkoth hatten wir frei; man lernte, studierte nicht, und selbst das t�gliche Beten wurde, wie mir scheint, zum gro�en Teil von den jungen Herren etwas vernachl�ssigt. Unseren Chederbesuch hatten wir schon seit Rausch haschono ganz eingestellt, da die Ferien f�r die j�dische Jugend bis zum Monat Cheschwan (von September bis Oktober) dauerten.

Am Tage des Erew-Jomtows wurden alle im Hause befindlichen Teppiche in die Laubh�tte zusammengetragen, mit denen die jungen Leute unter des Vaters Leitung die W�nde beh�ngten. Man holte Spiegel, brachte die M�bel aus dem E�zimmer und selbst der Kronleuchter durfte nicht fehlen. Am Vorabend vor dem ersten Festtag legten alle festliche Gew�nder an. Die Kerzen der gro�en silbernen Leuchter wurden von unserer Mutter und den jungen Frauen angez�ndet, und sie verrichteten ihr stilles, frommes Gebet, worauf wir uns alle mit gro�em Behagen auf die St�hle um den Tisch [108] setzten und die geschm�ckte Sukke (Laubh�tte) bewunderten. Ihre bewegliche Decke war vorher schon beseitigt und durch Tannenzweige ersetzt worden. Es sah wundervoll seltsam aus. Die vielen brennenden Kerzen, die bunten Teppiche, die hohen Kristallspiegel, die gr�ne Tannendecke und der n�chtlich blaue Himmel, der mit seinen silbernen, funkelnden Sternen so freundlich durch die Zweige hereinblickte, verliehen dem Raum eine m�rchenhafte Pracht.

Die Mutter, festlich gekleidet und mit kostbarem Geschmeide, sa� mitten unter ihren verheirateten und unverheirateten T�chtern, die alle reich geschm�ckt waren. Dann kamen die M�nner aus der Synagoge heim und es gab das k�stliche, patriarchalische Familienbild der damaligen Juden an der Tafelrunde. In ihren langen, schwarzen Atlasr�cken (Kaftans), den breiten Atlasg�rteln, den kostbaren, hohen Zobelm�tzen und ihren strahlenden, jungen Gesichtern sahen sie wahrlich besser aus, als die Jugend von heute im Frack und weisser Binde mit den blasierten, gelangweilten Mienen. Der Vater erteilte uns den Segen; alle wuschen sich die H�nde, beteten und nahmen ein St�ck Barches, die in Honig getaucht wurde. Das Abendbrot, das mit Pfefferfischen er�ffnet und mit Gem�se beschlossen wurde, war beendet. Viele, denen die herbstliche Abendluft zu k�hl wurde, verlie�en die Sukke; einige blieben noch plaudernd sitzen.

Am darauffolgenden Morgen, am ersten Feiertag, wurde in der Synagoge ein besonders feierlicher Gottesdienst abgehalten, und es war wieder ein imposanter Anblick, als die M�nner, Reihe an Reihe auf ihren Pl�tzen stehend, mit dem gr�nen, schlanken Palmenblatt in der rechten und der duftenden, goldgelben Ethrogfrucht in der linken Hand, den Lobgesang [109] Hallel sangen und dann den Rundgang Hakofes, der Kantor voran, in der Synagoge machten.

Gegen ein Uhr kehrten alle nach Hause zur�ck, und nun kamen zum Festtag viele G�ste, denen man Wein und S��igkeiten vorsetzte. Den Nachmittag verbrachte jeder nach eigenem Belieben. Die einen schliefen, die anderen gingen spazieren. Aber keiner verga�, da� man sich schon um f�nf Uhr in der Synagoge zum Vorabendgebet einfinden mu�te. Der zweite Tag unterschied sich fast gar nicht von dem ersten.

Die folgenden vier Tage sind die sogenannten Chaulhamauedtage (Halbfeiertage), an denen zu fahren, zu handeln und zu kaufen gestattet ist. Doch machten die Juden von damals von dieser Freiheit keinen Gebrauch, und selbst sehr arme Handwerker hielten ihre Werkst�tte geschlossen und gaben sich der Lust, der Ruhe und den guten Bissen hin. Am f�nften Tage, Hauschano rabbo, wird aufs neue die ganze Nacht mit dem Lesen gewisser Abschnitte aus der Mischna verbracht. Nach einer Volkssage sieht man an diesem Abend den kopflosen Schatten desjenigen, dem in diesem Jahr zu sterben bestimmt ist. In dieser Nacht soll sich der Himmel teilen und �ffnen, und der fromme, gottesf�rchtige Jude kann seine Pracht sehen! Nur mu� man schnell �Koll tow!� (Alles Gute!) ausrufen und jeder Wunsch geht dann in Erf�llung. — In dieser Nacht bereitet auch der Schames (Synagogendiener) die Hauschanes vor (drei kleine Weidenzweige zu einem kleinen B�ndel vereinigt), die ein jeder w�hrend des Gebetes ergreift, und sie w�hrend der ganzen Betzeit in der Hand beh�lt. Das hierf�r bestimmte Hauschanegebet wird mit gro�er Andacht und unter Tr�nen verrichtet. Am Schlusse werden die Bl�tter der Weidenzweige abgeschlagen.

[110]

Das Wei�brot wird f�r diesen Tag in Form eines Vogels gebacken. Die Volkssage erz�hlt, da� an diesem Tage im Himmel endg�ltig beschlossen wird, wer in diesem Jahre leben oder sterben soll, und da� dieser Vogel zum Himmel fliegt und auf einem Zettel die Bestimmung zur�ckbringt. Den siebenten Feiertag des Laubh�ttenfestes nennt man Sch'mini hoazeres. Am Vorabend sind alle wieder festlich geschm�ckt. Am n�chsten Morgen beginnt der Gottesdienst in der Synagoge sehr fr�h. Man fleht den Himmel um Regen an in dem sogenannten Regengebet (geschem), einer gedankenreichen, phantasievollen Dichtung. Dieses Gebet verl�ngert den Gottesdienst um mehr als eine Stunde und wirkt erhebend auf die Synagogenbesucher.

Sch'mini hoazeres speiste man zum letztenmal in der Sukke zu Mittag. Wiewohl das Wetter in den letzten Tagen ver�nderlich, oft schon empfindlich kalt war (manchmal schneite es sogar und man mu�te Pelze anlegen) hielt man doch aus und nahm die Mahlzeiten, auch den Tee, in der Laubh�tte bis zum letzten Tag. Alt und Jung, selbst wir Kinder, hielten streng die religi�sen Vorschriften ein, so gut verstanden es unsere Eltern, ihre W�nsche und ihren Willen im Hause aufrecht zu halten. Nachdem das Gebet verrichtet wurde, das nach der letzten Mahlzeit beim Verlassen der Sukko vorgeschrieben ist, wurden die M�bel, St�ck f�r St�ck, in die Wohnung zur�ckgebracht, und die vor kurzem noch so herrlich geschm�ckte Laubh�tte stand wieder leer und verlassen, ein treues Bild aller Herrlichkeiten unserer Welt. —

Jetzt kam der letzte Tag des Laubh�ttenfestes �Simchas-Thaure� (Freude �ber die Thora) heran. Warum die Freude? Im Volke erz�hlte man: �Als die Juden auf dem Berge Sinai von Moses die Thora erhielten, verstanden sie von [111] ihrem Inhalt nur wenig; als sie aber die heilige Schrift ganz in sich aufgenommen hatten, fanden sie darin ihr Gl�ck und ihre Freude.� Und wahrlich, diese Thora ist ihr Stolz, ihr Volksschatz geworden f�r alle Zeiten, trotz der Unterdr�ckung, der Verfolgungen und Dem�tigungen, die sie erdulden mu�ten.

Am Simchas-Thora rei�t diese Freude alle Schranken nieder. Wozu man sonst nur sehr selten Gelegenheit hat: man sieht an diesem Tage betrunkene Juden in den Stra�en. Auch in unserem Hause ging es ziemlich bunt zu. Allerlei Getr�nke wurden bereitet, die besten Speisen mu�te die gute j�dische K�che herhalten. Viele G�ste wurden zu Mittag geladen, die Kinder, auch das Gesinde erhielten volle Freiheit und die strenge Disziplin war aufgehoben. Mein Vater sah es ebenso wie alle G�ste f�r eine Mizwe (eine religi�se Handlung) an, sich bei Tische ein R�uschchen anzutrinken. Meine Eltern hinderten die jungen M�nner nicht, wenn sie �berm�tig, ja ausgelassen tanzten und sangen; der Vater sang sogar munter mit. Es fehlten nur die Kl�nge einer Fiedel, da der Jude an den Feiertagen ein Musikinstrument nicht einmal ber�hren darf. Es wurden auch viele religi�se Tafellieder, die sich auf diesen frohen Tag bezogen, im Chor gesungen. F�r meinen Vater hatte der Simchas-Thora-Tag noch eine besondere Bedeutung. Wie ich bereits erw�hnt habe, war die Hauptbesch�ftigung meines Vaters das Talmudstudium, das er um so eifriger betrieb, wenn er gro�e Verluste in seinen Unternehmungen erlitten hatte. Er pflegte dann der Welt den R�cken zu kehren, fl�chtete sich in ein Studierzimmer und lebte nur �al hathauro� und �al hoawaudo� wie der Jude sich kurz und b�ndig ausdr�ckt, d. h. nur in der Lehre der Gesetze und im Gottesdienst, was der Hauptzweck seines Lebens wurde. So machte er von Zeit [112] zu Zeit ein Ssium (d. h. ein Werk vollenden); ein solches Ereignis wird im j�dischen Volke freudig gefeiert und bringt Ansehen und Ehre, besonders wenn es ein Ssium auf ganz Schass, d. i. ein Durchstudieren des ganzen Talmuds und aller Kommentare ist. Mein Vater pflegte seinen Ssium auf einen Simchas-Thora zu verlegen. Das bunte Treiben an diesem Tage dauerte bis zum Abend, beim Vorabendgebet aber waren alle schon wieder ernst. Der Vater machte wieder Awdolo und jetzt hie� es S'miraus, d. h. fromme Lieder singen. Der gro�e Samowar brodelte und dampfte bereits auf dem Teetisch, und bis sp�t in die Nacht sa�en die flei�igen Trinker gem�tlich beisammen. Mit Simchas-Thora sind die sogenannten Jomim nauroim, d. h. die ernsten Tage zu Ende, wenn auch schon der n�chste Schabbes Bereischis vor einem gew�hnlichen Sabbath ausgezeichnet ist, da jetzt der Anfang der Bibel wieder, der erste Abschnitt �Bereischis� vorgelesen wird. Der n�chste Tag nach Simches-Thora ist Isserchag und gilt auch noch als Feiertag. Der Tisch, der volle acht Tage festlich geschm�ckt war, blieb auch heute bedeckt, was am Werktage sonst nach dem rituellen Gebrauch nicht geschieht. Das Mittagbrot wurde zu fr�her Stunde eingenommen und bestand aus kalten Speisen, die vom Vortag zur�ckgeblieben waren, eine Menge von guten, schmackhaften Sachen: kalte Pfefferfische, kalter Putenbraten usw. Nur der Borscht (eine Suppe aus ges�uerten roten R�ben) wurde frisch bereitet.

Die Zeit der Feste war vor�ber. Langsam kam das Leben wieder ins alte Gleise. Eine Abwechslung brachte der Rausch chaudesch.

Am zehnten oder zw�lften Tag jeden Monats wird der Mond, wenn er am Abendhimmel gl�nzt, nach j�dischem Gesetz [113] bewillkommnet. Als Kind liebte ich es, durchs Fenster zuzusehen, wenn mein Vater sich in Begleitung von noch zehn Juden in den hellen Mondschein stellte und betete. Mit munteren Worten und die Augen gen Himmel gerichtet pries er den milden Mond. Dies geschah gew�hnlich Samstags abend.

Den �erew rausch chaudesch�, d. h. den Tag vor �Rausch chaudesch� (Neumond) pflegte man in meinem elterlichen Hause in eigener Weise zu begehen. Unter den damaligen Juden gab es viele, die an diesem Tage fasteten und besondere Gebete verrichteten. Viele Bettler, alte, kranke, in Lumpen geh�llte, halbnackte M�nner und Weiber mit verzerrten Gesichtern, junge Leute, M�dchen und Kinder, kamen scharenweise an diesem Tage, ihr �Rausch chaudesch-geld� zu holen, da jeder Bu�tag bei den Juden durch Almosen seine Weihe erhalten mu�te. War es doch �blich, da� au�er an diesem Tag viele im Volke in jeder Woche am Montag und Donnerstag zu fasten pflegten und an Arme Almosen verteilten. An diesen Tagen konnte man auch die sogenannten �Gabbettes� in Aktion sehen. Gabbettes sind fromme Seelen, gute, selbstlose Frauen, wahre religi�se Patronessen des armen j�dischen Volkes, deren Lebensaufgabe es war und in Litauen noch bis heute ist, sobald sie in ihrem eigenen Hause alles besorgt haben, mit einer zweiten Gabbette von Haus zu Haus in die Armenviertel zu gehen, um dort das Elend und die Not zu lindern. Paarweise laufen sie durch die Gassen, erbetteln von Kr�mern und Kaufleuten in den Buden Lebensmittel; und in alle Privath�user kommen sie, um ein Almosen zu erbitten, Geld oder Speisen, alte Kleider usw. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft einer solchen �Gabbette�, die oft zu uns kam. Sie war ein Engel an G�te und Seelengr��e. Ihr Name war Itke, die Hefterke. Sie pflegte [114] meiner Mutter von all dem Elend und der Armut in der Stadt zu erz�hlen. Mit zerknirschtem Herzen und Trauer in den Z�gen behauptete sie symbolisch, Perlen und Brillanten l�gen in den Gassen herum, aber nur sehr wenige bem�hten sich, die aufzunehmen. Sie meinte damit: Man k�nnte so viele Wohltaten an den Armen �ben, und die wenigsten m�hten sich darum. Nur diese �Juwelen� behauptete Itke, die Hefterke, kann man nach dem Tode mit ins Jenseits nehmen. Meine Mutter pflegte an Rausch chaudesch eine ansehnliche Summe Geld zu verteilen. Alte M�nner und Frauen bekamen eine M�nze von drei polnischen Groschen, d. h. eineundeinehalbe russische Kopeke. Je j�nger der Arme war, um so weniger, bis auf einen Groschen herunter, bekam er. Den Kindern gab man nur eine �Prute�. Diese M�nze war der dritte Teil eines polnischen Groschens, folglich ein Sechsteil einer Kopeke. Diese M�nze pflegte in Brest-Litauen von dem j�dischen Gemeinderat mit Erlaubnis der Regierung verfertigt zu werden. Ich erinnere mich, da� diese Prute nur an Arme gegeben wurde, w�hrend sie im Gesch�ftsleben nicht gangbar war. Zuerst wurde sie in Blei gegossen mit der hebr�ischen Aufschrift �Prute achas�, d. h. eine Prute. Als aber damit Mi�brauch getrieben wurde, schaffte man sie ab, und stellte die Prute aus Pergament her. Sie trug dieselbe Aufschrift. Diese Prute hatte ungef�hr die Gr��e eines Zolls in der L�nge und eines halben Zolls in der Breite. Auch dieses Pergamentgeld wurde bald abgeschafft; und an ihre Stelle trat die Prute in Form eines mittelm��igen, runden Knopfes aus Holz mit einer kleinen Vertiefung, die mit rotem Siegellack gef�llt war, worin das Wort Prute und der Petschaft des Gemeinderats eingedr�ckt waren.

Das Verteilen der Almosen war eigentlich die einzige [115] Form, in der in unserer Familie der Erew Rausch-Chaudesch begangen wurde. Den darauf folgenden Tag aber, den Rausch chaudesch selbst betrachteten wir als einen halben Feiertag. In der Synagoge wurde das Gebet �halel� usw. gesagt, zu Hause gabs gute Speisen zu Mittag; den ganzen Tag �ber durfte �brigens keine Handarbeit verrichtet werden.

Der Rausch-Chaudesch spielte �berhaupt eine wichtige Rolle im Leben der Juden. So war es �blich, an diesem Termine Wohnungen und Dienstboten zu mieten und �wichtige� hauswirtschaftliche Arbeiten auf diesen Tag zu verlegen — besonders aber das �G�nse setzen�, wie es damals hie�. Man pflegte 30-40 G�nse in einem engen K�fig zusammenzupferchen, so da� sie sich kaum bewegen konnten, gab ihnen sehr viel zu fressen, aber sehr wenig zu trinken. Bei dieser Kur wurden sie sehr fett. Genau einundzwanzig Tage m�stete man das Gefl�gelvieh, damit ihr Fett sich mehre und die Leber im Leibe gr��er w�rde, dann wurden sie geschlachtet; wartete man mit dieser Prozedur nur einen Tag, so war — wie man glaubte — die ganze M�sterei vergeblich. Rausch-Chaudesch kislew wurden die G�nse eingekerkert. Am einundzwanzigsten Tage kam mit Tagesanbruch der Schl�chter mit seinem Gehilfen. Er zog das gro�e Schl�chtermesser aus der ledernen Scheide, machte es unheimlich scharf, pr�fte die Sch�rfe an seinem Nagel, und ging dann in Begleitung der K�chin und des Nachtw�chters mit einer Laterne in den G�nsestall, um das Todesurteil an den G�nsen zu vollziehen. Nat�rlich sagte er, bevor er die erste Gans schlachtete, das vorgeschriebene Gebet. Nach einer Stunde war das Werk vollbracht. Man schleppte die geschlachteten G�nse in die K�che, wo sie ein paar arme Weiber rupften, sengten, reinigten und salzten [116] und eine volle Stunde im Salze liegen lie�en. Dann bego� man sie dreimal mit kaltem Wasser, und sie waren koscher. Der L�rm in der K�che und im ganzen Hause war gro�! Eile war n�tig; denn zu Chanuka brauchte man viel Schmalz, G�nseleber und besonders die schmackhaften Grieben! Da gab es schmackhafte Leber- und Griebenpasteten und das herrliche Gericht des ged�mpften G�nsekleins.

Nach einem Aberglauben oder einer mystischen Tradition mu�te der Schl�chter von �Rausch-Chaudesch kislew� an bis �Rausch-Chaudesch adar�, also drei Monate lang, von dem von ihm geschlachteten Federvieh ein Glied, einen Fu� oder Kopf und dergleichen essen, sonst m��te er jeden Augenblick f�rchten, gel�hmt zu werden. Wir pflegten ihm immer das linke F��chen jeder Gans zu �berlassen. Da er jedoch diese F�lle nicht vertilgen konnte, so bereitete man aus den vielen F��chen eine Br�he, die er verzehren mu�te! —

Gro�e Bedeutung hatte auch das Ausbraten des G�nseschmalzes. Es mu�te in aller Stille geschehen, entweder noch vor Tagesanbruch oder sp�t am Abend, damit kein �b�ser Blick� darauf fiele — sonst liefe das ganze Schmalz aus dem Topfe! War aber beim Ausbraten nur eine stille Person t�tig, dann kam — so glaubte man — der gute Hausgeist in Gestalt eines Zwerges und machte, da� das Schmalz �ber den Brattopf quillt; und sch�pfte man es in ein anderes Gef�� ab, so mehrte es sich ohne Unterla�, bis alle leeren Geschirre, selbst das gro�e Wasserfa�, im Hause mit dem Schmalz gef�llt w�ren; dann erst verschwindet der Zwerg.

Aus meiner Schilderung k�nnte die heutige Jugend schliessen, da� das Leben in einem j�dischen Hause der alten Zeit durch seine Sitten und die Strenge seiner Gebr�uche unertr�glich [117] schwer war. O nein! Die damaligen Juden hatten ihre gro�en Freuden, genossen viel Vergn�gen, Ruhe, Behagen; aber alles nur im Kreise der Familien im eigenen Hause; kein Herumstreifen in den Ballsalons, auf Reisen, in den B�dern, �ber Berge, und Meere. Er lebte ruhig, gut und lange. Er gab seinem Gotte, was ihm geb�hrt und nahm vom Leben das, was ihm behagte. Es lag Weihe und tiefes Symbol in den Formen des Lebens, was man von den Zeremonien und Br�uchen der jetzigen Gesellschaft nicht gerade behaupten kann. Gewi� haben auch sie die Bedeutung, die Menschen aneinanderzuf�gen und auch den Individuen die h�here Form einer Gemeinschaft zu schaffen. Allein wer kann leugnen, dass diese Bindung armselig erscheint gegen�ber jener festen, sozialen Verkn�pfung, die das j�dische Gesetz vorschrieb und die das einstige j�dische Leben erreichte. Einer war f�r den anderen orew, d. h. B�rge, und die Formeln �Kol Jsroel chawerim� (Ganz Israel Br�der) und �Achenu benei Jsroel� hatten einen Inhalt! Es war nur konsequent, wenn damals ein Jude vor dem anderen nicht den Hut zog. Aus dem gleichen Grunde wurden j�dische �Freidenker�, wenn sie �ffentlich ein religi�ses Gebot verletzten, vom Volke mit Vorw�rfen verfolgt. Wenn beispielsweise solch ein Freidenker am Sonnabend Abend, an dem man nur eine bestimmte kurze Strecke gehen und Stock, Schirm, Taschentuch ohne Erew nicht tragen darf, sich mit diesen �Lasten� auf der Stra�e zeigte, empfing man ihn mit feindlichen Blicken, weil er gegen den Grundgedanken des mosaischen Gesetzes — dem der Gemeinb�rgschaft und der Verantwortlichkeit des Einzelnen gegen die Gesamtheit — verstie�. Die S�nde des Einzelnen mu� eben das ganze Volk b��en.


[118]

Der Beginn der Aufkl�rungsperiode.

I.Lilienthal.

Von der hohen Altersstufe aus, die ein g�tiges Geschick mich hat erreichen lassen, will ich einen R�ckblick auf die f�r die Juden Litauens kulturell bedeutsame Epoche gegen Ende der drei�iger Jahre des vorigen Jahrhunderts werfen. Ich sehe es als ein Gl�ck an, jene Periode miterlebt zu haben, in der die gro�z�gigen Reformen unter der Regierung Kaiser Nikolaus I. die geistige, ja sogar die physische Regeneration der Juden in Litauen herbeif�hrten.

Wer, wie ich, die Zeit von 1838 bis heute durchlebt, all die religi�sen K�mpfe im Familienleben der litauischen Juden mitgemacht und schlie�lich den gro�en Fortschritt beobachtet hat, der darf und mu� seiner Bewunderung f�r die Idee jener Reformgesetze Ausdruck verleihen und sie segnen. Ja, man darf sogar mit Begeisterung von ihr sprechen, wenn man die zumeist unkultivierten, armseligen Juden der vierziger Jahre mit den litauischen Juden der sechziger und siebziger Jahre vergleicht, unter denen es heute so viele vollkommen europ�isch gebildete M�nner gibt, die auf den verschiedensten Gebieten der Literatur, Wissenschaft und der Kunst Hervorragendes leisten und denen es an �u�eren Ehren und Titeln nicht fehlt.

[119]

Die Menge ahnt oft instinktiv das Eintreten eines gro�en Ereignisses vorher. Im ganzen litauischen Gebiete verbreitete sich pl�tzlich das Ger�cht, den Chedarim (j�dischen Volksschulen) stehe eine gr�ndliche Umwandlung bevor; von den Melamdim (Volksschullehrer), die bisher im j�dischen Jargon Unterricht erteilten, werde k�nftighin die Kenntnis des Russischen gefordert werden, damit sie die Bibel den Schulkindern in diese Sprache �bersetzen k�nnten.

Dieses Ger�cht brachte den �lteren M�nnern schwere Sorge. Sie dachten voll Schrecken daran, da� das Hebr�ische, das Wort Gottes, wohl allm�hlich vernachl�ssigt werden sollte. Die J�ngeren aber, darunter meine beiden �lteren Schwager, nahmen die neue Kunde mit gespannter Erwartung auf. Aber sie wagten es nur fl�sternd �ber die kommende Neugestaltung zu sprechen.

Die Melamdim waren einfach verzweifelt ...

Eines Tages brachte mein Vater, vom Vorabendgebet zur�ckkehrend, aus der Synagoge die hochinteressante Mitteilung, da� das unl�ngst aufgetauchte Ger�cht sich bewahrheite, ein Doktor der Philologie, namens Lilienthal, sei vom Ministerium f�r Volksbildung (an dessen Spitze der gebildete und humane Minister Uwaroff stand) beauftragt worden, ganz Ru�land zu bereisen, um das Bildungsniveau der Juden im ganzen Lande zu pr�fen, sich �ber die Melamdim zu informieren, in deren H�nden der Unterricht der j�dischen Jugend lag; in Petersburg sei ein gro�artiger Reformplan entworfen worden und mit den Rabbinerschulen in Wilna und Schitomir sollte innerhalb eines gewissen Zeitraums auch begonnen werden. Meinen Vater, der strenggl�ubig war, betr�bte jedoch eine bevorstehende Reform nicht zu sehr, denn er selbst klagte stets �ber die schlechte [120] Unterrichtsweise in den j�dischen Schulen von Brest und w�nschte mancherlei Verbesserungen auf diesem Gebiete.

In der Tat war mit der Aufgabe, westeurop�ische Bildung unter den Juden zu verbreiten, der Inspektor der Rigaer Volksschulen, Dr. phil. Lilienthal, betraut worden, weil er europ�isch gebildeter Jude und zugleich mit der hebr�ischen Sprache vertraut war und einiges talmudische Wissen besa�.

Lilienthal hatte sein Werk damit begonnen, da� er sich zun�chst mit den angesehensten, j�dischen Gelehrten in Verbindung setzte, die w�hrend ihres ganzen Lebens in engster F�hlung mit dem Volke standen. So wandte er sich an den ber�hmten Rabbi Reb Mendele Libawitzer, das Haupt der Chassidim-Sekte, die mehr als 100 000 Anh�nger in Litauen und Kleinru�land z�hlte. Er hoffte, diese Autorit�t f�r seine kulturellen Reformen gewinnen zu k�nnen. Ebenso eindringlich bem�hte er sich um Reb Chaim Woloshiner, den Leiter der dortigen Jeschiwa. Beide M�nner berief der Minister nach Petersburg zur Beratung.

Einen Erfolg hatte Lilienthal damit nicht, denn die gro�e Menge der Anh�nger des Libawitzer Rabbi lie�en aus Furcht ihren verg�tterten Rabbi diesem Rufe nicht folgen, da sie erfahren hatten, da� es sich um gro�e Reformen im Talmud- und Bibelunterricht handelte. Die Libawitzer fingen an, mit allen Mitteln gegen die Reformen zu eifern, unbek�mmert um die Folgen (cf. Zeitschrift Woschod 1903).

In Petersburg war man entr�stet, aber Reb Mendele wurde nur mit einem kurzen Hausarrest bestraft. Reb Chaim Woloshiner weigerte sich auch, dem Rufe des Ministers nachzukommen. Er entschuldigte sich mit seinem hohen Alter: die Reise nach Petersburg sei f�r ihn zu beschwerlich. Er empfahl [121] an seiner Stelle Reb David Bichewere. Dieser Vorschlag wurde aber nicht angenommen; und so trat Dr. Lilienthal die Reise nach dem Niederlassungsgebiete der Juden an. —

Einige Tage waren seither verstrichen, als mein Vater die Kunde brachte, Dr. Lilienthal sei bereits in Brest, unserem damaligen Wohnort, eingetroffen, und er wolle zusammen mit den jungen Leuten, meinen Schwagern, dem Doktor einen Besuch abstatten.

Meine Mutter �u�erte ihr nicht geringes Erstaunen �ber diese Absicht; der Vater erkl�rte ihr kurz und b�ndig: Wenn er selbst die jungen Leute nicht zu Dr. Lilienthal f�hren werde, so f�nden sie schon selbst den Weg. Ich glaube aber, das war blo� eine Ausrede: mein Vater war selbst sehr gespannt, die Bekanntschaft des Dr. Lilienthal zu machen, um so rasch wie m�glich Genaueres �ber die bevorstehende Umw�lzung im Schulwesen zu erfahren. Meiner Mutter geistiges Auge sah aber in dieser ganzen Angelegenheit tiefer und sch�rfer als das meines Vaters, was sich in der Folge auch best�tigt hat.

Den Jubel der jungen M�nner zu schildern, da� sie bald den interessanten Dr. Lilienthal besuchen sollten, ist unm�glich. Besonders gl�cklich war mein �lterer Schwager, der neben hervorragender Begabung und ungew�hnlichen talmudischen Kenntnissen einen unerm�dlichen Flei� besa�. Im Alter von vierzehn Jahren hatte er fast das gesamte Wissen eines Rabbiners inne. — — —

Der Besuch bei Dr. Lilienthal war vor�ber. Mein Vater hat viel, sehr viel erfahren: Erstens: Kein Chasid darf Melamed sein, zweitens: Jeder Melamed ist verpflichtet, die russische Sprache in Wort und Schrift zu beherrschen und deutsch lesen [122] zu k�nnen; ferner ist der Melamed verpflichtet, die Bibel und alle Propheten ohne Ausnahme genau zu kennen und endlich darf der Melamed mit den Sch�lern, die bereits im Talmud Unterricht erhalten, die folgenden Abschnitte nicht durchnehmen: Baba Mezia (Feldschaden), Baba Kama (Wechselrecht), Baba Basra (Baugesetze).

Dr. Lilienthal hielt sich einige Zeit in Brest auf und besuchte auch seinem Auftrag gem�� viele Chedarim. Er war entsetzt und niedergedr�ckt von dem verwilderten Aussehen der Melamdim, aber �berrascht und entz�ckt von der semitischen Rassenreinheit der Z�glinge, insbesondere von ihren schwarzen, klugen Augen. Er war auch Zeuge einer Szene, die ihn tief bewegt hat, denn er �berzeugte sich, von welch gro�er Wichtigkeit f�r jeden Juden, selbst f�r die �rmsten, der Unterricht der Kinder ist. Dr. Lilienthal besuchte eines Tages ein Stadt-Cheder und bemerkte, da� sowohl der Melamed, als auch die Sch�ler aufgeregt ein unbestimmtes Etwas erwarteten. Bald darauf trat in das Cheder ein �rmlich gekleideter Jude ein, der seinen Knaben im Alter von etwa sechs Jahren, in einen gro�en Talles[Q] ganz eingewickelt, auf dem Arm trug. Dem Vater folgte die Mutter auf den Fersen. Beide weinten vor Freude und aufrichtiger Dankbarkeit gegen Gott, da� er sie diesen sch�nen, bedeutungsvollen Augenblick hatte erleben lassen, ihren Sohn zum erstenmal in das Cheder bringen zu k�nnen. Die Schar der Sch�ler st�rmte von drau�en herein, um dem Vorgang gaffend beizuwohnen. Der Melamed rief den Fremden [123] ein lautes Scholem aleichem (Friede mit euch!) entgegen, stand von seinem Sitz auf und nahm den Helden dieser Szene in seine Arme, seinen neuen Sch�ler. Nun wurde der Kleine auf den Tisch gestellt, und er weinte beinahe vor �berraschung und Aufregung. Hierauf setzte man ihn auf die n�chste Bank, und da erhielt er vor allem Kuchen, N�sse, Rosinen und Naschwerk, wovon die gl�ckliche Mutter eine Sch�rze voll mitgebracht hatte. Alle Zuschauer gratulierten den gl�ckseligen Eltern zum ersten Schulgang ihres Sohnes. Der Melamed setzte sich zu dem Kleinen, ergriff das auf eine Kartontafel aufgeklebte gedruckte Alef-Beis (Alphabet), legte es vor den Kleinen hin, nahm sodann das gro�e Deitelholz zur Hand, und nun segnete er den Anfang des Unterrichts mit dem Wunsche ein: Der Junge m�ge zu Thora-Lernen (d. h. Gelehrsamkeit), zu Chupe (Trauung) und zu Maassim-towim (guten Taten) erzogen werden. �Amen� sagten die Eltern und alle Umstehenden. Hierauf zeigte der Melamed dem angehenden Sch�ler zum ersten Male das �Alef� (�A�), und nachdem der Junge das wie ein Papagei einige Male nachgesagt hatte, auch das �Beis� (�B�) und dann auch das �Gimel� (�G�). Die freudestrahlende Mutter hatte alle Anwesenden vergessen. Sie f�hlte sich in den Himmel versetzt. Mit vollen H�nden verteilte sie die mitgebrachten Leckerbissen, wobei ein Malach (Engel) dem k�nftigen Gelehrten f�r jeden Buchstaben das Beste und Schmackhafteste von der H�he herab, gerade vor seine Nase warf. In solcher Weise begann der Knabe mit seinem sechsten Lebensjahr seine Schulpflicht zu erf�llen.....

W�hrend seines Brester Aufenthaltes versammelte Dr. Lilienthal t�glich viele junge Leute um sich, denen er von der Notwendigkeit sprach, sich westeurop�ische Bildung anzueignen. [124] Er gab ihnen n�tzliche Ratschl�ge, schilderte ihnen in sch�nen Bildern ihre eigene Zukunft als M�nner der Bildung und gewann sich damit die Herzen der empf�nglichen Jugend, die wohl auf religi�sem Gebiete den Br�uchen der Eltern treu blieb, sonst aber neue Bahnen einschlug und sich immer mehr von den kulturellen Anschauungen der �lteren Generation entfernte — das charakteristische Merkmal der Lilienthalschen Epoche!

Von Brest reiste Dr. Lilienthal sodann nach Wilna, um auch dort seine Mission zu erf�llen. Eine Deputation der Gouvernementsstadt Minsk begr��te ihn und lud ihn zu sich ein. Dr. Lilienthal leistete der Einladung Folge und ging nach Minsk, wo er von den angesehensten Juden mit den gr��ten Ehren empfangen wurde. Gleich nach seiner Ankunft wurde eine Assiphe (allgemeine Versammlung) einberufen, in der er wichtige Fragen beantworten sollte. Die Herren S. Rapaport und O. Lurie f�hrten in der Versammlung das Wort. Die wichtigste Frage war: Was beabsichtigt der Minister f�r Volksbildung eigentlich mit der Reform? Sollten am Ende alle Juden Ru�lands lediglich zur Taufe vorbereitet werden? Dann w�rden sich alle Juden wie ein Mann gegen diese Reformen auflehnen und sie zum Scheitern bringen. Denn n�hme man dem Juden seine Religion, so wankte der feste Boden unter seinen F��en und er sei verloren. Seine eigenen Kinder w�rden sich gegen ihn emp�ren. Dr. Lilienthal war entsetzt. Er schwur bei einer Sepher-Thora (heiligen Rolle), da� er den Juden Volkstum und Religion erhalten wolle und die Taufe verabscheue. Vor Aufregung weinend, versicherte er immer wieder, da� er nur das Beste f�r die Juden anstrebe. Schlie�lich gelang es ihm, die Versammelten zu beruhigen.

Auch nach der Stadt Woloschin, in der damals die Jeschiba [125] (Talmudische Hochschule) in h�chster Bl�te stand, kam er in Erf�llung des ministeriellen Auftrages.

Jeschiba ist eine Lehranstalt f�r erwachsene J�nglinge, die in dem Talmudwissen bald zur h�chsten Stufe gelangt und zur Rabbinerstelle reif sind. Solche Talmudlehranstalten gab es damals drei, in Woloschin, in Mir und in Minsk. F�r diese Anstalten wird noch bis jetzt von der gesamten Judenschaft gesammelt. In einer jeden dieser Anstalten bekamen dann mehr als 200 J�nglinge ihren Unterricht. Ein besonders gro�es Geb�ude mit einigen gro�en, ger�umigen Zimmern! Ein �Haupt�, eine Art Direktor, ein gro�er Talmudist, ein religi�ser, kluger, sehr ehrlicher Mann leitet diese Anstalt, w�hrend viele Melamdim — erprobte Talmudisten — den jungen Leuten Unterricht erteilen. Das Kontingent der Sch�ler besteht aus allen Klassen des j�dischen Volks, meistens aus der mittleren Klasse, deren bares Kapital das geistige Verm�chtnis ausmacht. Diese leben meistenteils auf Kosten der Anstalt. Junge Leute aus reichen Kreisen sind hier auch zahlreich vertreten, meist sind es schon verheiratete M�nner, die, V�ter einiger Kinder, auf eigene Kosten hier leben. Mein Vater selbst hatte schon drei Kinder, w�hrend er in der Woloschiner Jeschiba das ganze Jahr �lernte�. Nur zu den Feiertagen kam er nach Hause.

In Woloschin musste Lilienthal, um die Gem�ter zu bes�nftigen, wiederholt beschw�ren, da� er allen Bestrebungen, die Juden der Taufe n�her zu f�hren, fern st�nde. — — — — — — — — — — — —

In aller Stille nahm unter den Juden Ru�lands die Kulturbewegung ihren Anfang. Die Jugend regte sich energisch; die geistige Arbeit begann. Es kostete wenig Zeit und verh�ltnism��ig geringe M�he, die angedeuteten Reformen durchzuf�hren. [126] Eine erfrischende Luft wehte durch die j�dische Gesellschaft der Stadt Brest, wie aller anderen russisch-j�dischen Orte.

Ich habe schon erz�hlt, wie gro� der Jubel meiner Schwager �ber die bevorstehenden Reformen war. Aber sie mu�ten an sich halten, um sich nicht zu verraten und meine Mutter nicht zu verletzen, die ihr prophetisches Urteil �ber diese Wandlung hatte. Indessen waren meine Schwager nicht die einzigen in Brest, die sich f�r die westeurop�ische Kultur begeisterten. Es gab auch eine Gruppe von mehr als 20 jungen M�nnern, welche die Lilienthalsche Bewegung sehr ernst nahmen und in ihrem Kreise eifrig f�r die Sache wirkten — stie�en sie auf einen beschr�nkten Menschen, so waren sie der Ansicht, da� es schlie�lich auch gen�gen w�rde, wenn dieser wenigstens eine Adresse in russischer Sprache schreiben k�nnte.

Man darf nicht vergessen, da� die Kenntnisse meiner Schwager und ihrer Zeitgenossen in den europ�ischen Sprachen jener Zeit sehr begrenzt waren und in Lesen, Schreiben, ein wenig Russisch und Polnisch bestanden. Die deutsche Sprache war ihnen gel�ufiger. Sie hatten eine Ahnung von der klassischen Literatur dieser Sprachen und mancher Wissenschaften. Die niedere, j�dische Klasse aber verstand weder zu schreiben, noch zu lesen oder eine europ�ische Sprache zu sprechen; sie sprachen ein d�rftiges Polnisch, und ein Kauderwelsch von Deutsch und Russisch wurde von der j�dischen Kaufmannschaft notgedrungen gebraucht; w�hrend der P�bel ein Gemisch von Polnisch, Russisch, Lettisch sprach, dessen sie sich auf den M�rkten mit den Dorfbewohnern bedienten.

Tiefgreifend konnten die Umw�lzungen erst werden durch die Begr�ndung in neuem Geiste geleiteter Rabbinerschulen. So entstanden die Schulen in Wilna und Schitomir. Die ersten [127] Sch�ler waren zumeist junge Leute, die sich alle M�he gegeben hatten, bei Er�ffnung der Schulen aufgenommen zu werden. Nur selten war ihnen der Eintritt in diese Schulen ohne K�mpfe in der Familie m�glich. Wem es nicht leicht wurde, der ri� sich von Weib und Kind los und fl�chtete sich nach Deutschland, wo er oft mit harter Not Medizin, Pharmacie, Philologie oder anderes mit gl�nzendem Resultate studierte. Die Stadt Rossieni in Kurland kann mehr als 10 solcher Ritter vom Geiste nennen, �rzte, Juristen, Apotheker, Philosophen und Dichter, die teils in Ru�land, teils im Auslande studiert hatten. Noch jetzt lebt und wirkt in Ru�land ein Professor der orientalischen Sprachen, der seine Jugend beim Talmudfolianten verbracht hat und sich sp�ter in dieser Weise ausgebildet hat. Freilich er und seine Kinder sind getauft. Auch den j�dischen Astronomen Ch. S. Slonimsky haben seine bedeutenden, talmudischen Kenntnisse nicht gehindert — vielleicht haben sie sogar dazu beigetragen, in der Mathematik ber�hmt zu werden. — Die Mehrzahl der Z�glinge in den neuen Rabbinerschulen waren fr�her Talmudisten. Sie lernten leicht, und die meisten erhielten beim Abgang von der Schule die goldene Medaille, ebenso diejenigen, die sp�ter die Universit�t besuchten! Das Studium des Talmuds ist eben eine in jeder Hinsicht gute, geistige �bung, wozu noch die Wi�begier, der temperamentvolle Charakter und der geistige Schwung des damaligen Juden kamen. — — — — — — — — — — — —

Einen Tag nach dem Besuch bei Dr. Lilienthal finden wir die jungen Leute, meine Schwager, in ihrem Studierzimmer nachdenklich beieinander sitzend. �Die B�cher werden schon zu finden sein�, sagte mein wi�begieriger, �lterer Schwager. �Wir m�ssen nur darauf bedacht sein, vom Talmudlernen Zeit [128] f�r unser neues Studium zu er�brigen, ohne die Aufmerksamkeit der Eltern zu erregen ...�, worauf der andere in seiner phlegmatischen Weise antwortete: �Ja, gewi�! Wenn du zu studieren beginnst, halte ich auch mit.� Dr. Lilienthal hatte ihnen in erster Linie das Studium der russischen Sprache empfohlen; dann, als gleichfalls sehr wichtig, Naturgeschichte, sowie die deutsche Literatur.

Einige Zeit darauf gab es mehrere st�rende Zwischenf�lle, die der Komik nicht entbehrten. Meine Mutter war seit dem Besuche der jungen Leute bei Dr. Lilienthal fest �berzeugt, da� ein neues, fremdes Element in ihr Haus, ebenso wie bei den anderen Juden in Ru�land, eingezogen sei, wobei das Wort Gottes wirklich hintenangesetzt werden sollte. Und sie ward sehr traurig. Unauff�llig, aber scharf beobachtete sie das Verhalten und die Handlungen der jungen Leute. Die Schwager hatten sich die n�tigen Lehrb�cher verschafft und zu studieren begonnen, was nat�rlich auf Kosten des Talmudstudiums geschehen mu�te. �u�erlich blieben sie ruhig und schienen sich wie gewohnt, mit dem Talmud zu besch�ftigen. Doch konnte ein aufmerksamer Beobachter unter den gro�en Talmudsfolianten nicht selten einen Band von Schillers oder Zschokke-Werken entdecken; im letzteren erf�llte besonders die idyllische Lebensweise Engelberts die j�dische Jugend mit Begeisterung, w�hrend die Prinzessin von Wolfenb�ttel — zumal bei den j�dischen Frauen — Sympathie und Mitleid erregte. Und Schillers Marquis Posa galt allen j�ngeren M�nnern als Vorbild. Die n�chterne, russische Grammatik war auch zur Hand, und in der B�chersammlung fehlte auch eine Naturgeschichte nicht.

Mein Vater lie� seit dem Besuche bei Dr. Lilienthal keine Gelegenheit unben�tzt vor�bergehen, von ihm und seiner [129] wichtigen und gro�en Aufgabe zu sprechen. Es tat ihm ordentlich wohl, mit jedem Gast und besonders mit den jungen Leuten, meinen Schwagern, die gro�artigen Reformen zu er�rtern. Er geriet in Eifer bei solchen Gespr�chen, lobte, da� endlich auf dem Gebiete des Unterrichts der j�dischen Jugend Ordnung geschaffen werden sollte, grollte aber doch, da� Dr. Lilienthal so gottlos gesprochen habe, da� man die fr�her erw�hnten Talmudabschnitte der j�dischen Jugend entziehen m�sse, und man sich gegebenenfalls nicht nach den Talmudgesetzen richten solle.

... Es war eines Morgens in dem denkw�rdigen Sommer des Jahres 1842, als meine Schwager, ohne zu ahnen, da� jemand sie h�ren k�nnte, die neuen B�cher aus ihrem Versteck holten, auf den offenen Talmudfolianten legten und im Vereine mit dem dritten, Reb Herschel, einem Melamed aus der Kehila Orlo, der genial war und gro�e talmudische Kenntnisse besa�, laut schreiend �ber einen Satz im �Don Carlos� disputierten. Um einer immerhin m�glichen �berraschung vorzubeugen, lasen und sprachen sie genau in derselben singenden Weise, in der sie sonst den Talmud zu lernen pflegten. Meine Mutter schien seit dem Erscheinen Dr. Lilienthals wie von einem Gespenst verfolgt, und nun wollte sie in das Studierzimmer der jungen Leute gehen in der Hoffnung, sich �berzeugen zu k�nnen, da� ihre qu�lenden Gedanken doch unbegr�ndet seien, und da� der Teufel in Gestalt Dr. Lilienthals sich doch noch nicht v�llig ihrer Schwiegers�hne bem�chtigt h�tte. Sie blieb unten an der Treppe, die zum Studierzimmer f�hrte, lauschend stehen. Dann stieg sie die Treppe hinan, blieb wieder stehen, lauschte und h�rte mit Freude, wie flei�ig drin gelernt wurde. Als sie aber das Ohr der geschlossenen T�r n�herte und aufmerksamer [130] horchte, erfa�te sie Schreck und Erstaunen. Ein furchtbarer Ausdruck von Entt�uschung und �rger verst�rte ihre Gesichtsz�ge. Von �Omar abaje�, mit welchen Worten viele Traktate des Talmud beginnen, h�rte sie nichts. Blo� Marquis Posa, Herzog Alba usw.

�Sind es also wirklich nur die s�ndigen B�chlech, mit denen sich die jungen Leute befassen?� dachte sie mit einem gro�en Weh im Herzen.

Es verstrich eine geraume Zeit, ehe meine Mutter sich fassen konnte. Dann ergriff sie mit zitternder Hand die Klinke, �ffnete die T�r und blieb wortlos vor �rger auf der Schwelle stehen. Beim Ger�usche der sich �ffnenden T�re wandten die drei �berraschten die K�pfe um, und sie h�tten sicherlich aufgeschrieen, wenn ihnen der Atem nicht versagt h�tte. Ihre erste Bewegung war, da� sie s�mtliche B�cher unter den Tisch gleiten lie�en; sie wollten ja der Mutter nicht trotzen. Es tat ihnen sogar weh, da� diese �B�chlech� ihr soviel Kummer bereiteten. Allein der Reiz des Neuen, das Anziehende im Studium der fremden Sprachen und der Wissenschaften nach dem Einerlei des Talmudlernens war von einem unwiderstehlichen Zwange. Meine Mutter gewann zuerst wieder die Herrschaft �ber sich und rief laut: �O Himmel, ich soll in meinem eigenen Hause das Wort Gottes so verh�hnt sehen! In demselben Nigen (Tonfall), in dem ihr den Talmud lernt, verh�hnt ihr ihn jetzt durch das Lesen dieser apikorssischen (abtr�nnigen) B�chlech!! Und auch Ihr, Reb Herschel, Ihr habt es auch n�tig?! Was wollt Ihr damit in Eurer Kehile Orlo machen! Ihr wollt auch ein Apikaures (Abtr�nniger) werden, wie meine jungen Leute?� Sie war bei dieser Rede so aufgeregt, da� ihre F��e ihr schier den Dienst versagten. Die jungen M�nner blieben [131] stumm; ihre nach links dem Fenster zugewendeten K�pfe waren unbeweglich. Da keine Antwort, folglich auch kein Widerspruch kam, beruhigte sich die Mutter einigerma�en, und sie entfernte sich schweigend.

Es verging nicht lange Zeit, da �berraschte sie meinen �lteren Schwager allein bei dem neuen Studium. Es war am fr�hen Morgen desselben Sommers. Der Berg in der N�he unseres Hauses stand noch in d�sterem Nebel. Ich befand mich zuf�llig im Hof und sah meine Mutter aus dem Hause kommen. Sie ging zum gro�en Tor hinaus. Ich folgte ihr. Sie machte einige Schritte an dem Gitter des Blumengartens entlang, der sich an dem Hause befand und blieb erstaunt stehen. �Wer steht dort?� sprach sie wie zu sich selbst — oder war es an mich gerichtet? Sie machte noch ein paar Schritte und sagte mit lauter Stimme: �Doch, doch, ich glaube David (mein �lterer Schwager) ist es! Was tut er dort?�, rief sie aus und n�herte sich rasch dem Winkel des Gartens, wo eine gro�e alte Pappel stand. Sie hatte sich nicht geirrt: es war David. Mein Schwager hatte nur einen leichten Chalat (Schlafrock) an, dessen G�rtelenden lose �bereinander geworfen waren, statt zu einer Schleife gebunden zu sein; seine Brust war entbl��t, das Haar zerzaust, eine Peje (Ohrlocke) war ganz hinter das Ohr geraten, w�hrend die andere sich auf der Wange wie eine kleine Schlange bewegte; das schwarze Sammetk�ppchen zeigte reichliche Spuren der Daunenkissen, die nackten F��e staken in den Pantoffeln. Der Morgennebel lag auf der vor K�lte und N�sse zitternden Gestalt. Die rechte Hand arbeitete kr�ftig, sie beseitigte die Rinde der Pappel und holte kleine Insekten heraus, die mein Schwager nicht ohne Ekel in ein K�stchen mit einem Glasdeckel warf. Der [132] Anblick mu� recht komisch gewesen sein, denn meine Mutter rief halb verwundert, halb belustigt: �Wos tust du do?�

�Gur nischt� (gar nichts), gab er lakonisch zur Antwort, ohne sich in seiner Arbeit st�ren zu lassen.

�Wos is do im K�stchen auf der Erd?� fragte die Mutter weiter.

�Gur nischt!� meinte der �berraschte Naturforscher.

�Warum biste so fr�h do?� forschte meine Mutter.

�Fr�h! S'es gur nischt fr�h!� antwortete der junge Mann in der Hoffnung, sich so aus der Affaire zu ziehen. Aber das n�tzte nichts, denn die Mutter beugte sich �ber das Gitter und entdeckte nicht ohne �rger auch ein Buch neben dem K�stchen. Nun begriff sie, da� beides einem und demselben Zwecke diente, und sie verw�nschte im Stillen Dr. Lilienthal. Ein verzweifelter, vielsagender Seufzer entrang sich dem tiefbetr�bten Herzen meiner armen Mutter. Sie blieb eine Weile starr, die Dinge vor sich anblickend. Dann wandte sie sich nach rechts und trat in den Garten. Der halbnackte Naturforscher erriet ihre Absichten und suchte rasch das Weite, indem er alles als Beute zur�cklie�. Bei der Flucht verlor er einen Schuh, die anderen notwendigen Kleidungsst�cke hielt er mit beiden H�nden fest. Meine Mutter n�herte sich rasch der Pappel, blickte in das K�stchen und entdeckte darin zu ihrem unbeschreiblichen Erstaunen eine gew�hnliche Fliege, einen Maik�fer, ein Marienk�ferchen (�Gottes K�hele�), eine Ameise, einen Holzwurm und noch viele andere Insekten auf Stecknadeln gespie�t. Sie traute ihren Augen nicht, und ihr Achselzucken deutete mehr als gesprochene Worte es h�tten tun k�nnen, auf die Frage hin: �Wozu braucht ein Mensch solches Gew�rm?� Sie erschrak aber f�rmlich, als sie das Buch in die H�nde nahm und darin [133] neben den Erkl�rungen auch die Abbildungen von einigen Insekten erblickte. Der Zufall wollte es, da� ihr Blick auf einem �h�uslichen Insekt� haften blieb, das gem�tlich hingestreckt dalag — sie sch�ttelte sich vor Ekel. — Da� die jungen Leute Deutsch und Russisch lernen wollten, leuchtete ihr am Ende ein. Sie begriff schlie�lich das Vergn�gen an Lekt�re, sie selbst war in der hebr�ischen Literatur sehr belesen; allein, da� sich jemand und gar ihre Schwiegers�hne daf�r interessierten, wie sich die Ameise fortbewegt, oder wieviele F��e der Maik�fer oder welche Augen ein gr�ner Wurm hat, das konnte sie nicht verstehen! Sie ergriff die Troph�en des am fr�hen Morgen gewonnenen Treffens und kehrte auf demselben Wege ins Haus zur�ck, den wenige Minuten vorher der fl�chtige Held genommen und auf dem er den einen Schuh als Zeichen seiner Niederlage zur�ckgelassen hatte. Sie nahm auch den Schuh mit, brachte alles ins Speisezimmer und plazierte alles auf dem Fensterbrett. Inzwischen war mein Vater aufgestanden; als er von der Sache erfuhr, lachte er herzlich. —

Solche Szenen spielten sich nicht blo� in unserem Hause ab: alle anderen Genossen meiner Schwager hatten �hnliche oder noch gr��ere Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten zu erdulden. — Meinem Schwager David waren solche Verfolgungen doch zu bunt geworden. Als man ihn einmal zum Mittagessen rief, meldete er sich krank, und er reiste noch an demselben Abend, ohne irgend jemand, selbst seiner Frau, etwas zu sagen, zu seinem Vater, der Rabbiner war, nach Semjatitcz, einem St�dtchen in Polen. Dort hielt er sich einige Zeit auf; dar�ber freuten sich im Anfang meine Schwestern und meine Eltern, denn sie wu�ten ihn nun fern von der stetig anwachsenden Lilienthalschen Bewegung. Sp�ter hatte man gro�e M�he, ihn zur R�ckkehr nach Brest zu bewegen.

[134]

Meine Schwager suchten nun nach Mitteln, solchen Szenen, wie ich sie oben geschildert habe, vorzubeugen, und sie w�hlten sich ein stilles Pl�tzchen, das zwischen den H�geln, unserem Hause gen�gend fern, lag. Dort versammelten sich die Gesinnungsgenossen, um �ber manches Buch zu debattieren, Beschl�sse �ber die brennende Frage der Bildungsbestrebungen zu fassen. Trotz alles flei�igen Bem�hens und einer ungew�hnlichen Wi�begierde unter dieser Jugend ging in der ersten Periode aus Brest doch keine einzige hervorragende Pers�nlichkeit hervor, obgleich wir den gro�en Verdiensten meiner Schwager und ihrer Zeitgenossen Gerechtigkeit widerfahren lassen und sie als Pioniere, die manche Wege ebneten, bezeichnen m�ssen: Hierdurch wurde der kommenden Generation die M�glichkeit zu studieren bedeutend erleichtert und manches Vorurteil beseitigt.

Die erw�hnten drei jungen Leute waren wohl die ersten in Brest, welche ihre jugendkr�ftigen H�nde nach dem Apfel der Erkenntnis, den ihnen Lilienthal reichte, ausstreckten und ihn mit Lust ergriffen. Mein �lterer Schwager bem�hte sich trotz seines gro�en Flei�es und aller F�higkeiten vergeblich, die Stelle, wo er in den Apfel bei�en sollte, zu finden — an seiner asiatischen Erziehung scheiterten alle europ�ischen Versuche. Er h�tte mit seinen talmudischen Kenntnissen viel H�heres f�r sich und die Gesellschaft leisten k�nnen. Mein j�ngerer Schwager konnte vom Apfel genie�en und ward in kurzer Zeit ein nach damaligen Begriffen gebildeter Mann, w�hrend Reb Herschel, der Melamed, nach dem erw�hnten Apfel der Erkenntnis seine plebejischen H�nde ausstreckte, ihn ergriff und einen tiefen Bi� tat.... Es dauerte nicht lange, so verwandelte er sich aus einem �Orler Menschen� in einen interessanten, gebildeten Herrn Hermann [135] Blumberg. Mit einem Worte: die j�dische Jugend von Brest geno� von dem Apfel der Erkenntnis mehr oder weniger; aber ein jeder hat doch davon gekostet, und der Samen, den Dr. Lilienthal in Brest ausgestreut, hat je nach der Beschaffenheit des Bodens ansehnliche Fr�chte getragen. Die ersten Bildungspioniere in Brest beherrschten nur das erste Dezennium jener Epoche und waren zur kulturellen Unfruchtbarkeit verdammt, da sie leider, wie ich mich erinnern kann, sich als Muster unter den Weisen des alten Griechenlands Epikur und seine Ethik erw�hlt hatten....

Wenn aber Dr. Lilienthal so reiche Erfolge hatte, so geschah es nur, weil der geistige Boden in Ru�land sehr gut vorbereitet war: Das j�dische Kind m�nnlichen Geschlechtes (nicht aber die M�dchen) wurde damals von fr�hester Jugend an zum Lernen angehalten und sp�ter, im Knabenalter schon, mit scholastischem Gespinst, mit vielen talmudischen Spitzfindigkeiten und ernster Lebensanschauung bekannt gemacht. Da kein anderes Studium ablenkte, so konnte der jugendliche Sch�ler sich t�glich dem Studium des Talmuds ganz hingeben. Unterhaltung fand er auch nur zu Hause im Familienkreise (daher auch die Anh�nglichkeit), sowie in dem bescheidenen Familienleben seiner Kameraden. Die zahllosen Vergn�gungen von heute kannte die damalige Jugend nicht. Und so war damals der Jude schon in seinem J�nglingsalter in geistiger Hinsicht ein ganzer, wenn auch einseitiger Mensch. Mit Leib und Seele hing er an seiner Tradition und seiner Religion, die f�r ihn die Moral, die Ethik — die ganze Welt in sich schlossen. Seine Bibel bot ihm hinreichendes Wissen in der Weltgeschichte bis zum grauen Altertum hinauf und bis zu der christlichen Aera herunter; seine Propheten adelten seinen Geist, erg�tzten seine Seele, [136] verliehen ihr Schwung, erf�llten sie mit Begeisterung, und der Stolz des Kindes und so auch des j�dischen Mannes, das Selbstbewu�tsein, fa�te schon in seiner Jugend Wurzel — was die Andersgl�ubigen mit D�nkel und Frechheit zu bezeichnen pflegen. Die Ethik der j�dischen Weisen, ihre kernige und zugleich erhabene Lebensanschauung machten den damaligen Juden fr�hzeitig zum Denker und Philosophen, der auch die Sch�nheit in seiner Religion fand. Das j�dische Volk lebte damals wie auf einer Insel, fern von der �brigen Welt, aber nicht wild wie die Insulaner. Es war hier auf der Insel gl�cklich, wo es f�r sich allein die Welt des Geistigen besa�: seinen Glauben, seine Tradition, die ihm allen Genu� im zeitlichen Leben gew�hrte. Und die Hoffnung auf ein k�nftiges Leben lie� ihn die Leiden des gegenw�rtigen ertragen. Aus diesem geistigen Reich konnte ihn keine menschliche Macht verjagen. Hier war er Herr und Meister.

Die Sturm- und Drangperiode des damaligen j�dischen J�nglings vollzog sich auf der Schulbank. Keine Revolution, keine Liebesabenteuer rissen ihn von seinem beschaulichen Wege fort; auch das Gesch�ft nicht, denn es galt den Eltern als heilige Pflicht, f�r den Sohn bis weit �ber die J�nglingsjahre, selbst nachdem er schon Ehemann und Familienvater war, zu sorgen, da es h�chstes Gl�ck war, wenn der junge Ehemann ununterbrochen den Talmud studierte. Unter diesem Gesichtspunkte w�hlten wohlhabende Leute f�r ihre T�chter und ihre S�hne: die Braut mu�te vor allem h�bsch von Gestalt, klug und gesittet sein. In erster Reihe aber eine �Bas towim�, d. h. die Tochter eines gelehrten und religi�sen Mannes. Ich kann beteuern, da� die Wahl der Eltern, die nicht von dem Gott Mammon beirrt war, selten ein Fehlgriff war. Im gro�en und [137] ganzen gab es damals, wie ich mich zu entsinnen wei�, viele sehr gl�ckliche Ehen, in denen die Sittlichkeit der jungen Eheleute dem Bunde Weihe verlieh und f�r immer die Treue sicherte. Keine Entt�uschungen, keine �bers�ttigung, kein Hasten nach Ver�nderung st�rten die Eintracht des Paares, und der wahre g�ttliche Funke der Liebe n�hrte die heilige Flamme auf dem h�uslichen Herd, die Flamme, die kein Sturm im Leben auszul�schen vermochte. Und in den tr�ben Tagen des Herbstes oder gar in den kalten, kurzen, einsamen Wintertagen — im hohen Alter, wenn das Feuer l�ngst ausgebrannt ist, w�rmt und erh�lt dieser unter der Asche noch glimmende Funke die oft frierende Seele.

Wenn an diesem geheiligten Eheleben die Aufkl�rung r�ttelte und manches kostbare Gut zerbrach, so vergesse man nicht, da� das zu starke Licht der europ�ischen Bildung zu schnell ohne die milde Vermittlung der D�mmerung hereinbrach und die verbl�ffte Jugend blendete. Waren doch die ersten Adepten der Bildung schon gereifte M�nner, die bis zu diesem Augenblick ein fast asketisches Leben gef�hrt hatten. —

[138]


II.Jeschiwa Bochurim.[R]

Die Jeschiwa-Bochurim bildeten gegen Ende der drei�iger Jahre das lernende Proletariat in Brest, wie in ganz Litauen. Ihre religi�se und geistige Erziehung war systematisch geregelt. Die j�dische Gesellschaft trug unter Aufwand von vielen Kosten daf�r Sorge. Dagegen blieb ihre k�rperliche Pflege ganz problematisch, weshalb schw�chliches, verk�mmertes Aussehen f�r den Jeschiwa-Bocher charakteristisch war. Sie waren in ihrer t�glichen Nahrung, ihrer Kleidung und ihrem Obdach ganz auf den gl�cklichen Zufall und auf die Gnade der Mitb�rger angewiesen. Es wurde ihnen im besten Falle Mittagessen verabreicht, aber auch das nicht an jedem Tag der Woche. F�r die anderen Mahlzeiten sorgte der, �welcher den Sperlingen in der Luft die Nahrung spendet�. Ihr Obdach fanden sie in den Bothemidroschim, die Lehrh�user und Synagogen zugleich waren. Auf den harten Holzb�nken, die F�uste unter dem Kopf, schliefen sie im Sommer und in der N�he des geheizten Ofens im Winter den Schlaf des Gerechten. Ihre Kleidung erhielten sie von mildt�tigen B�rgern stets zu unrechter Zeit: zu Beginn des Sommers wattierte Winterkleider, im Sp�therbst sommerliche Kleider und Stiefel. So froren sie im Winter und schwitzten doppelt soviel wie die Reichen im Sommer. Auf diese Weise fristeten sie ihr Dasein jahrein, jahraus, mit Eifer und Ausdauer ihren Talmud studierend, bis zu ihrem 20. Lebensjahr. Dann heirateten sie, mitunter sehr g�nstig, denn sie wurden von den reichen B�rgern geehrt und begehrt, da sie im Volke als gute Talmudisten und ehrenwerte, fromme Menschen galten.

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Diese Bochurim pflegte man ihren rabbinischen Kenntnissen nach in drei Klassen einzuteilen. In meinem Elternhause erhielt jeden Tag ein anderer Angeh�riger dieser drei Klassen das Mittagmahl. Der �lteste von ihnen hie� mit dem Eigennamen Schamele, er geh�rte schon als t�chtiger Talmudist zu den Jeschiwa-Bochurim, der h�chsten dritten Klasse. Das war ein ruhiger, pfiffiger, aber schwerf�lliger, blonder Junge mit gutm�tigen, blauen Augen. Er trug Sommer und Winter ein und denselben langsch��igen, an den Ellbogen zerrissenen Kaftan. Der zweite Bocher z�hlte zu den Orem-Bocherim, da er den Unterricht in der Bibel und in den leichteren Talmudteilen von den st�dtischen Melamdonim, und zum Teil von den gesetzkundigen, jungen und alten Talmudisten in den Bothemidroschim erhielt. Er hie� Fischele und bildete den leibhaftigen Gegensatz zu dem Schamele, denn er war beweglich, schwarz�ugig, und schien immer aufgeregt und somit den Spitznamen Fischele zu rechtfertigen. Der dritte hie� Motele, er geh�rte der j�ngsten, niedersten Klasse an und war Wanderbocher. Das war ein von Natur stiller, bedachter, ruhig r�sonnierender J�ngling, der richtige Typus des Wanderbochers.

Die meisten dieser J�nglinge kamen aus den St�dtchen und D�rfern der Umgebung nach Brest, um dort zu lernen. Sie besa�en viel Mutterwitz, waren ruhig und verrichteten jeden Dienst in den H�usern, in denen sie ihr Mittagbrot bekamen. Sie waren vorz�glich geeignet, in der geistigen G�rungsperiode der Lilienthalschen Bewegung die Korrespondenz und die aufkl�rerischen (apikurssischen) B�cher zu den jungen Leuten in die Stadt zu bringen.

Man konnte oft den einen oder anderen von ihnen in der D�mmerstunde, wie eine Katze sp�hend, sich leise in unseren Hof mit einem Packet dieser geistigen �Kontrebande� schleichen und direkt auf der zum Studierzimmer meiner Schwager f�hrenden Treppe in der Dunkelheit des Vorabends verschwinden sehen. H�tte das wachsame Auge meiner Mutter sie erblickt, so w�re es ihnen b�se ergangen; an dem Tage w�ren sie bei uns sicher nicht satt geworden.

Fischele hatte sich allm�hlich als Autodidakt zu einem sehr [140] guten P�dagogen ausgebildet. Er pflegte halb scherzhaft, halb im Ernst zu bitten, man soll ihm helfen: aus einem Orembocher ein Oremmann (armer Mann) zu werden. Bald heiratete er ein braves M�dchen und fand als gebildeter Mann in der h�heren, j�dischen Gesellschaft eine gute Aufnahme. Dagegen hat Schamele, wie wir sp�ter erfahren haben, sein Leben nicht an gro�en Talmudfolianten beschlossen.

Die Lilienthalsche Bewegung hatte eben selbst in den orthodoxen Kreisen des niederen, j�dischen Volkes tiefe Spuren hinterlassen, und die Jugend auf neue Bahnen gelenkt. Schon nach einem Dezennium sah man die meisten Kinder des niederen Volkes, wie auch der Handwerker auf den Schulb�nken, und die europ�ische Bildung wurde Gemeingut der j�dischen Bev�lkerung. Die gemeinsame Bildung bewirkte eine Verschmelzung, eine Gleichstellung von Patriziern und niederen Leuten. Der Fachmann, der Arzt, der Advokat usw. trat an die Stelle des traditionellen Mijuches (Aristokratie).

Indes h�rte das althergebrachte Studium des Talmuds nicht auf, es wurde nur in ganz anderer Weise hochgesch�tzt; und Ende der sechziger Jahre fand ich in demselben Lande die fr�her geschilderten drei Bochurim von ganz anderem Aussehen. Ihr Aeu�eres lie� Ende der sechziger Jahre wenig zu w�nschen �brig. Ein jeder dieser Bochurim konnte bereits russisch lesen und schreiben, hatte einen Begriff von der Weltgeschichte. Aber er blieb seiner alten Religion treu und hatte volles Vertrauen zu Gott, da� eine bessere Zeit f�r sein Volk kommen werde. Aus der Mitte dieses lernenden Proletariats wuchsen die Rabbiner f�r die kleinen litauischen St�dtchen heraus, sowie die Dajanim (Volksrichter) und die More horoes (Gesetzeskundigen), welche �ber Trefe und Koscher und [141] rituell-hygienische Fragen zu entscheiden hatten, ferner die Magidim (Volksprediger), die Schochtim (Vieh- und Gefl�gelsch�chter), die Chasonim (Kantoren) und endlich die Batlonim, arme Talmudisten jeden Alters, welche man bei frohen oder traurigen Ereignissen Psalmen, Hymnen oder Mischnajis aus dem Talmud rezitieren oder bei einem Toten Tag und Nacht lesen l�sst.

Aus einem Orembocher wurde zumeist ein Melamed, der aber vorher noch als Oberbehelfer in einem Cheder (Schule f�r kleine Kinder) einige Jahre als Repetitor fungieren mu�te.

Von allen diesen Funktion�ren sonderte sich ein kleiner Bruchteil, der sich Pruschim (Abgesonderte) nannte, junge und alte M�nner, deren einziger Lebenszweck war, sich ungest�rt mit Leib und Seele den Talmudstudien hinzugeben. Sie verbrachten, getrennt von Weib und Kind — ihrer Heimat und der Welt fern — ihr ganzes Leben damit, alle Feinheiten dieser Lehre, alle Spitzfindigkeiten der Scholastik zu ergr�nden und mit anderen �ber die verschiedenen Auslegungen zu diskutieren. Diese Asketen lebten im Kr�hwinkel Eschischok im Wilnaer Gouvernement lediglich von der Mildt�tigkeit der B�rger, vornehmlich von der G�te der braven Frauen, die ihnen Speis und Trank in die Lehrh�user schickten, was sie als heilige Pflicht und als gottgef�lliges Werk betrachteten. Eine solche Frau besa� kaum 50 Rubel im Verm�gen, womit sie Handel trieb, und ihre Kinder wie ihren Mann ern�hrte, der gleichfalls Tag und Nacht dem Talmudstudium als dem einzigen Zwecke seines Lebens opferte. Das m�chtige Wort Talmud-Thora, d. h. die Lehre des Talmuds bef�rdern, �lernen�, stand damals bei dem ganzen j�dischen Volke, wie heute leider nur noch bei einem sehr, sehr geringen Teil, auf der gleichen Stufe mit den eigenen, wirtschaftlichen Sorgen.

[142]

Der Typus des Wanderbochers bot freilich das st�rkste Interesse. Er hatte das Gebl�t des Famulus Wagner: stets d�rstete er danach, Neues zu lernen. Solch ein Wanderbocher pflegte, notd�rftig bekleidet, zu Fu� von einer Kartzma (Herberge) zur anderen auf der gro�en Landstra�e zu gehen, in jener guten alten Zeit der 40er und 50er Jahre, ehe es Eisenbahnen in Ru�land gab. Manchmal gelang es ihm, sich auf eine �Baued� (ein- oder zweisp�nniges Fuhrwerk, das von einer �ber Reifen gespannten Leinwand bedeckt war) �heraufzuchappen�, wo der j�dische Fuhrmann ihm willig auf dem Bock die H�lfte seines Platzes einr�umte. In der Baued selbst, unter der Leinwanddecke, befand sich ein sehr gem�tliches Publikum jeglichen Alters, Standes und Stammes. Das Fuhrwerk bewegte sich langsam vorw�rts, da die hungrigen, �berm�deten Pferde nur schwach ziehen konnten. Die Passagiere hatten daher Zeit, gem�tlich zu plaudern, und der halberfrorene Wanderbocher h�rte diese wahren und erdichteten Erz�hlungen mit gespannter Aufmerksamkeit an und nahm alles in sich auf. Wieviel Romantik schlo� eine solche Reise f�r ein junges, empf�ngliches Gem�t in sich! Sie machte gr�blerisch und versonnen.

Aus einem solchen Wanderbocher pflegte sich in der Regel ein Maggid zu entwickeln. In seinen Kinderjahren hatte er in seiner einheimischen Talmud-Thora gelernt, einer j�dischen Volksschule, wie sie von jeder gr��eren Gemeinde unterhalten wurde. Arme Kinder und haupts�chlich Waisen wurden dort schon mit acht Jahren aufgenommen, um Unterricht in der hebr�ischen Sprache, im Beten und in der heiligen Schrift zu erhalten. Aus dieser Schule entsprangen die oben geschilderten drei Arten Bocherim. In seinen J�nglingsjahren begann so [143] mancher das Wanderleben. Nachdem er als Orembocher den Unterricht schon im Talmudstudium erhalten hatte, zog er in die n�chste Jeschiwa, wo f�r seine weitere Ausbildung, f�r Wohnung und Kleidung unentgeltlich gesorgt war. Denn auch f�r diese Anstalten spendeten die Juden aus allen Gegenden viel Geld. Er blieb solange da, als er wollte. Niemand hinderte ihn aber, eine zweite Lehranstalt aufzusuchen, wenn es ihn dr�ngte, noch andere Lehrer zu h�ren, andere Satzungen und Kommentare kennen zu lernen, denn unerforschlich wie der Meeresgrund ist die talmudische Wissenschaft, meinte der Jude von damals. An dem neuen Orte lernte er andere Menschen, Sitten und Gebr�uche kennen. Der Weg dahin war weder sehr weit, noch sehr beschwerlich, w�hrend des Sommers konnte er ja notd�rftig bekleidet und barfu� gehen, wenn ihm nicht manchmal ein gl�cklicher Zufall in Gestalt eines Fuhrmanns zu Hilfe kam und ihn zu einer Herberge brachte. Da erholte er sich bei dem j�dischen Arendar (P�chter) im Dorfe einige Zeit, h�rte von den verschiedenen Besuchern der Sch�nke abenteuerliche Geschichten, Wahrheit und Dichtung, erz�hlen und zog, um manche Erfahrung reicher, von dannen.

Diese drei Arten von Bochurim kann man mit Recht als die Ritter vom Geiste betrachten. Ihr Lebelang hatten sie mit Not, Hunger zu k�mpfen und — sie unterlagen nicht.

Die tiefe Kenntnis des Volkslebens, seiner Not und seiner Freuden, seiner Sitten und Gewohnheiten, vor allem seines Vorstellungskreises praedestinierten den Wanderbocher gerade zu einem Maggid, und sie erkl�rt auch, weshalb der Volksprediger von dem niederen, j�dischen Volk verehrt, ja geliebt wird, und so machtvollen Einflu� aus�ben kann.

Unter ihnen gab es hervorragende Erscheinungen, wie [144] z. B. Ende der 40er Jahre der Minsker Magid R. N. K., und der 70er Jahre der Kelmener Magid R. N. Der erstere war ein hervorragender Talmudist und von strengstem Charakter und hielt jedem die Wahrheit vor; der letztere war milder, weltlicher.

Aber sie blieben Wandersleute, die jeden Sabbath in einer anderen Stadt predigten. Sie waren nicht reich und meist auf die Gastfreundschaft angewiesen. Not brauchten sie da nicht zu leiden, ist es doch eines der wichtigsten Grunds�tze, da� jeder wohlhabende Balhabajis (Hausherr) an einem Sabbathtisch einen Gast zu sich lade. Diese G�ste fanden sich gew�hnlich Freitag, am Vorabend des Sabbathfestes ein, an dem alle Arbeit und auch das Wandern ruht. Die M��igkeit im Essen und Trinken w�hrend der ganzen Woche weicht �ppigem Geniessen. Da ein solcher Gast eilig und sp�t abends in einem Ort, wo Juden wohnen, eintrifft und keine Zeit hat, nach einer Herberge zu suchen, so richtet er seine ersten Schritte zur Synagoge, um zu beten. Die Pflicht des Schammes (Synagogendieners) ist es, diese wegen ihrer Neuigkeiten gern gesehenen Fremdlinge f�r den Sabbath den B�rgern der Stadt zuzuteilen. Nun geschah es einmal, da� der erw�hnte Minsker Magid in ein St�dtchen kam, um da am Sonnabend zu darschenen (predigen). Er traf am Vorabend, Freitag sp�t ein, nahm den Weg zur Synagoge, wo die j�dische Gemeinde bereits sabbathlich ruhig und reinlich — manche noch mit nassem Haar von der Badestube her — zum Beten versammelt war. Der Magid betete mit und war fest �berzeugt, da� nach Beendigung des Gottesdienstes auch er ein Pl�t[S] (Einladung) erhalten w�rde. Aber wie gro� war sein Erstaunen, ja sein Schreck, als er bemerkte, da� alle anderen Fremdlinge unter die B�rger verteilt wurden und nur er �bersehen worden war.

[145]

Alle B�rger standen bereits eng aneinander gedr�ckt wie Schafe an der kleinen, schmalen Ausgangst�r. Er sah sich bald ganz allein im Bethaus, ohne Nahrung und ohne Kidusch. Seine verzweifelte Lage fl��te ihm Mut ein. Er sprang hurtig auf die �Bieme� (die in der Synagoge befindliche Erh�hung), klopfte energisch mit der Faust auf ein gro�es Gebetbuch und rief laut: �Raboissai (Meine Herrschaften)! Wartet, bleibt, ich will euch etwas Interessantes erz�hlen!� Im Nu wandten sich die K�pfe dem Sprecher zu — sie hatten ihn fr�her nicht bemerkt. �Ich bin ein Oirach� (Gast), fing er an, �vor Abend hier eingetroffen und wie ich sehe, sind die hiesigen Hunde gastfreundlicher als die hiesigen Balbatim (Hausherren)!�

Diese Worte hatten nat�rlich die gew�nschte Wirkung. Alle waren im ersten Augenblick stumm vor Erstaunen. Und er fuhr fort: �Ich werde euch erz�hlen, h�ret: Als ich mich sp�t vor Abend dem St�dtchen n�herte, empfingen mich viele Hunde mit lebhaftem Gebell. Jeder ri� mich zu sich, jeder wollte mich f�r sich allein haben. Hier aber sind viel mehr Menschen als dort Hunde versammelt, und niemand f�llt es ein, mich zu sich zu laden, geschweige, sich um mich zu rei�en.� Diese Worte brachten die Menge in Wut, und einer von der Versammlung trat hervor und schrie: �Wer ist dieser Mensch, da� er sich untersteht, uns mit Hunden zu vergleichen? Woher bist du gekommen, Elender?� Ein reich gef�lltes Ma� an nicht gerade duftigen Liebesworten ergo� sich �ber den Magid. Der aber blieb die Antwort auch nicht schuldig, er rief: �Wartet, wartet nur ein wenig, h�rt nur bis zu Ende, ich bitte sehr.� Alle wurden wieder still. �Ich bin noch nicht zu Ende. Als die Zudringlichkeit der Hunde mir ein wenig unbequem wurde, beugte ich mich zur Erde, griff nach einem Stein und schleuderte [146] ihn mitten unter die Meute, das wirkte im ersten Augenblick sehr gut. Der Eifer, mich zu besitzen, wich, und die Hunde suchten das Weite. Nur wu�te ich anfangs nicht, welche von ihnen mein Stein getroffen h�tte, bald aber sah und h�rte ich, wie ein Hund rasch, aber auf einem Fu� hinkend und j�mmerlich heulend, mit der �brigen Gesellschaft die Flucht ergriff. Nun begriff ich, da� mein Stein ihn getroffen hatte.�

Diese Worte regten die Gemeinde noch mehr auf. Man drang in den Redner, seinen Namen zu nennen, und die Versammelten waren nicht wenig besch�mt, in ihm den ber�hmten Magid zu erkennen und suchten durch freundliche, ehrerbietige Behandlung alles gut zu machen. Am Sonnabend nachmittag predigte er in der Synagoge vor der ganzen, versammelten Gemeinde, welche mit Vergn�gen und Andacht der Rede dieses frommen Mannes lauschte. Er tadelte so manches, verk�ndete f�r manche S�nde die H�lle, und das Volk weinte. Zugleich versprach er f�r die guten Taten das Paradies in dieser Welt, wie im k�nftigen Leben, und das Volk jubelte, da er mit so gro�em Wissen die Herzen r�hrte und die edelsten Regungen hervorzurufen verstand. Er mahnte auch in freundlicher Absicht zur Ehrlichkeit im Handel, riet, gutes Ma� und Gewicht zu geben, empfahl den Handwerkern Flei�, tadelte dagegen Faulheit und Hochmut, wobei er sehr gute Volkswitze erz�hlte, und forderte das Volk auf, den Sabbath zu ehren, Gott f�r diese Gabe zu danken, da an diesem Tage jeder Jude frei von Sorge ausruhen, sich dem geistigen Genu� ergeben, sich Gott, seinem Sch�pfer, n�hern k�nne, was er die ganze Woche �ber durch Arbeit und Sorge zu tun verhindert sei....

Sonntag verreiste dieser verehrte, popul�re Prediger, von vielen Bewohnern des St�dtchens ein St�ck Weges begleitet.


[147]

In der Neustadt.

I.Es war ein sch�nes Bild ...

Es war ein sch�nes Bild, als Kaiser Nicolaus I. inmitten einer gl�nzenden Suite stand. Seine von Gesundheit strotzende, hohe Figur ragte �ber seine Umgebung hoch hervor. Seine milit�rische Paradeuniform, der fest anliegende Frack mit hochrotem Tuchbesatz und Manschetten, die Brust mit vielen Ordenssternen dekoriert, die massiven Epaulettes, die blaue, breite Sch�rpe quer �ber der Brust, das Portepee mit dem Degen an der linken Seite, der quer auf dem Kopf sitzende Dreispitzhut mit dem wuchtigen, wei�en Federbusch verlieh der martialischen Gestalt ein ganz au�ergew�hnliches Aussehen. Sein Gesicht mit den regelm��igen Z�gen, dem glattrasierten Doppelkinn, mit dem vollen, blonden Backenbart dr�ckte eine wohlwollende, ja eine freudige Erregung aus, auch die energisch blitzenden, grauen Augen leuchteten, w�hrend die stramme milit�rische Haltung das hohe Selbstbewu�tsein ausdr�ckte. Zu seiner Rechten stand der Kronprinz Alexander II., der damals, im Jahre 1835, noch ein junger Mann war. Er war von hohem, massigen K�rperbau und hatte im Gegensatz zu Kaiser Nicolaus I., der lichtblondes Kopf- und Barthaar hatte, rabenschwarzes Haar, einen schmalen schwarzen Lippenbart und Augen von gleicher Farbe. Sein ganzes Wesen umleuchteten Milde und Freundlichkeit; keine Spur von dem Selbstbewu�tsein seines kaiserlichen Vaters! — Der Kronprinz hatte schon damals, wie ich mich noch jetzt gut erinnern [148] kann, alle Herzen der umstehenden Menschenmenge f�r sich gewonnen. Und diese Sympathie rechtfertigte er 1861 als Befreier der Leibeigenen.

Umgeben von zahlreichen Gener�len, Adjutanten, Ingenieuren, standen die F�rsten auf dem sogenannten Tatarischen Berge. Der glatte, gr�ne Rasen lag wie ein Samtteppich vor ihren F��en; und die dunkelblaue Himmelskuppel �berw�lbte dieses imposante Bild. Die Sonne �bergo� es mit einem Meer von Licht, das sich in den Brillantenorden der goldgestickten Beamtenuniformen in tausend Regenbogenfarben brach.

Dieses gl�nzende Schauspiel erschien uns Kindern wie ein Luftgebilde, da wir neben unserem elterlichen Hause, etwa hundert Faden von dem obengenannten Berge entfernt, standen. — Der Kaiser Nikolaus I. zeigte mit seiner rechten Hand nach verschiedenen Richtungen. Aus den eifrigen Debatten der Herrschaften konnte die umstehende Menge ahnen, da� eine wichtige Frage besprochen wurde: bald wurde ein General, bald ein Adjutant vom Berge heruntergeschickt, der unser Haus beschaute und musterte, die gr�ne Wiese, die um Haus und Garten lag, mit einem Saschen (russisches Ma� = 1 Faden) ma� und dann zum Rapport auf den Berg zur�ckeilte.

Die gaffende Volksmenge ersch�pfte sich in tausend Vermutungen und gab jeder Handbewegung des Kaisers tausend Bedeutungen, — nur nicht die richtige. Endlich erfuhr man, da� das ganze Terrain der alten Stadt Brest f�r eine Festung erster Klasse von Kaiser Nicolaus I. bestimmt worden war! Die ganze Tragweite dieses Projektes sollte jedem Stadtb�rger bald klar werden.

Wenige Monate nach der oben geschilderten Begebenheit [149] wurden die Hausbesitzer der Stadt Brest-Litauen durch einen kaiserlichen Ukas benachrichtigt, da� alle durch eine eigens zu diesem Zwecke eingesetzte Kommission ihre H�user absch�tzen lassen sollten. Die Regierung w�rde eine Abstandsumme zahlen und au�erdem ein Terrain vier Werst, das ist 1,5-2 englische Meilen, von der Altstadt entfernt zur Verf�gung stellen. Die Nachricht wurde mit Schrecken aufgenommen. Eine gewisse Ahnung schlich sich in die Gem�ter der B�rger, da� ihr Ruin bevorstand! — F�r meine Eltern wurde dieses Projekt zur Katastrophe!... Denn nicht nur unser pr�chtiges Haus, sondern auch die gro�e Ziegelfabrik, die zwei Werst hinter der Stadt stand, sollte niedergerissen werden. Diese Ziegelei warf jeden Sommer gro�e Summen ab, da mein Vater die Lieferung vieler Millionen Ziegelsteine f�r die schon begonnenen, gro�en Kasernenbauten �bernommen hatte. — Nur schwer konnte mein Vater den ersten Schreck �ber den neuen Befehl verwinden. Aber er beruhigte sich wie die �brigen Hausbesitzer der Stadt bei der kaiserlichen Versicherung, da� die Regierung f�r alle Sch�den aufkommen w�rde. — Die Absch�tzungskommission, welche die Regierung einsetzte, sollte den Wert aller H�user der Stadt Brest-Litowsk bestimmen, und die Regierung versprach sehr ehrlich und gut zu bezahlen. — Da schickte der Teufel einen seiner H�llenboten in Gestalt eines Winkeladvokaten. Jude von Geburt, war er sehr bef�higt, Prozesse zu f�hren, Bittschriften in russischer Sprache abzufassen, was in den drei�iger Jahren des vorigen Jahrhunderts in dem noch vorwiegend polnischen Litauen nur wenige Begnadete vermochten. Bei diesen guten Eigenschaften aber war dieser Mensch ein Ausbund der gemeinsten Gewissenlosigkeit. Dieses Subjekt wu�te bald das Vertrauen der gesamten [150] Hausbesitzer, wie auch der Schatzkommission zu gewinnen, und alle beeilten sich, ihr Hab und Gut, das zumeist in dem Besitz ihres Hauses bestand, in seine H�nde zu legen, damit er ihre Interessen vor der Kommission vertreten sollte. — Es dauerte jedoch nicht lange, so entzweite er sich mit beiden Parteien und denunzierte bei einer h�heren Instanz, da� alle Sch�tzungen der Kommission falsch seien! Da� in dieser Denunziation ein Kern Wahrheit lag, bezweifle ich nicht. Die Interessen meiner armen Eltern aber wurden durch diesen Racheakt unschuldigerweise schwer getroffen. Da mein Vater seine Sache vor der Absch�tzungskommission selbst vertrat, und der Winkeladvokat nicht auf seine Kosten kam, so wurde auch mein Vater ein Opfer der Angebereien. Es dauerte nicht mehr lange, als von einer h�heren Regierungsinstanz der Befehl erging, die Absch�tzung der H�user einzustellen, bis eine neue Untersuchungskommission kommen w�rde! Da erhob sich ein allgemeines Jammern! Ein jeder Hausbesitzer wu�te nun schon, da� er seine Besitzung verlieren w�rde. Und jetzt h�rten wir Kinder kein anderes Gespr�ch mehr im Hause, sei es unter den Familienmitgliedern oder mit G�sten, als �ber das bevorstehende Niederrei�en unseres pr�chtigen Hauses und der Ziegelei. Und jedes Wort war getr�nkt mit der Wut �ber den verruchten Winkeladvokaten David, �den Schwarzen�, der �ber die Stadt Brest-Litauen so schwere Not heraufbeschworen hatte. Infolge der Denunziation von Rosenbaum (das war sein Familienname) kam nach kurzer Zeit ein zweiter Befehl, da� jeder Hausbesitzer sein eigenes Haus auf eigene Kosten demolieren sollte, um noch schneller Platz zu schaffen, andernfalls w�rde er zu einer Geldstrafe verurteilt. Man setzte einen sehr nahen Termin an, bis zu dem die H�user [151] niedergerissen sein mu�ten. Die Zeit reichte kaum aus, eine Wohnung in der Neustadt zu beschaffen. Von Neubauten konnte nat�rlich nicht mehr die Rede sein. Die Reichen waren nicht weniger ratlos als die Armen. Wer bares Geld auftreiben konnte, beeilte sich und zahlte das Dreifache, um sich eine neue Wohnung zu mieten. Aber ihrer waren nur ein Vierteil der gro�en Zahl Einwohner der alten Stadt Brest-Litauen; die gro�e Masse blieb tats�chlich ohne Obdach!

Die Beratungen �ber den Kauf eines Hauses in der Neustadt Brest-Litauen und der bevorstehende Umzug gaben uns Kindern viele Anregungen und Besch�ftigung. Mich fror bei dem Gedanken, da� ich mich bald von meinen getreuen Gespielinnen im Cheder und in unserer Nachbarschaft aus der Vorstadt (Samuchawicz) trennen m�sse, mit denen wir so traulich gespielt, und da� ich nun die trauten Winkel in ihren H�usern und dem unsrigen verlassen sollte. Ich hatte so stark wie jeder Erwachsene in unserem Hause das Gef�hl, da� das ganze Leben meiner geliebten Eltern eine totale Umw�lzung erfahren m�sse. Wir hofften jedoch, da�, wenn die Untersuchung die Verlogenheit der Denunziation erwiese, alle Sch�den ersetzt w�rden.

Allein diese Untersuchung dauerte nicht mehr und nicht weniger als f�nfzehn Jahre!... Zeit genug, einen Teil der Hausbesitzer aus ihren eigenen Wohnungen zu verjagen, zu berauben und ins gr��te Elend zu st�rzen!

Viele wurden zu Bettlern, viele wanderten aus!

Noch jetzt steht mir eine herzzerrei�ende Szene jener traurigen Zeiten vor Augen, die mich mit Schauder erf�llt! Es war an einem Herbsttage jenes schrecklichen Jahres 1836, als der bew�lkte Himmel wie zerschmolzenes Blei �ber der Erde und �ber den Seelen der Stadtb�rger von Brest-Litauen hing. [152] Der Nordwind blies kalt und jagte den Stra�enstaub, der die gelben, abgefallenen Bl�tter der B�ume wirbelnd vor sich her trieb, den Fu�g�ngern in die Augen. Ich befand mich gerade mit meiner Mutter auf dem Heimwege nach der Vorstadt (Samuchawicz). Wir mu�ten die kleinen, armseligen H�uschen der Nachbarschaft passieren. Da h�rten wir ein Durcheinandersprechen von J�disch und Russisch, ein Zanken in Russisch, ein Schimpfen in j�dischem Jargon und ein lautes Weinen. Meine Mutter trat, mich an der Hand f�hrend, n�her. Es war eine ergreifende Trag�die, die sich vor uns abspielte. Der festgesetzte Termin f�r die R�umung war abgelaufen. Da aber die Einwohner des Hauses noch kein Obdach gefunden hatten, so glaubten die Ungl�cklichen, da� sie noch in ihrem alten Heim w�rden bleiben k�nnen. Aber sie irrten sich. Die Polizei schickte ihre Beamten mit dem Befehl, auf die R�umung zu dr�ngen und im Falle des Widerstandes die Hausbesitzer buchst�blich aus ihren H�usern zu verjagen! Dieser harte Befehl wurde gerade ausgef�hrt, als wir in das H�uschen eintraten. Die Wirtin, eine kranke, abgeh�rmte, magere Frau mit verzerrtem Gesicht packte ihr Hab und Gut in einen alten, gr�n angestrichenen Kasten. Ihr hochbetagter Mann hielt das kleinste Kind auf seinem Arm. Neben ihm standen noch zwei Kinder, ein Junge von etwa neun Jahren und ein M�dchen von sechs Jahren, deren H�ndchen und nackte F��e blaurot gefroren zitterten, denn die d�rren Leiber waren nur mit Lumpen bedeckt. Auf dem Tische lag ein halber Laib Brot. Im Ofen brannten, vielmehr r�ucherten, einige Holzscheite, auf denen das armselige Mahl kochte. Die Familie wollte gerade essen, da erschien der H�llenbote und erkl�rte, da� hier f�r [153] die Einwohner kein Raum mehr sei. Ja selbst diesen einen Tag sollten sie nicht wagen, hier zu bleiben.

Da war keine Zeit mehr f�r das Mahl, und rasch ging es an das Zusammenpacken und Zusammenraffen! Selbst in der �rmsten Wirtschaft haben so manche St�cke, so lange sie von ihrem Fleckchen nicht entfernt werden, noch ihren Wert. Wenn man sie aber von ihrem Orte r�ckt, zerf�llt, zerbricht das abgenutzte Zeug. Und wohin sollten diese Armen ihre armselige Habe bringen, wenn sie noch kein Obdach hatten? Waren sie doch jetzt kaum imstande, eine kleine Komerne (Schlafstelle) zu mieten.

Die Frau f�llte unter Seufzern, Klagen, Schreien und Fluchen ihren Kasten zur H�lfte mit ihren Armseligkeiten und nahm dann die Kleine vom Arm ihres Mannes. Der Alte aber begann nun, seine Sch�tze einzupacken — die gro�en und kleinen Folianten des Talmuds, die Gebetb�cher, die damals jeder Jude, mochte er noch so arm sein, besa� — und dieser Mann war ein Hausbesitzer! Bald kam die Chanukalampe an die Reihe, die vier messingnen Sabbathleuchter der Frau, der H�ngeleuchter, die Schabbeskleider, der lange Kaftan, der seidene G�rtel und der Streimel (Pelzm�tze). Das �brige Hausger�t, das Wasserfa�, der wurmstichige E�tisch, h�lzerne B�nke, mehrere Holzstangen usw. wurden auf die Diele geworfen, und die Armen stolperten einmal �ber das andere dar�ber. Es war furchtbar! — Meine Mutter stand mit mir an der T�r und sprach diesen Ungl�cklichen Mut und Gottvertrauen zu und suchte auch die Wut des Polizisten zu d�mpfen, der dann auch bald fortging.

Meine Mutter erinnerte an die Bilder, die, im Trubel vergessen, an der Wand hingen. Da waren Moses mit den heiligen [154] Tafeln auf dem Berge Sinai, Jacob mit seinen zw�lf S�hnen, die zw�lf St�mme des j�dischen Volkes, und ein Bild der Menorah, jenes siebenarmigen Leuchters, der im Tempel zu Jerusalem stand. �Misrach� war dem Bilde aufgedruckt (auf deutsch Osten), denn nach Osten gerichtet stand jeder Jude beim Gebet. In �hnlichen Bildern suchte der damalige Jude seine Tradition, seine einstige Glanzperiode seiner Nachkommenschaft zu erhalten! — Der Wirt erhob bei dieser Ermahnung seine Augen, wollte die Bilder herunternehmen, aber die Wirtin schrie mit tr�nenerstickter Stimme zu ihm hin�ber: �Sollen sie hier bleiben, diese Bilder!! Wozu haben wir sie schon n�tig in der Komerne? Es ist aus mit uns! Ich bin nicht mehr Wirtin; du nicht mehr Wirt; wir haben kein eigenes Winkelchen mehr; sollen auch diese Bilder zum Teufel gehen, wie unser Hab und Gut! O Gott, warum hast du mich diesen Churben (Zerst�rung) erleben lassen!�

Der Alte packte geduldig weiter. Und als er seine traurige Arbeit zu Ende gebracht hatte, holte er einen Bauernwagen und lud seine Habe auf: den gr�ngestrichenen Kasten, der das wichtigste Ger�t in sich barg, die langen h�lzernen Stangen und das Bettzeug, worin man die drei vor K�lte zitternden Kinder bettete. Eine zerlumpte, wattierte Decke wurde �ber den Plunder geworfen. — Der Mann, als der st�rkere Teil, hatte noch den Mut, sich in den w�sten R�umen umzuschauen, fand aber nichts mehr, das fortzubringen sich gelohnt h�tte; dann hob er mit Fassung und beherzt die Fenster, die T�ren und Fensterl�den aus den Angeln und trug sie auf den Wagen. �Daf�r werde ich doch einiges Geld bekommen�, sagte er.

Verlassen stand das Haus ohne T�ren, ohne Fenster da — wie eine Witwe. Ein Anblick, noch viel packender als der einer [155] Brandst�tte. Die Wolken schauen hoch hinein, und der Herbstwind jagt heulend durch die toten R�ume.

Und langsam f�hrte �ber die ungepflasterte Landstra�e das bis zu den R�dern in den Kot eingesunkene Gef�hrt die gebrochenen, verzweifelten Insassen in eine hoffnungslose Zukunft nach der Neustadt.

Meine Mutter rief den Armen ein inniges �Gotthelf� auf den Weg. Die Wirtin gab ein �Seid gesund� zur�ck. Der Mann weinte. Die Kinder aber begleiteten mit lautem Geschrei diese Szene, keiner dachte daran, sie zu beruhigen, denn die Trauer dieses Momentes umschn�rte alles Sinnen. Auch ich f�hlte, da� hier sich ein furchtbares Geschick vollzog, und Tr�ne um Tr�ne quoll mir aus den Augen.

Daheim erz�hlte meine Mutter die eben erlebte Szene, und Schwermut legte sich auf alle Hausgenossen. Ein jeder hatte das schmerzhafte Empfinden, da� uns bald, vielleicht schon morgen, ein �hnliches Schicksal kommen k�nnte.

Meine verheirateten Schwestern wu�ten wohl, da� sie fernerhin nicht mit den Eltern zusammen wohnen konnten, da der Vater sein ganzes Verm�gen mit den liegenden G�tern verlieren w�rde. Sie mu�ten daran denken, sich selbst Wohnungen einzurichten. Eine neue Aufgabe, die ihnen bis jetzt fremd und unbekannt war, trotzdem eine jede schon eine Familie, einige Kinder hatte. So sorgenlos, so gem�tlich war hier im Elternhause das Leben mit Mann und Kinderchen. Und nun sollte alles anders werden! — Die Sorge legte sich wie zentnerschwerer Stein auf aller Herzen, obwohl die Beh�rde im Vergleich zu den anderen Stadtb�rgern meinen Vater in dieser schrecklichen Zeit ohne jede Strenge behandelte. Von Zeit zu Zeit nur fragte man ihn, wann er nach der Neustadt ziehen w�rde, worauf er nur [156] sagen konnte, da� er noch kein Haus gekauft h�tte. Aber auf die Dauer konnten uns die Beamten selbst beim besten Willen nicht in der Altstadt wohnen lassen.

Eines Morgens kam mein Vater aus der Neustadt und erkl�rte, er wolle vorl�ufig nur eine Wohnung mieten. Er hatte auch eine gefunden; die Mutter solle sie sich ansehen. Wenn sie ihr gefiele, so k�nnten wir schon in kurzer Zeit nach der Neustadt �bersiedeln. Ich h�rte mit gr��tem Interesse zu. Trotz der traurigen Szenen bei der �bersiedelung unserer Nachbarn empfand ich doch eine gewisse, frohe Erregung bei dem Gedanken an die gro�en, bevorstehenden Ver�nderungen. Wo die Erwachsenen schaudernd an die M�he und Unbequemlichkeit eines Umzuges denken, hat es f�r Kinder besonderen Reiz und Behagen, in eine neue Wohnung zu ziehen. Vor den leeren R�umen m�chte der Gro�e fliehen, indessen jedes Kind mit Lust darin umherspringt und lustig auf das Echo seiner lauten Worte lauscht.

Meine Mutter begab sich mit einer der �lteren T�chter auf die Neustadt und besah die Wohnung. Sie mu�te ihr gefallen.

Und bald ging es ans Packen und Zusammenr�umen. Viele St�cke unseres reichen Mobiliars mu�ten verkauft werden, da die kleinen R�ume in der Neustadt sie nicht alle h�tten aufnehmen k�nnen. An einem Dienstag sollte der Umzug nach der Neustadt vor sich gehen. Zuerst sollten meine verheirateten Schwestern mit ihren Familien �bersiedeln.

Der festgesetzte Tag kam heran. Wir fr�hst�ckten noch alle beisammen — zum letzten Male! — am elterlichen Familientische. Alle schwiegen beredt, �bermannt von Gef�hlen, die sich durch Worte schwer ausdr�cken lassen! Die Trauer dieses Momentes war inhaltsreich. Die neue Situation war schwerer [157] als ein Feuerschaden zu ertragen. Hier waltet die Wucht der Elemente — die Hand, die wir anbeten, auch wenn sie zerst�rt! Aber Haus und Hof in dem besten Zustande zu verlassen und aus trauter Heimlichkeit der Ungewi�heit einer dunkeln Zukunft entgegen zu gehen, ist die Qual aller Qualen!...

Nach dem Fr�hst�ck wurden die Wagen aufgeladen mit den M�beln meiner Schwestern. Meine �ltere Schwester, Chenje Malke G�nzburg, wurde behutsam auf die Stra�e gef�hrt, da sie erst vor kurzem ein T�chterchen geboren hatte. Das kleine, zarte Wesen wurde in Polsterchen, Deckchen eingebettet und in den Wagen gebracht, wo noch die zwei �lteren Kinderchen sa�en. Als w�re es gestern gewesen, steht mir das Bild vor Augen, wie die alte Kinderw�rterin Raschke das Kindchen in den leeren Zimmern aus der Wiege hob, um es meiner Schwester in den Wagen zu bringen; viele hei�e Tr�nen liefen ihr die gerunzelten Wangen herunter....

Von diesem Tage an h�rte das patriarchalische Leben im Hause meiner geliebten Eltern auf! Es l�ste sich ein Glied des Hauses nach dem anderen ab.... Es kamen weit andere Zeiten, als wir bis jetzt gelebt hatten und niemals wieder kamen wir Kinder so alle unter des Vaters unumschr�nkter Leitung zusammen.


In jenen Tagen war es auch, da der j�dische Friedhof nach der Neustadt �berf�hrt wurde. Mit Best�rzung und Entsetzen vernahm die j�dische Gemeinde in Brest, da� die Erde, in der viele Tausend Menschengebeine seit Jahrhunderten ruhten, f�r die projektierten Festungsbauten verwendet und da� der alte Gottesacker mit seinen uralten Gedenksteinen demoliert werden sollte. War die Zerst�rung der Altstadt von Brest ein finanzieller Ruin, so wirkte diese Kunde von der Entweihung [158] der Gr�ber geradezu vernichtend auf die Gem�ter. Vergebens waren alle Bem�hungen, Bittschriften, das Flehen, man m�ge die Toten ruhen lassen. Umsonst, die Beh�rde blieb unerbittlich wie das Schicksal und befahl die R�umung des Friedhofes.

Und es geschah.

Die ganze j�dische Bev�lkerung mit dem Rabbiner, Reb L. Katzenellenbogen an der Spitze, vermehrte ihre Gebete und die Fasttage. Es half alles nichts. Man mu�te sich schlie�lich dem grausamen Befehl f�gen. Es wurde ein Tag festgesetzt, an dem dieses noch nie erlebte Leichenbeg�ngnis von vielen Tausenden vorsichgehen sollte. Die ganze Judengemeinde, jung und alt, reich und arm, fastete an diesem Tage. Jeder wollte an der schweren Arbeit teilnehmen. Nachdem die M�nner, auch viele Frauen, in der Synagoge in der fr�hen Morgenstunde — es war an einem Montag, wie ich mich entsinne — mit zerknirschtem Herzen gebetet hatten und der Abschnitt in der heiligen Rolle vorgelesen war, begab sich die Gemeinde auf den alten Gottesacker und verrichtete auch da Gebete. Man las Psalmen, bat die Toten um Vergebung, wie es sonst bei Bestattungen �blich und ging an das traurige Werk.

Einer der schrecklichsten Fl�che bei den Juden lautete: �Die Erde soll deine Gebeine herauswerfen!� Und so sah man den furchtbaren Fluch an diesen Gebeinen sich vollziehen!...

Schon einige Tage vorher hatte man S�ckchen aus grauer Leinwand angefertigt, die dazu bestimmt waren, die �berreste der Toten aufzunehmen. Und diese kleinen S�ckchen gen�gten vollkommen, den ganzen Menschen zu bergen, der einst im Leben so stolz, so selbstbewu�t, so uners�ttlich, so unerm�dlich im W�nschen und Begehren war — das alles wurde nun zu einem [159] H�uflein Staub, kaum eine Last f�r eine Hand.

Die ganze Gemeinde beteiligte sich daran, den Inhalt der aufgeschaufelten Gr�ber in die S�ckchen zu sch�tten, mit einem dicken Bindfaden zu verschn�ren und dieselben auf die bereitstehenden Wagen zu schichten. Hier gab es keinen Unterschied, Rang und gesellschaftliche Stellung kamen nicht in Betracht. Alle waren gleich. Die ganze Volksmenge war bei dieser Handlung tief ergriffen. Hier trauerte nicht eine Familie um einen Angeh�rigen, sondern eine ganze Bev�lkerung um ihre gesch�ndeten Toten.

Endlich waren alle Gr�ber ausgehoben, viele Wagen mit dem leichten und doch zentnerschweren Inhalt beladen und mit schwarzen T�chern bedeckt. Der Kantor stimmte ein Gebet an, sagte Kadisch (das �bliche Totengebet), und der gro�e Kondukt setzte sich in Bewegung. Viele folgten dem Zuge den langen Weg von der Altstadt in die Neustadt barfu�. Ein solches Leichenbeg�ngnis war noch nicht dagewesen. Die Regierung hatte Milit�r gestellt als Ehreneskorte, zum Teil vielleicht auch darum, weil unter den ausgegrabenen Leichen sich viele Opfer einer gro�en Epidemie befanden. Die Soldaten schritten mit geschultertem Gewehr dicht neben den Wagen; die B�rgerscharen folgten in tiefem Schweigen.

Auf dem neuangelegten Friedhof, bei dem Dorf Bereswke — sechs Werst von der Altstadt — wurden die S�ckchen mit den Gebeinen derjenigen, auf deren Gr�bern man keine Leichensteine vorgefunden hatte, in Massengr�ber versenkt, w�hrend die �berreste der anderen in einzelnen Gr�bern beerdigt wurden, auf die man die alten Steine wieder setzte. Da kann man noch heute die hebr�ischen Inschriften lesen, die einige Jahrhunderte zur�ckf�hren. Der Grabstein des Rabbiners Abraham Katzenellenbogen lautet in der �bersetzung:

[160]

�Hier ruht der gro�e Rabbi, unser Gaon und Lehrer
Abraham ben David des gewesenen Rabbiners in Brest,
Litauen, gestorben 1742.�

Auf einem anderen Leichenstein liest man:

��ffnet die Tore und lasset den Gerechten eintreten!
Hier ruht der ber�hmte Gaon, der heimgegangene Josef
ben Abraham, sein Andenken sei gesegnet. M�ge seine
Seele im Reiche des Ewig-Lebenden aufgenommen sein!�

Die Jahreszahl ist verwischt. Auf einem anderen Steine steht:

�Hier ruht der au�erordentlich tugendhafte Rabbi und Prediger, unser Lehrer und Leiter, Kiwe's Sohn Moses, verschieden Montag, am Vorabend des Vers�hnungstages 5591 nach Erschaffung der Welt. Er ist hingegangen, wo das Licht seiner Weisheit ewig leuchten wird.... Er spricht zu uns in seinen Werken und lebt nach seinem Tode fort.... Der Duft seiner blumenreichen Sprache ist unverg�nglich.�[T]

Es dunkelte bereits, als die Massen-Beerdigung auf dem neuen Friedhof zu Ende war. Nach dem vollbrachten Werk zerstreute sich die Menge wieder lautlos.

An diesem Abend herrschte in unserem Hause gro�e Trauer. Meine Eltern standen unter dem tiefen Eindruck dieses schweren Tages.

Im Innersten bewegt, waren sie stumm und in sich gekehrt. Es wurde nicht gesprochen, man h�rte keinen Laut. Alle waren mit ihren Gedanken �ber den Tod und die Verg�nglichkeit des irdischen Lebens besch�ftigt.

[161]

Die Stadt Brest konnte an diesem Tage viele Heilige aufz�hlen, die alles Irdische verga�en und dessen Verg�nglichkeit erkannten.

Vielleicht, da� dieser schwere Tag sich l�hmend auf die Schwungkraft meines teuren Vaters legte. Er hat sich eigentlich von dem schweren Schlage, der ihn von seiner Scholle ri�, nie recht erholt.

Nach f�nfzehn Jahren vieler schwerer Prozesse bekam mein Vater von der Regierung eine ansehnliche Summe Geldes f�r seine liegenden G�ter. Aber er war ein alter Mann, seinen Gesch�ften entfremdet und ein rechter Bankdr�cker geworden — ein Gelehrter, dessen T�tigkeit nur in seinem Studierzimmer an Talmudfolianten fruchtbar werden konnte.

Es gab wohl noch mancherlei Auftr�ge f�r den Festungsbau. Aber es war, als w�re der Vater aus seiner Wurzelerde herausgerissen — es wollten keine Fr�chte mehr reifen.


II.Ein Sabbath.

Mit der �bersiedlung von der alten Stadt Brest in Litauen nach der Neustadt nahm das Leben in meinem Elternhause eine ganz andere Form an. W�hrend das alte Heim, vom Gastzimmer bis zur Wagenscheune, vornehm eingerichtet war, waren hier die kleinen R�ume �rmlich. Zwar waren es noch die alten, mit Goldbronze impr�gnierten Mahagoniholzm�bel, die diese kleinen R�ume erf�llten, aber ach, in welchem Zustande! Verblichen, sch�big. Von mancher Garnitur fehlten schon St�cke, mancher Tisch hinkte auf einem Fu�, [162] die Lehnen der St�hle boten keinen sicheren Halt mehr, von den Rahmen der gro�en Spiegel war das Gold abgeritzt. Aber die Wohnung ist immer ein Spiegelbild ihrer Bewohner! Beiden sah man an, da� sie einst freundliche Tage gesehen. Das Material war im Kerne solid und hatte seine guten Dienste geleistet; und h�tte jetzt noch das Schicksal einen g�tigen Blick auf Menschen und M�bel geworfen, so h�tten sie noch den alten Glanz annehmen k�nnen! Aber das Schicksal war unhold f�r lange, lange Zeit.

Jedoch war jene Periode f�r meinen Vater eine der inhaltsreichsten. Sie brachte den Adel seiner Individualit�t zum Vorschein. Er hatte mehr als fr�her Zeit und Gelegenheit, seinen N�chsten mit Rat und Tat beizustehen, sich durch seine gro�en, talmudischen und sonstigen Kenntnisse in der hebr�ischen Literatur Liebe und Verehrung in der j�dischen Gesellschaft zu erwerben.

Nachdem er alle seine Gesch�fte liquidiert hatte, widmete er sich dem Talmudstudium vollends und lebte �Al hatauro w'al hoawaudo� (der Lehre und dem Gottesdienst)! Der Tag war in unserem Hause so eingeteilt, da� f�r Talmudstudien so viel Zeit wie f�r Essen und Schlafen gelassen wurde. Auch hier in der kleinen Wohnung war sein Kabinet mit vielen F�chern versehen, wo zur fr�heren Bibliothek noch viele B�cher hinzugekommen waren, und dort schrieb er im Anfange der vierziger Jahre die beiden Werke, von denen ich schon vorher berichtet habe.

Auch in dem neuen Heim pflegte mein Vater um 4 Uhr fr�h, im Sommer wie im Winter, aufzustehen und seine Morgengebete singend zu verrichten. Diese Gebete hatten keine zusammenh�ngenden Weisen. Es waren mehr Rezitative; aber [163] meinem liebenden Kinderherzen schmeichelten sie sich wie die sch�nsten Melodien ein. Unter diesen T�nen pflegte ich aufzuwachen und in einer tiefen, religi�sen Stimmung bis zum Tagesanbruch zu tr�umen. Man k�nnte aber glauben, da� die Lebensweise meinen Vater von uns Kindern entfernte und von ernster Erziehung abhielt. Dem ist jedoch nicht so. Er hatte immer noch Zeit und Lust, den Gemeindeangelegenheiten sein gr��tes Interesse entgegenzubringen und mit seinen z�rtlichen, v�terlichen Augen, seinem weisen Worte Sitten und Gehaben der Kinder zu �berwachen.

Wohl war unter den neuen Verh�ltnissen vieles anders geworden, aber unser Betragen, unser gemessenes Selbstbewu�tsein aller Welt gegen�ber ver�nderten sich nicht, wenn auch mit dem Verlust des gro�en Verm�gens in der Altstadt, d. h. mit dem Niederrei�en unseres Hauses und der Ziegelei der Wohlstand meiner Eltern schwer ersch�ttert worden war. Viele der kostbaren Sachen verschwanden aus dem Hause, aber die kostbarere Pers�nlichkeit aller im Hause blieb erhalten. Unser Haus blieb auch jetzt der Sammelpunkt der intelligenten Gesellschaft. Jeder vornehme Gast, der in die Stadt Brest kam, kam zuerst zu uns, wo er sicher war, herzlich willkommen zu sein. —

Unsere Kleidung war unter den gegenw�rtigen Umst�nden einfach, jedoch war keines der Kinder auf die teuren Kost�me der Freundinnen neidisch. Das Leben im Hause flo� auch jetzt regelm��ig, gem�tlich dahin. Die sechs Wochentage vergingen ohne Sonderheit. Der Freitag jedoch zeigte ein anderes Gesicht, wurden doch schon vor Tagesanbruch in der K�che die Vorbereitungen zum Sabbat getroffen, die herrlichen, gro�en Strietzeln und mancherlei Kuchen gebacken, [164] wobei ich der K�chin bereitwillig half und daf�r das erste S��e zu essen bekam. Ich z�hlte damals schon 14 Jahre. — Schon fr�h am Tage standen die Hausgenossen auf. Wir fr�hst�ckten warmes Wei�brot mit Butter und Kaffee. Ich schrieb einen Zettel, auf dem alle Besorgungen f�r den Sabbat, alle Eink�ufe auf dem Markte verzeichnet waren, bewaffnete mich mit einem Handkorb und Serviette, und begab mich auf den Marktplatz, wo meine vornehmlichste Aufmerksamkeit der ersten Besorgung, den Fischen, galt, den Fundamenten eines richtigen Sabbats! Auf gute Fische legte mein Vater gro�en Wert. Ich kaufte den allerfrischesten Hecht, der bei uns Juden in besonderer Gunst steht, machte mich dann an die Obstgestelle und ging raschen Schrittes nach Hause, wo ich meine Mutter, den Sabbatabschnitt lesend, fand. Bei meinem Erscheinen jedoch legte sie die Bibel zur Seite und betrachtete meine Eink�ufe. Mein Vater kam auch aus seinem Kabinet, besichtigte den Fisch, blieb meistenteils zufrieden, ermahnte mich, viel Pfeffer beim Kochen zu geben, versprach sich guten Appetit dabei; und nachdem ich den Fisch der K�chin zum Reinigen �bergeben, band ich mir eine lange Sch�rze um, machte mich rasch an die kleine W�sche der Taschent�cher des Vaters, der Kragen und Musselin�rmelchen, welche noch bis vor Abend zur Sabbattoilette der Eltern getrocknet und gepl�ttet werden mu�ten. Dann kam der Fisch an die Reihe. Mein Vater liebte es, der Prozedur zuzuschauen, und schmunzelnd lobte er meine Fertigkeit, kostete von der Sauce, und mahnte nochmals, noch mehr Pfeffer zu zugeben. Nach vielem Probieren und Schmecken wurde der Fisch fertig. Ich legte diesen auf die Sch�ssel, stellte sie auf einen Topf hei�en Wassers, damit die Sauce nicht eintrockne. Noch einmal wurde das Gem�se gekostet, das Fehlende [165] zugegeben, und dann der K�chin der Platz am Herde ger�umt. Von da ging ich zum Teetisch, wo ich f�r die Eltern und meine Geschwister den Tee bereitete und einschenkte. Am Freitag wurde er fr�her als gew�hnlich eingenommen und in aller Eile getrunken. Hernach ging ich durch alle Zimmer, um die letzte Hand an das Reinigungswerk zu legen, bald eins, bald das andere von den M�beln zurechtzustellen, den Staub in den Winkeln zu entfernen usw. Unterdessen war die kleine W�sche getrocknet. Ich machte mich ans Pl�tten. Hernach verteilte ich an die Eltern und Geschwister die gro�e W�sche. Alle im Hause machten Sabbattoilette. Die meine bestand im Winter in einem wollenen Kleidchen blauer Farbe, meiner Lieblingsfarbe; im Sommer in einem steif gepl�tteten Kattunkleidchen. Die Jugend mu�te mir Samt und Seide ersetzen.

Meine Eltern begaben sich in den nur f�r den Sabbat bestimmten Kleidern in die Synagoge, meine Mutter freilich erst, nachdem sie mit einem wei�en Tischtuch den Tisch bedeckt, auf den oberen Sitz die zwei Sabbatbrote gelegt, die sie mit eigens dazu h�bsch gesticktem Deckchen verh�llte, dann wurden die Kerzen mit einem Segensspruch angez�ndet, wobei sie der �brigen zwei Gebote f�r jede j�dische Frau gedachte. Sie dankte in diesem Gebete Gott, da� es ihr bestimmt ist, die Gem�cher zum Sabbatfest zu beleuchten. W�hrend sie in der Synagoge war, hatten wir drei M�dchen auch die Pflicht, jede zwei weitere Kerzen am Freitag Abend im Kronleuchter des E�zimmers anzuz�nden. Auch in den �brigen Zimmern wurden die Kerzen in den Wandleuchtern angesteckt. Und bald strahlte das ganze Haus im Kerzenglanze. Wir M�dchen in frischer Sabbattoilette f�hlten uns in den geputzten R�umen in jener Stimmung, von der die Chassidim sagen, da� der [166] Himmel f�r Sabbat die �Neschome Jessaire�, die zweite Seele verleihe. Diese Zeit war die einzige in der Woche, wo wir M�dchen, ohne gest�rt zu werden, unsere russischen, polnischen, deutschen und j�dischen Lieder mit ganzer, voller Stimme singen konnten. Ein anderes Mal wurde getanzt, wozu sich unsere Nachbarskinder einfanden. Auch das Beten wurde nicht vergessen! Unterdessen deckte der Bediente den Tisch zum Abendessen. Auf Vaters Platz stellte ich den gro�en, silbernen Becher mit der Karaffe Wein. Wir erwarteten die Eltern von der Synagoge. Der Vater kam, und schon wenn er mit seiner kr�ftigen Stimme �gut Sabbat� rief, kehrte die ganze Sabbatgem�tlichkeit bei uns ein. Er breitete seine H�nde aus, und wir Kinder empfingen, die �lteren zuerst, den Segen. Des Vaters Gesicht strahlte in gl�cklicher Sabbatruhe, in seinen lachenden Mienen ruhte der Frieden der Seele. Sorgen und Kummer, von denen er die letzte Zeit so reich geplagt war, waren verjagt, vergessen — von ihm und seinem Hause. Er betete �ber unser vor Liebe und Verehrung gebeugtes Haupt, w�hrend er es oft in seine H�nde dr�ckte und streichelte. Zu einem Ku� jedoch und �hnlichen, z�rtlichen �u�erungen durfte es nie kommen, da Religiosit�t und sittliche Anschauungen sie nach damaligem Begriff als Leichtfertigkeiten verp�nten.

Nachdem wir alle des Vaters Segen erhalten, wurden vom Vater und den �brigen Herren Verse, die man �Scholem Alechem� — Friede mit euch — nennt, gesungen, mit denen jeder Jude seinen Sabbatfriedensengel empf�ngt. Darauf folgt der Lobgesang auf die arbeitsame Hausfrau (Psalm 18), die �Esches Chajil�, die Heldenfrau. Der Frau, die aufsteht, wenn es noch Nacht ist, und die Speise f�r ihren Mann und Kinder und Gesinde bereitet, ihren Handarbeiten und rot gewebten G�rteln [167] gilt das Lob in den Stadttoren. Sie ist eine Krone f�r ihren Mann. Doch Sch�nheit und Anmut ist eitel Tand, verg�nglich, und nur der gottesf�rchtigen Frau gilt alles Lob. Diese Ges�nge pflegten die M�nner, im Zimmer auf- und abgehend, in einer sch�nen Weise zu singen. Ich war damals Backfisch und pflegte mich bei diesen Ges�ngen, da ich sie zur H�lfte verstand, ordentlich stolz zu f�hlen, und nahm mir vor, des Lobes selbst w�rdig zu werden. — Mein Vater machte �Kidusch�, trank zur H�lfte den Inhalt des Bechers und gab ihn der Mutter, die davon nippte, und ihn uns Kindern der Reihe nach reichte. Dann ging es, ohne ein Wort zu sprechen, ans H�ndewaschen; und ein Gebet beim Abtrocknen wurde gesprochen. Diese Handlung, die trotz der vielen Anwesenden, doch so still verrichtet wurde, reizte uns Kinder oft zu leisem Fl�stern, noch �fter zu einem ganz verf�hrerischen Kichern. Aber ein strenger Blick des Vaters verjagte allen Mutwillen. Der Vater sagte ein Gebet �ber die zwei Brote, die man �Lechem Mischne� nennt, schnitt das eine in zwei Teile, a� davon einen Bissen und sprach, bis er ihn verzehrt hatte, kein Wort. Wir alle am Tisch bekamen auch eine Scheibe. Der Fisch wurde aufgetragen, eine fromme Sabbathymne mit lieblichen Melodien gesungen. Dann folgte die fette, schmackhafte Nudelsuppe; dann ein zweites Lied, bei dem wir M�dchen leise mitsummten. Laut durften wir es nicht tun, da es als eine S�nde f�r die M�nner galt, weibliche Stimmen singen zu h�ren! Mit einem Gem�se endete die Mahlzeit. Zum Schlu� wurde ein Dessert gereicht das aus �pfeln, ger�steten N�ssen, abgekochten Erbsen bestand. Die M�tzen wurden aufs Neue aufgesetzt, Wasser �ber die Finger gegossen, das �Majim Acharaunim�, d. h. das letzte Wasser genannt wird. Mit der Rezitation des Tischgebetes wurde einer der Herren der Tischgesellschaft beehrt, dem ein [168] Becher mit Wein gef�llt wurde, und alle fielen mit einem Amen an bestimmter Stelle ein. Nach dem Abendbrot blieb man nicht mehr lange beisammen; schon um zehn Uhr lag das ganze Haus in tiefem Schlaf.

Mein Vater, seiner Gewohnheit treu, wachte um 4 Uhr fr�h auf, da er jedoch des Sabbats wegen, selbst kein Licht anz�nden konnte, rief er den Bedienten und befahl, da� er dem christlichen Nachtw�chter auftragen solle, Licht ins Haus zu bringen. Der Bediente brachte auch bald �Michalka�, den bew�hrten Nachtw�chter, der die Kerze in Vaters Kabinet und in der K�che f�r den Bedienten anz�ndete. Vater sang seine Morgengebete, bl�tterte ein wenig in dem gro�en Talmudfolianten, trank seinen Tee, der, gestern zubereitet, auf dem gro�en K�chenofen im hei�en Sand bis zum Morgen hei� geblieben war. (Der Samowar wurde in meinem elterlichen Hause nie am Samstag aufgestellt, auch kein Kaffee oder sonst eine Speise gekocht oder gew�rmt.) Und nun begab sich mein Vater, in finsterer Nacht, im Winter des tiefen Schnees, des Frostes nicht achtend, nach dem sogenannten �Chewra-thillim-bethamidrasch�, die ihren Namen herleitet von der �bung, jede Woche alle Psalmen von Anfang bis zu Ende zu sagen. Jeden Tag wurde ein Teil im Chor gesungen, wobei einer von der Gemeinde mit dem ersten Satze im Kapitel anfing und die Gemeinde ihm folgte. Mein Vater geh�rte zu diesem Verein, beteiligte sich jedoch an dem Gesange nur am Samstag. Die Mitglieder dieses Vereins bestanden gr��tenteils aus Handwerkern, denen es die ganze Woche unm�glich ist, sich in fr�her Morgenstunde diesen seelischen Genu� zu g�nnen. Heute aber ist der heilige Sabbatruhetag, der schon von gestern vor Abend begonnen hat. Jeder Jude hat schon um 9 Uhr abends gestern in tiefem Schlaf geruht, [169] ist um 4 Uhr nach Mitternacht physisch und geistig gest�rkt erwacht und hat mit Wonne seiner Gemeinde im �bethamidrasch� gedacht, wohin er unverz�glich sich begab, und wo er im hell beleuchteten, gut durchw�rmten, ger�umigen Bethause seine Kameraden traf. Es ist keine bestimmte Weise zu diesen Psalmen vorgeschrieben, aber ein jeder Jude gibt den Worten der Psalmen, die er ganz versteht und tief empfindet, und in denen er seine eigenen Erlebnisse findet, die passende Melodie selbst, weil sie ihm aus innerster Seele kommt; und mit diesen individuellen T�nen preist er und singt seinem Sch�pfer Hallelujah. So ging es bis Tagesanbruch, wo dann das Morgengebet �Schachari߫, das Mittagsgebet �Musaph� gebetet wurden, und dazwischen der Wochenabschnitt aus der Thora gelesen ward. Gegen 11 Uhr vormittags ging dann jedes Mitglied der Gemeinde in der besten Stimmung nach Hause, nicht zuletzt, weil es wu�te, da� seiner schon von gestern her ein schmackhaftes Mittagessen harrte. Jeder erg�tzte sich an �Schalet� und �Kugel�, den der Sabbatengel so pr�chtig abgekocht hat. Dieser Schalet, von dem Heinrich Heine behauptet, da� die Bewohner des Olymp Griechenlands nur deswegen Ambrosia speisten, derweil sie von Schalet nichts w��ten! — Wir Kinder waren schon in vollem Sabbatputz. Der Vater segnete uns und machte Kidusch �ber einen Becher Wein. Wir mu�ten auch davon nippen. Darauf wurde mit Honigkuchen und Konfit�ren in Honig und Zucker �angebissen�.

Unterdessen trug der Bediente gesalzene, kalte Fische auf, hartgekochte Eier mit Zwiebelsalat, G�nseleber, G�nsefett, Rettig, Kalbsf��e mit Eiern und Knoblauch; die bitteren, pikanten Kr�uter, an denen sich unsere Vorfahren schon in der W�ste erlabten, erg�tzen noch bis heute die Nachkommen [170] Jacobs. Nachdem die Tischgesellschaft den ersten Hunger gestillt hatte, wurde der Schalet aufgetragen. Er schmeckte vortrefflich! Obwohl die Speisen mehr als 20 Stunden im Ofen gestanden hatten, bekamen sie jedem gut. Die damaligen, j�dischen Magen waren gut. Je fetter der �Kugel�, das Symbol des Sabbatmittagmahles war, um so schmackhafter erschien er den Tischgenossen und er fand Gnade! Auch heute wurden fromme Lieder, Hymnen auf die Sabbatruhe, mit munteren Weisen im Chor gesungen. Am Sabbat nach Tisch zu schlafen, ist eine �Mitzwa� und — wir waren fromm! Nur wir Kinder konnten uns jetzt austoben, im E�zimmer w�hrend des Winters, auf Wiese, Berg und Tal im Sommer.

Am Sp�tnachmittag gingen die M�nner wieder ins Bethaus zum Vorabendgebet. Es war in der D�mmerung. Daheim mu�te dann die dritte Sabbatmahlzeit gegessen werden. Auch die Kinder hatten nach ihrem Umhertollen Wolfsappetit. Bei dieser �Schalssude� im Halbdunkel vor Abend mu�ten Fisch und Fleisch nach Vorschrift gegessen werden. Auch jetzt wurden sch�ne Hymnen gesungen und dann das Tischgebet verrichtet. Darauf ging alles wieder in die Synagoge zum Abendgebet, und es war schon dunkel, als die M�nner zur�ckkehrten. Alsdann betete mein Vater bei einem Becher Wein �Awdole�.

Dann wurden weiter wohlklingende �Smiraus� gesungen d. h. Verse, die sich auf die kommende Woche (Werkeltage), auf Sonne, Mond und Sterne beziehen. — Der Abend war noch ein halber Feierabend, an dem nichts gearbeitet wurde. Gegen 11 Uhr wurde aufs neue eine Mahlzeit eingenommen, die sich �reb Chidkes Ssude� — Melawe Malke — Abschiedsgebet f�r die K�nigin Sabbat nannte. F�r dieses Mahl wurde ein �Borscht�, eine aus Gefl�gel und roten R�ben bestehende [171] Br�he, gekocht, die erst um 11 Uhr fertig wurde, da man Feuer erst dann anmachen durfte, wenn es vollst�ndig Nacht war. Alle, selbst wir kleinen Kinder, mu�ten zu dieser sp�ten Mahlzeit zu Tisch kommen. Mit dieser sp�ten Mahlzeit endete erst die Sabbatfeier.


III.Evas Hochzeit.

Ich war 15 Jahre alt, als meine zwei Jahre �ltere Schwester verlobt wurde. Ja, sie wurde verlobt und nicht (wie es jetzt bei den M�dchen hei�t) sie haben sich verlobt. Unsere Eltern und die des Br�utigams unterhandelten durch den Heiratsvermittler �schadchen� miteinander und besprachen, wieviel Mitgift, Kleider und Schmuck von beiden Teilen der Heiratspartei gegeben werden solle. Meine Schwester bekam ihren Br�utigam, ihren Lebensgef�hrten, vorerst �berhaupt nicht zu Gesicht und konnte sich nicht �berzeugen, ob sie ihn lieben k�nnte, und ob er ihrem Geschmack und den Idealen entspr�che, die sich ein M�dchen von ihrem Zuk�nftigen heimlich bildet. Unsere Eltern teilten ihr nur mit, da� ein gewisser Herr F. aus der Stadt S. um sie werbe. Und da er aus gutem Hause, reich, nicht h��lich, und schon ein selbst�ndiger Kaufmann (zwar schon einmal geschieden) w�re, fanden unsere Eltern diese Partie zweckm��ig und gaben ihre Zustimmung. Nun sollte es auch meine Schwester tun. Weit entfernt, den mindesten Zweifel in die Worte der Eltern zu setzen, machte meine Schwester keinerlei Einwendungen. Mit dem, was die Eltern bestimmten, war man eben einverstanden! Da� sie mit der Wahl zufrieden [172] war, war selbstverst�ndlich; war es doch �blich, in dieser Form die T�chter zu verheiraten und — sie waren in der Ehe gl�cklich. Die M�dchen von anno damals wu�ten, da� der Mann, den ihnen die Eltern bestimmten, von Gott bestimmt war. Gott wollte, da� er ihr Lebensgef�hrte wurde, und so f�gte man sich vom ersten Augenblick in alle Schicksale des Ehelebens mit Geduld und Ergebung, richtete danach Sinn und Tun ein. So wurde die damalige Ehe von Frau und Mann als ein heiliges Band betrachtet, das nur der Tod trennen kann, und nicht wie jetzt, wo die Ehe lediglich auf dem guten Willen der Ehegatten basiert ist. Bei einer auf die alte Weise geschlossenen Ehe kamen selten Zwist oder Uneinigkeit unter den Gatten vor; meistenteils haben sie ein gl�ckliches, zufriedenes Leben bis zum hohen Alter gef�hrt, und ein solches war auch meiner Schwester vom lieben Gott beschieden.

Meine Schwester wurde also Braut, bekam von ihrem Br�utigam h�bsche Brillanten zum Geschenk geschickt und sehr oft Briefe, auf die sie sofort antwortete. Der Briefwechsel war zwar nicht ohne gewisse innere Anteilnahme, Anh�nglichkeit und Liebe, aber durchaus nicht schw�rmerisch. Immerhin kam doch darin zum Ausdruck, da� man sich nacheinander sehnte und mit Herzenslust einen Brief erwartete und empfing.

So vergingen f�nf Monate. Eines Morgens, da meine Mutter mit uns allen beim Fr�hst�ckstisch sa�, sagte sie zu meiner Schwester: �Ich hoffe, da� deine Hochzeit nach drei Monaten stattfinden wird.� Meine Schwester wurde bei den Worten der Mutter bla�. Die Mutter fing an, sie mit einschmeichelnden Worten zu beruhigen. Mit l�chelnden Mienen, aber doch ganz ernst, sagte sie: �Es ist schon Zeit, du bist bereits achtzehn Jahr!� Meine Schwester aber antwortete [173] nichts, stand rasch vom Stuhl auf, ging in ihr Zimmer, wo sie heftig zu schluchzen anfing. Welche Gef�hle ihr diesen Tr�nenstrom erpre�t haben, konnte man wohl erraten. Unsere Mutter legte jedenfalls weiter kein Gewicht darauf. Meine Schwester selbst konnte sich �ber ihre Tr�nen wohl keine Rechenschaft geben. Vielleicht hat verletzter Stolz sie erpre�t; sie kannte nicht einmal ihren Br�utigam pers�nlich und sollte ihn erst zur Hochzeit zu sehen bekommen.

Nun fingen die Vorbereitungen zur Hochzeit an. Zuerst Garderobe! Es wurden von den Gesch�ften Stoffe, Zeuge, Leinwand usw. gebracht. Meine Schwester aber k�mmerte sich scheinbar nur wenig darum. Sie wurde nachdenklich, still, und ging in sich gekehrt herum. Meine Mutter und die �lteren Schwestern bestellten die N�harbeit. Die Braut aber schrieb jetzt �fter an ihren Br�utigam, wohl um ihre ersch�tterte Ruhe wiederzufinden. Die Antworten waren sehr liebensw�rdig.

Unsere Eltern und die des Br�utigams setzten bei der Verlobung als den Tag der Hochzeit einen Donnerstag im Septembermonat des Jahres 1848 fest. (Es war ein Rausch Chaudesch.) Ich sollte schon ein langes Kleid zu dieser Hochzeit bekommen — als �lteres M�dchen im Hause, folglich auch Kandidatin der Ehe. Die Wirtschaft und Vorbereitung zur Hochzeit nahm mich sehr in Anspruch. Tagelang hatte ich in der K�che mit Backen, Braten, Kochen zu tun. Aber ich liebte diese Besch�ftigung, w�hrend meine Schwester das Lesen und N�hen vorzog. Meine �lteren Schwestern besorgten den Hausrat und die Kleidungsst�cke f�r die Braut. Sie bekam ein hell-lila Seidenkleid, mit wei�en Blendenspitzen besetzt, zum Brautkleid, einen Myrtenkranz [174] und langen Schleier dazu. (Der Anzug war im Vergleich mit den damaligen Sitten auff�llig modern!) Sonnabend vor dem festgesetzten Termin war Polterabend, damals nannte man ihn �smires�. Alle Freundinnen und Bekannten kamen, und wir waren lustig und tanzten uns m�de, da wir M�dchen auch die Kavaliere vorstellen mu�ten. Mit einem Mann zu tanzen, verbot unsere religi�se Erziehung. Vater und die bekannten Herren sahen zu und erg�tzten sich an dem sch�nen Anblick des Solotanzes der russischen �Kasatzke�, der so reich ist an k�nstlerischen Tanzfiguren, an grazi�sen Bewegungen und Schwenkungen. Bald war die im raschen Tempo getanzte Galoppade an der Reihe, die zu zweien in der Runde des Salons getanzt und wobei in jeder der vier Zimmerecken f�r einen Moment Halt gemacht wurde. Dazwischen kam auch das lustige T�nzel B�gele, eine Art Rundtanz, dann �chosidl�, zu dem eine h�chst muntere Weise mit Fanfarenmusik und Tamburin gespielt wurde. Endlich wurde auch der Contredanse gar zierlich-manierlich getanzt. Der Walzer aber war nicht sonderlich beliebt.

Die Tage von Sonnabend bis Donnerstag waren unruhig und reich an Arbeit. Aber an jedem Abend dieser Tage kam die Musik, um der Braut einen �guten Abend� aufzuspielen, einen �dobri weczer� und an jedem Morgen h�rten wir ein �Guten-Morgen-St�ndchen�, �dobri dsen�, wobei wir M�dchen ein lustiges T�nzchen machten. Es herrschte ganz die patriarchalische Sitte, die fordert, da� die j�dische Hochzeit vier Wochen dauern soll. Meine Schwester hoffte, da� ihr Br�utigam wenigstens zwei Tage vor der Hochzeit kommen w�rde und war in den letzten Tagen munterer geworden. Als jedoch schon der Mittwoch der letzten Woche nahte, und ihre [175] Hoffnung sich nicht erf�llte, wurde sie verstimmt und weinte im Geheimen oft, und ihr ganzes Wesen sprach von Ungeduld. Die Vorbereitungen zur Hochzeit nahmen ihren Fortgang, und der festgesetzte Hochzeitstag, ein Donnerstag, lie� sich mit pr�chtigem Wetter und Sonnenschein an — ohne jedoch den Br�utigam in unsere Stadt zu f�hren.

Doch kaum war es 11 Uhr geworden, als eine Estafette die ungeduldig erwartete, frohe Nachricht brachte, da� der Br�utigam und seine Begleitung auf der letzten Poststation angelangt seien und weiterreisten. Eilig kleideten wir uns an; das Fr�hst�ck wurde bereitet. Ich mu�te helfen und wurde darum nur zur H�lfte mit der Festtoilette fertig. Die Braut aber wollte sich nicht eher ankleiden, bis sie erst ihren Br�utigam gesprochen h�tte — ein Verlangen, das uns heute nur recht und billig klingt. Allein ein strenger Blick unserer Mutter und ein Wort der Schwestern waren hinreichend, diese Forderung aufzugeben. Bald erschien die Schwester br�utlich gekleidet; in den Spiegel freilich hatte sie kaum geschaut! Ihre Seufzer lie�en den Sturm ihrer Gef�hle ahnen! Es lag in der Wucht der Sitten jener Zeit, da� sie ruhiger wurde und sich damit abfand, erst im Trauungskleide zum ersten Male ihren Lebensgef�hrten zu Gesicht zu bekommen.

Es war 12 Uhr geworden. Die Einladungen zur Trauung an die Freunde und Bekannten waren in der Fr�he desselben Tages verschickt worden, und einige G�ste fanden sich schon ein. Musik erklang und unsere Eltern traten mit ernsten Gesichtern, bewegten Herzens und tr�nenvollen Augen in den Hochzeitssaal, in ihrer Mitte die jugendliche, h�bsch geschm�ckte, erregte Braut am Arm haltend. Meine Schwester war keine ausgesprochene Sch�nheit, aber ihre hohe Statur, ihr stolzes, [176] hochragendes Haupt, die hohe Stirn und klugen Augen lie�en auf ihren Verstand schlie�en. Der Ernst dieser Stunde war bei ihr, wie es schien, von einem romantischen Glanz umleuchtet und go� �ber ihre strengen Gesichtsz�ge die milde Hingebung und Ergebung, die wir in der letzten Zeit bei ihr vermi�ten. — Mein Vater hatte inzwischen den Br�utigam in seinem Logis begr��t, und er konnte meine Schwester mit �berzeugung versichern, da� der junge Mann ein liebensw�rdiger Mensch sei. Unter den Kl�ngen einer zu Tr�nen r�hrenden Musik, wie es bei �hnlichen Gelegenheiten �blich und passend ist, f�hrten unsere Eltern die Braut bis in die Mitte des Hochzeitssaales, wo auf einem Teppich ein Armstuhl mit einer Fu�bank stand, und mit tr�nenerf�llten Augen lie�en sie die Braut aus ihren Armen darauf nieder. Sie blieb nachdenkend, in sich gekehrt, sitzen. Bange Erwartung, freudige Erregung, der Gedanke, sich f�rs ganze Leben zu fesseln, durchtobten sie..... Ach! Ein Frauenleben!... Wieviel sagt doch dieses eine Wort ... Der Vater entfernte sich, die Mutter aber und wir alle, reich geschm�ckt, blieben in ihrer N�he. Es dauerte auch nur kurze Zeit, als wir aus dem Vorzimmer den Bedienten melden h�rten, da� der Br�utigam vorgefahren sei. Meine Mutter erhob sich und warf einen unruhigen, aber von m�tterlichem Stolz erf�llten Blick auf die Braut, die bla� und starr vor sich hinsah. Sie sprach ihr nochmals mit z�rtlichen Worten Mut zu und begab sich dann in den zweiten Salon, um die willkommenen G�ste zu empfangen. Der Vater trat ihnen schon im Vorzimmer entgegen, umarmte und k��te den Br�utigam und f�hrte ihn ins zweite Zimmer zur Mutter, die nach damaliger Sitte weder durch einen H�ndedruck noch durch einen Ku� ihre Freude oder Zufriedenheit �u�ern durfte. Aber ihre Augen [177] und ihre hastigen Worte sagten, da� sie zufrieden war. Der Br�utigam schien der z�rtlichen Umarmung des Vaters und der freundlichen Worten der Mutter nur wenig zu achten; seine Augen suchten gierig und gespannt die, nach der sein Herz sich sehnte. Er sah �ber alle, die neben ihm standen, hinweg in den zweiten Salon, von wo ihm der Stern seines k�nftigen Lebens entgegenleuchtete. Die Festgenossen, geleitet von unserm Vater, gingen nun in das Hochzeitzimmer. Meine Schwester hatte sich von ihrem Stuhl erhoben und stand in ihrer ganzen W�rde dem Br�utigam gegen�ber, das Auge beharrlich auf ihn gerichtet, vor dessen Blick er die seinigen, wie ich denke, senken mu�te, da sein Charakter nachgiebig, mild und friedfertig war und der ihrige zwar nur wenig Sentimentalit�t besa�, aber kernig gesund, kalt, hell wie der Wintertag war. Auch zwischen Braut und Br�utigam durfte selbst bei dieser feierlichen Gelegenheit kein H�ndedruck gewechselt werden. Ihre ganze Erscheinung jedoch wirkte auf ihn elektrisierend; er konnte sich kaum fassen und murmelte einige unverst�ndliche Worte, worauf meine Schwester eine ma�volle Antwort gab. Es wurde dem Brautpaar gestattet, sich ins zweite Zimmer zu begeben, zun�chst in Begleitung der beiderseitigen Eltern, die sich �brigens bald entfernten, damit die jungen Leute endlich ohne Zeugen miteinander sprechen k�nnten. Wenn das Dictum: �Gekommen, gesehen, gesiegt� irgendwo berechtigt ist, so hier! Es verging kaum eine halbe Stunde, da traten die jungen Leute freudestrahlend in den Hochzeitssaal zur�ck.

Man beeilte sich zu fr�hst�cken; es geschah in gro�er Gesellschaft und in sehr munterer Weise. Schon sammelte sich die Menge der geladenen G�ste; und da es im sp�ten Herbst war und der Tag kurz, so mu�te man eilen. Unterdessen war es drei [178] Uhr geworden. Im Hochzeitssaal wurde getanzt, und die Braut auch in den Wirbel hineingezogen, was nach den damaligen Begriffen ganz in der Ordnung war. Der Br�utigam bat sich die Erlaubnis aus, im Tanzsaal zu bleiben; es wurde erlaubt, aber nicht f�r lange! Unsere Mutter zeigte sich bei �hnlichen Gelegenheiten viel milder als der Vater. Sie setzte sich in einen Winkel des Hochzeitssaales und bat ihren k�nftigen Schwiegersohn, neben ihr Platz zu nehmen.

Eine Stunde mochte in Tanz und Lust vergangen sein, da mahnte meine Mutter den Br�utigam, da� es Zeit sei, zu gehen. Er tat es mit einer sehr langen Verbeugung und einem L�cheln gegen die Braut. Und nun fing die Zeremonie des sogenannten Besetzens und Bedeckens an, die darin besteht, da� man Brautkranz und Schleier vom Kopfe der Braut herunternahm, und die Frauen und die Freundinnen die Haare der Braut, die eigens heute zu kleinen Z�pfchen geflochten waren, aufl�sten und �ber Hals und Nacken breiteten, wobei die Musik nur stille T�ne anschl�gt. Die noch vor einer kleinen Weile so lustig tanzende Hochzeitsgesellschaft wurde still. Eine traurige Stimmung umh�llte alle. Der Batchen oder Marschalik — wie man diese Kasualienredner damals nannte — erinnerte die Braut, da� der heutige Tag f�r sie einen Lebensabschnitt markiere; sie trete in ein neues Stadium und dieser Tag solle ihr heilig wie der Vers�hnungstag sein. Sie sollte Gott anflehen, ihr die S�nden zu vergeben. Der damalige Jude glaubte, da� die Eltern die S�nden eines jeden Kindes bis zu seiner Verm�hlung vor Gott zu verantworten haben. Nach der Hochzeit ist aber jedes Kind selbst f�r sich verantwortlich. Bei meiner Schwester bedurfte es keiner Ermahnung! Ihre Tr�nen flossen reichlich und innig. Nach dieser Rede kam, in Begleitung der Eltern und G�ste, [179] gef�hrt von dem Ortsrabbiner, der Br�utigam in den Hochzeitssaal, nahm von der vorbereiteten, mit Hopfen und Blumen gef�llten Platte den Schleier, und auf die Aufforderung des Rabbiners bedeckte er damit das Haupt der tiefbewegten Braut. Bei dieser Handlung bestreuten ihn alle Umstehenden mit Hopfen und Blumen, und unter lauten Gl�ckw�nschen, Umarmungen und munterer Musik verging noch eine gute halbe Stunde, in welcher man die Braut von der schweren Brauttoilette befreite, ihr ein leichtes, lichtes Kleid anlegte, eine leichte Mantille �berwarf und den Schleier auf dem Kopf zurechtlegte und befestigte. Nun ging es in die Synagoge, jedoch nicht wie jetzt in Equipagen, sondern zu Fu� durch die oft sehr schmutzigen Gassen. — Die Trauung wird von den Juden als �ffentlicher Akt betrachtet und mu� daher unter freiem Himmel vollzogen werden. Das Volk soll Braut und Br�utigam sehen k�nnen, vielleicht wei� jemand, da� einer der Brautleute schon verheiratet ist!

Der Br�utigam wurde bald nach dem �Bedecken� mit Musik — ein Marsch wurde gespielt — vor die Synagoge gef�hrt, wo er unter den dort aufgestellten Baldachin gestellt wurde. Und die Musikanten begleiteten nun auch die Braut unter die �Chuppe� mit demselben Marsch. Die Braut wurde von den �Unterf�hrerinnen� (Brautschwestern) an die linke Seite des Br�utigams gestellt; die Musik schwieg. Die Zeremonie der Einweihung des Brautpaares begann. Der �Schammes� (Synagogendiener) f�llte ein Glas mit Wein, �ber den den Segen zu sprechen, ein geachteter Mann beehrt wurde. Bei einem bestimmten Satze hielt er inne. Der Synagogendiener �bergab dem Br�utigam den Trauring, den dieser in die H�he hielt, und mit den gesetzlichen Worten in bestimmtem Rhythmus: �Hare ad mekudesches [180] li betabas sukedas Mausche w' Isroel� steckte er den Ring auf den Zeigefinger der rechten Hand der Braut. Dann rezitierte der den Wein segnende Mann die sogenannten �schiwo broches� — die 7 Segensspr�che — auf die sch�nsten Tugenden und edelsten Regungen des Menschenherzens, wie Liebe, Freundschaft, Treue, Bruderschaft des Ehepaares. Dann wurde die �ksube� (Heiratsurkunde) vorgelesen. Diese lautete wie folgt: �Dieser Herr N. heiratet dieses Frauenzimmer N. Er verpflichtet sich, ihr Mann zu sein, sie zu ern�hren, standesgem�� zu kleiden und sie zu besch�tzen. Sie bekommt von dem Herrn N. drei�ig Goldm�nzen.� Die �ksube� wird der Braut hier unter der �chuppe� �berreicht. Nachdem das Gebet �ber den Wein zu Ende gesprochen war, mu�ten Br�utigam und Braut aus dem Glase trinken. Das Glas aber legte man auf die Erde, und der Br�utigam mu�te es mit dem Fu�e zerstampfen! Die Hochzeitgesellschaft rief �Masel tow� (Gut Gl�ck), und das Brautpaar trat Arm in Arm den Heimweg an, von der rauschenden, bet�ubenden Fanfarenmusik und dem gesamten Publikum begleitet, wobei besonders die �lteren Weiber einen Reigen dicht vor dem Brautpaar tanzten, denn als gr��te �Mizwe� (d. h. gottgef�llige Tat) galt: �M'ssameach chosen wekalo� (d. h. Braut und Br�utigam belustigen!). Sie tanzten bis zu unserem Hause. Dort schwieg die Musik und nun galt es, zu sehen und zum Teil zu bewirken, da� die Braut zuerst �ber die Schwelle trete. Ein alter Aberglauben lehrte n�mlich, da�, wer von dem Ehepaare zuerst �ber die Schwelle tritt, durchs ganze Leben die Oberhand im Eheleben behalten w�rde. S�mtliche Frauen nahmen ihren Schmuck ab und legten ihn hier auf die Schwelle; dar�ber sollte das neuverm�hlte Ehepaar schreiten. Hier bei uns vollzogen sich alle diese Br�uche [181] in gem�tlicher Ordnung, w�hrend es bei dem einfachen Volk bei dieser Gelegenheit sehr oft zu einem Handgemenge kam, in dem bald die Verwandten der Braut ihrem Sch�tzling den Vortritt zu erk�mpfen suchten, w�hrend ihrerseits die Verwandten des Br�utigams dasselbe Man�ver �bten.

Man denke sich diesen ganzen �Chuppegang� (Trauungszug) mit allen oben geschilderten Szenen bei Regenwetter unter freiem Himmel, wo wenige von den Tanzenden Schirme besa�en. Da gab es schlumpige Weiberr�cke und Pantoffeln, und die arme Braut mu�te laut die bittersten Vorw�rfe h�ren, da sie, wenn es zu ihrer �chuppe� regnete, wohl naschhaft gewesen sein und aus den Kasserollen geleckt haben mu�te. —

In gro�em Gedr�nge kamen die Brautleute zu Hause an, wo das junge Paar in sein Zimmer gef�hrt wurde und bei Tee, Bouillon und Leckerbissen sich von den Strapazen des Chuppeganges erholte. Es war auch hohe Zeit! Denn das Brautpaar fastete bis nach der Trauung. Man nannte die erste Bouillon, die man dem Brautpaar gab, die �goldene Suppe�. Nur die intimeren Freundinnen und die Brautschwestern wurden in das Zimmer der Brautleute hineingelassen. Die �brigen G�ste verabschiedeten sich, um sich zwei Stunden sp�ter zum Abendbrot, das sich �chuppewetschere� nannte, einzufinden. Bei diesem Mahle f�hrte die Gesellschaft allerlei leichtsinnige Gespr�che, die nicht der Frivolit�t entbehrten. Nach der luxuri�sen Mahlzeit, die mit einer grossen Zecherei endete, blieb die Gesellschaft noch bei Tisch sitzen. Es war Brauch, dass der Br�utigam das Mahl durch eine talmudische Rede (Drosche) w�rzen musste. Nun wurden die �Droschegeschenke�, d. h. Hochzeitsgeschenke, von den Verwandten, Eltern und Freunden den Neuverm�hlten dargebracht. — Der �batchen� [182] trat wieder in Aktion. Aber er zeigte sich jetzt von einer gem�tlicheren Seite. Er mu�te das Publikum mit allen m�glichen Possen und improvisierten Anekdoten in Versen unterhalten, auf jeden Gast, je nach der Spende, ein launiges �W�rtchen� sagen, und endlich auch dem Brautpaar Scherze, aber auch bittere Wahrheiten in humoristischer Form erz�hlen. Unter diesen Batchonim gab es oft geniale Leute. Einer, Sender (Alexander) Fiedelmann, hat eine k�stliche Sammlung seiner launigen Verse hinterlassen. Fiedelmann hat in Minsk �gewirkt�, w�hrend in Wilna ein gewisser Motche Chabad und Elijokum Batchen beliebt waren.

Der �batchen� stellte sich auf einen Stuhl und rief mit lauter Stimme, das ihm eingeh�ndigte Hochzeitsgeschenk in die H�he haltend, den Namen des Gebers und pries mit vielen �bertreibungen den Wert und die besonderen Qualit�ten des Geschenkes. Seine �Chochmes� brachte er in singenden Rezitativen vor, wobei die angeheiterte Tischgesellschaft herzlich lachte. Diese Possen dauerten bis sp�t in der Nacht. Das Tischgebet wurde gesagt, das mit den �schiwo broches� �ber einem Becher Wein endigte, von dem man dem Brautpaar zu nippen gab. Dann kam der sogenannte Koschertanz an die Reihe. Die Braut unter ihrem Schleier setzte man in die Mitte der Brautschwestern, von denen eine ein seidenes, viereckiges Taschentuch in der Hand hatte. Der �batchen� forderte einen der Herren auf, mit der Braut zu tanzen, wobei die Brautschwester einen Zipfel des Tuches der Braut in die Hand gab und den zweiten Zipfel dem T�nzer reichte. Auf diese Weise machten sie zweimal die Runde und der Batchen rief: �Schon getanzt!� und die Braut setzte sich wieder zwischen die Brautschwestern. Auf solche Weise tanzte die Braut mit allen [183] anwesenden Herren. Das dauerte bis sp�t nach Mitternacht. Die arme Braut aber durfte den Schleier nicht l�pfen.... Endlich, vor Tagesanbruch, mahnte die gro�e M�digkeit zur Ruhe. Ein jeder suchte sich irgend ein Pl�tzchen und nickte selig ein. Am n�chsten Morgen wurde es sp�t Tag. Die Braut blieb in ihrem Zimmer, bis meine Mutter und die �lteren Schwestern in Begleitung einer einfachen Frau, der sogenannten �Gollerke�, kamen. Diese Frau war mit einer gro�en Schere bewaffnet und nahm auf der Mutter Gehei� dreist den armen Kopf meiner Schwester in Besitz, lehnte ihn gegen ihre Brust, und unter ihrer m�rderischen Schere fiel bald eine Str�hne des sch�nen Haares nach der andern vom Kopf meiner Schwester — wie das Gesetz es befiehlt! Nach kaum 10 Minuten war das Lamm geschoren. Man lie� ihr nur ein wenig Haar �ber der Stirn, um es besser nach hinten streichen zu k�nnen. Denn es durfte keine Spur von ihrem eigenen Haar zum Vorschein kommen. Dann bekam sie eine glatt anliegende seidene Haube, an der sich vorn ein breites, seidenes Stirnband in der Farbe des Haares befand, wodurch nach damaligen Begriffen das Haar sehr gut imitiert wurde. In den frommen j�dischen H�usern, wie dem meiner Eltern, hat man die altj�dischen Br�uche, die mit der Zeit als Gesetz betrachtet wurden, m�glichst streng beobachtet. Der Braut wurde ein h�bsches, kokettes H�ubchen aufgesetzt, wenn auch darunter das jugendliche Gesicht bedeutend �lter erschien. Man f�hrte sie in den Salon, wo bereits alle Herren des Hauses und viele G�ste versammelt waren. Die Brautschwestern bedeckten ihr Gesicht mit einem wei�en, seidenen Tuch, und wer ihr Gesicht zum ersten Male unter der Haube sehen wollte, mu�te ein Almosen f�r die Armen geben; auch der Br�utigam und die beiderseitigen Eltern mu�ten es tun. Da gab es verschiedene Meinungen [184] �ber ihr ver�ndertes Aussehen, und bald war ein gem�tlicher Streit im Gange. —

Meine Schwester blieb auf Kosten der Eltern mit ihrem Manne bei uns wohnen. Seine Eltern reisten, nachdem sie ihr viele h�bsche Pr�sente zur�ckgelassen hatten, nach ihrer Heimatsstadt Sa�law zur�ck.

Und ein junges Paar lebte das alte Leben....

Nur noch diese Schwester wurde in der hier geschilderten Weise verlobt und verheiratet. Schon meine Verlobung, zwei Jahre sp�ter hatte ein wesentlich verschiedenes Gepr�ge, hatte doch die Reform unter der Regierung Nicolaus I. die j�dische Lebensweise stark beeinflu�t.


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Die Ver�nderung der Tracht.

Es will mir scheinen, da� es kein Zufall sein kann, wenn heute das Wort �Tracht� fast ganz aus dem Wortschatze verschwunden ist. Es ist eigentlich nur noch in der Schriftsprache �blich. In der Umgangssprache ist es kaum noch zu h�ren. Es hat dem Worte �Mode� weichen m�ssen. Darin scheint mir aber mehr zu liegen als ein nur rein �u�erlicher Ersatz des einen Wortes durch ein anderes. Es liegt Psychologie, Zeitpsychologie in diesem Wandel. Sollte es wirklich nur ein Zufall sein, da� das Wort �Mode� zumeist in einem ganz pr�gnanten Sinne gebraucht wird? Bezeichnet es urspr�nglich nur, da� irgendein Etwas — ein Kleidungsst�ck, ein Buch, ein Kunstwerk zu einer bestimmten Zeit besonders beliebt ist, so hat es jetzt seinen Hauptsinn in der Vorherrschaft einer besonderen Kleidung! Die Fr�hjahrsmode schlechtweg bezeichnet die neue Form, die die Kleidung im Fr�hjahr hat. Und wenn wieder �eine neue Mode herauskommt�, so denkt man lediglich an eine neue Tracht. Mit dem Begriff Mode ist uns wie durch eine feste Ideenverbindung der Begriff des schnellen Wechsels verkn�pft. Was modern ist, will nur den Erfolg eines Tages haben. Mode und Tracht stehen zueinander wie hastige Abwechslung und Dauer.

In einem Punkte freilich finden die Begriffe �Mode und Tracht� eine gewisse Einigung! Sie haben beide einen imperatorischen Charakter. Sie zwingen unter ein Joch. Und [186] wenn auch dem einzelnen Menschen ein Spielraum f�r die Bet�tigung seines individuellen Geschmacks bleibt, so fordert das Gesetz der Tracht doch Einheitlichkeit und Uniformiertheit.

In fr�heren Zeiten hatte die Tracht freilich auch die Aufgabe, bestimmte Gruppen von Menschen voneinander zu differenzieren. Die Pariser Mode hatte noch nicht alle feineren und gr�beren Nuancen verwischt. Jeder Volksstamm, jede scharf abgesonderte Klasse von Menschen hatte ihre eigene Tracht; man wollte nicht in den gro�en Menschheitsbrei untertauchen, sondern sofort erkannt werden als das, was man ist. So bekam die Tracht den Charakter des Z�hen, Stabilen, Traditionellen, und die Gloriole der Ehrw�rdigkeit umleuchtete sie.

Nur so kann man verstehen, wie der im Jahre 1845 ver�ffentlichte Ukas der russischen Regierung auf die russischen Juden wirkte, welcher die Juden zwang, ihre alte Tracht abzulegen und sich der modernen zu f�gen.

Die Wirkung auf die gro�e Masse war so furchtbar wie die einer Katastrophe. Eine wilde Erbitterung war die Folge. Und nur das Gef�hl der eigenen Ohnmacht, der Wehrlosigkeit, die Golusangst lie� diese Erbitterung nicht zu rasender Wut sich steigern. W�ren die Juden damals stark, organisiert, m�chtig gewesen, so h�tte die Ver�nderung der Tracht zu Aufst�nden und Revolutionen gef�hrt. So aber blieb es bei schmerzhafter Resignation. Man trauerte um die eigene Tracht wie um einen lieben Toten. Und tiefer blickende Geister begriffen bald, da� die Anpassung an die modische Kleidung nur der erste Schritt sei auf dem Wege tiefer greifender Assimilationen, die nicht nur die Lebenshaltung, sondern auch Kulturanschauungen und die �berlieferten Lehren einer spezifischen [187] Religion, Sitte, Gewohnheit und der Br�uche des j�dischen Volksstammes w�rden ummodeln m�ssen. Der Ukas wurde als �Gesere� bezeichnet; nicht als eine von den vielen Geseraus, die das j�dische Volk �berfielen, sondern als die �Gesere� schlechtweg. Viele waren der Ansicht, da� das j�dische Gesetz — Jehorek w�al ja'wor (man mu� sich opfern) — unter diesen Umst�nden erf�llt werden m�sse. Allein die russische Regierung k�mmerte sich wenig um j�dische Gesetze, um die erregten Debatten in den Gemeinden, um die Trauer und das Wehklagen der Frommen, sondern setzte kurzerhand eine Frist fest, nach deren Ablauf alle Juden in Ru�land, M�nner und Frauen, sich nur in europ�isch-russischer Tracht durften sehen lassen. Und diese Frist war nat�rlich sehr kurz bemessen. So mu�te denn die j�dische Bev�lkerung von ihrer liebgewordenen Tracht lassen. Und wer wie ich den hastigen Wandel der Moden durch viele Jahrzehnte miterlebt hat, und wie ich oft hat erkennen m�ssen, da� die Tyrannin Mode nicht immer gerade die �sthetik als Genossin hat, der mu� gestehen, da� das Opfer der alten Tracht in manchem Belange die Aufgabe einer nicht nur hygienischen, sondern auch recht kleidsamen Tracht war.

Die M�nner trugen ein wei�es Hemd, dessen �rmel durch B�ndchen geschlossen wurden. Am Halse lief das Hemd in eine Art Umlegekragen aus, der aber nicht gesteift und gest�rkt wurde. Auch am Halse war das Hemd durch wei�e B�ndchen geschlossen und es wurde in der Art der Schleifenbindung besondere Sorgfalt aufgewandt, wie auch ein gewisser Luxus bei der Auswahl des Stoffes f�r diese Krawatten �hnlichen B�ndchen entfaltet wurde. Selbst �ltere Herren aus vornehmen H�usern lie�en eine leise Koketterie bei dem Schlingen [188] dieser Schleifen h�ufig erkennen. Erst sp�ter kamen breite, schwarze Halst�cher auf. Aber in den Familien, die Gewicht auf die Tradition legten, waren diese Binden verfehmt, und da� sie als �goijisch� bezeichnet wurden, zeigt schon die starke Empfindlichkeit an, mit der selbst so kleine und doch eigentlich recht harmlose Abweichungen von der �blichen Tracht aufgenommen wurden.

Die Beinkleider reichten nur bis zum Knie und waren gleichfalls durch B�nder unten verschn�rt. Die Str�mpfe waren von wei�er Farbe und ziemlich lang. Den Fu� bekleideten niedrige Lederschuhe, die aber keine Abs�tze hatten. Die Stelle des Rockes vertrat der lange Chalat — der aus kostbaren Wollstoffen bestand. Die niedere Klasse trug an Werktagen Kleider aus Demi-cotton, an Festtagen aus Rissel — einem billigen Wollstoff — , w�hrend sich die Armen im Sommer mit Nanking, einem Baumwollstoff mit schmalen, dunkelblauen Streifen, im Winter mit grauem, dickem Tuch bekleideten. Dieser Chalat war sehr lang und reichte fast bis auf die Erde. Allein der Anzug w�re nur unvollst�ndig gewesen, wenn nicht �ber die H�ften ein G�rtel herumgeschlungen w�re. Auf diesen G�rtel wurde besondere Sorgfalt verwandt; galt er doch f�r die Erf�llung eines religionsgesetzlichen Gebotes. Er sollte sinnf�llig den reinen Oberk�rper von dem mehr unreinliche Funktionen aus�benden Unterk�rper scheiden. Besonders am Sabbath und an den Feiertagen wurde mit dem G�rtel ein besonderer Luxus getrieben. Selbst M�nner niedrigen Standes pflegten zur Weihe der Feste einen seidenen G�rtel zu w�hlen.

Die Kopfbedeckung der Armen war an Wochentagen eine M�tze, die an beiden Seiten Klappen hatte, die meistens [189] aufgeschlagen waren, im Winter aber �ber die Ohren heruntergezogen werden konnten. An der Stirnpartie hatten diese M�tzen ebenso wie an den Seitenfl�chen dreieckige Pelzflecke. Diese M�tze nannte man �Lappenm�tze�. Ich wei� nicht, woher dieser Name stammt; vielleicht gaben die Ohrenklappen diese Bezeichnung, vielleicht aber hat auch die �hnlichkeit mit der Kopfbedeckung der Lappl�nder diesen Namen gezeitigt. Unter dieser M�tze trug jeder Jude, welchen Standes oder Berufes er auch sein mochte, ein Sammetk�ppchen, das eigentlich niemals vom Haupte verschwand, galt es doch fast als ein schweres Vergehen, b'kalaus rosch, mit entbl��tem Haupte umherzugehen. Nat�rlich wurde dieses K�ppchen vom Kopfe auch nicht entfernt, wenn man bei Nachbarn zu Gaste war.

Sommer und Winter trugen die Wohlhabenden eine Zobelm�tze, die �Streimel� hie�. Sie war hoch, lief spitz aus und war eine, wenn nicht immer mit Zobel, so doch mit teuren Pelzstreifen besetzte Sammetm�tze. Unter diesen M�tzen lugten die Pejes hervor, breite Haarstr�hnen, die sich fast bis unters Kinn hinschl�ngelten. Als besonders sch�n galten gekr�uselte Pejes und es war ein edler Ehrgeiz, nicht nur der gl�cklichen Besitzer von lockigem Haar, sondern auch der Straffhaarigen, lieblich geringelte Pejes zu besitzen. Die Pejes waren direkt ein Requisit des denkenden Menschen. Eine ernsthafte Diskussion war gar nicht m�glich, ohne da� die M�nner mit dem Zeigefinger die Pejes drehten. Und nun gar beim Lernen des Talmuds war dieses Spiel eine fast automatische Besch�ftigung. Man zog die besten Gedanken gewisserma�en aus den Pejes. Und ich habe so manches Mal die Empfindung gehabt, als habe das Talmudstudieren seine Intensit�t, seine logische Sch�rfe deswegen verloren, weil [190] die Pejes dem gr�belnden Forscher nicht mehr zur — Hand sind.

Es gab Leute, die mit besonderem Wohlgefallen sich m�glichst lange, bis auf die Schultern reichende Pejes wachsen lie�en. In unserer Stadt gab es einen gro�en Gelehrten, einen Iluj, der den ganzen Tag die T'fillim schel rosch trug, freilich bedeckt von den dar�ber gestrichenen langen Pejes. So �hnlich tr�gt auch Reb Jankew Meyer aus Minsk die Pejes �ber den T'fillim schel rosch, dieser fromme Mann, der fast wie ein Heiliger verehrt wird und dessen Gespr�che nie enden, ohne da� er mahne: �Kinder, gibt Geld far orme Leut�.

Der lange Rock aus Seide, der G�rtel, die Pelzm�tze und die ber�hmten Pejes mu�ten nun entfernt werden. Schwer fanden die M�nner sich in ihr Schicksal. Sie h�tten es vielleicht leichter getragen, wenn man ihnen wenigstens die Schl�fenlocken gelassen h�tte. Sie erst gaben den Juden — in der damaligen Auffassung — die Gott�hnlichkeit. Nun war das Zelem elohim dem j�dischen Volk genommen.

An die Stelle der alten Tracht trat nun eine modische. Die M�nner mu�ten einen schwarzen Rock tragen, der aber nur bis zu den Knien reichen durfte. An die Stelle der kurzen Kniehosen traten lange Beinkleider, die bis �ber die Stiefel fielen. Im Sommer mu�ten die M�nner einen Hut tragen, im Winter eine M�tze. Sie war aus schwarzem Tuche plump gefertigt und hatte vorne einen Schirm. Man nannte sie Kartus. Die strengen Befehle der russischen Regierung galten freilich nur den Stra�enkleidern. Bis ins Haus drang das Kleider-Reglement nicht. Und man wird ohne weiteres begreifen, da� sich es sehr, sehr viele Juden nicht nehmen lie�en, daheim die Kleidung zu tragen, die ihnen allein gefiel — die alte Tracht. Auch [191] wenn es dunkel war, sah man oft Juden umherlaufen wie einst.

Dagegen wurden, scheints, von den russischen Beh�rden keine Einwendungen erhoben. Bei der elenden Beleuchtung, die in jenen Zeiten die relativ kleinen St�dtchen abends und nachts hatten, konnte ja die Tracht ohnehin nicht auffallen. Da� Ausnahmen von den allgemeinen Bestimmungen m�glich waren, kann bei der damaligen Verwaltungstechnik durchaus nicht Wunder nehmen; konnte man sich doch durch eine bestimmte Abgabe f�r die Dauer von zwei Jahren die Beibehaltung der alten Tracht erkaufen!

Ebenso tiefgreifende �nderungen wie die Tracht der M�nner erfuhr die Kleidung der Frauen. Und man kann wohl behaupten, ohne da� man dem Vorwurfe eines Lobredners der alten Zeit zu verfallen braucht, da� der Tausch nicht gerade ein g�nstiger war. Die Tracht der j�dischen Frauen in litauisch Ru�land wies bis dahin bis in viele Einzelheiten hinein orientalischen Charakter auf. Sie war bunt und bei den Reichen sehr kostbar, es wurden recht gro�e Summen auf kostbare Stoffe und k�nstlerisches Geschmeide verwandt. Das sehr lange Hemd war hoch geschlossen und aus feinstem Linnen gefertigt. Unterr�cke und Beinkleider waren selbst den Frauen der vornehmsten Familien unbekannt. Die langen Str�mpfe der heutigen Mode waren damals nicht �blich. Sie reichten nur bis zum Knie herauf. Ihre Farbe war immer wei� und bei den Damen der reicheren Familien waren durchbrochene Str�mpfe beliebt. — Gummiband war damals noch garnicht im Gebrauch. Und so hielt man denn die Str�mpfe durch breite Atlasb�nder, die sich oft an mit Kreuzstichen bestickten Strumpfb�ndern befanden. Auch gestrickte und geh�kelte Strumpfb�nder wurden vorn mit solchen Schleifen geschlossen. Mechanische [192] Verschl�sse aus bronziertem Blech oder anderm Metall stellte die damals noch kaum entwickelte Eisenkurzwarenindustrie den Damen nicht zur Verf�gung. — Die Schuhe hatten eine gro�e �hnlichkeit mit Sandalen. Sie waren sehr niedrig und hatten keine Abs�tze. Am Fu� wurden sie durch schmale, schwarze B�ndchen festgehalten, die kreuzweis verschlungen, oft bis zu den Waden hinaufgef�hrt wurden. Diese Schuhe waren aus schwarzem Wollstoff oder Saffianleder gefertigt und wurden zu allen Jahreszeiten getragen. Von hohen Stiefelchen und Galoschen hatte damals niemand eine Ahnung. So sehr auch bis in alle Einzelheiten die Fu�bekleidung der alten Zeit verschieden war von den Formen, die man in den n�chsten achtzig Jahren im Gebrauch sah, so hatten sie doch eine prinzipielle �bereinstimmung. Die weibliche Natur konnte sich auch damals nicht verleugnen und, dem Charakter jener Tracht entsprechend, die mit ihrem Goldschmuck die Eitelkeit besonders betonte, w�hlte man die Sandalen sehr klein und sehr eng und manche Frauen hatten einen etwas trippelnden Gang.

�ber dem Hemd trugen die Frauen ein Mieder aus Seide. Rosa und rot waren hierf�r als Farben besonders beliebt. Vorne war das Mieder zum Schlie�en. Durch gro�e silberne �sen wurde ein breites, seidenes Band gef�hrt mit Hilfe einer oft bis 8 cm langen silbernen Nadel, in die das Band endigte.

Die Obertaille war sehr kurz. An ihrem unteren Rande waren drei Rollen angen�ht, die aus Watte bestanden, welche mit steifem Kattun �berzogen war. Auf diesen Rollen ruhte der Rock. Ruhte ist eigentlich falsch gesagt: er war vielmehr von einer b�sartigen Unruhe und hatte die nat�rliche Tendenz, von diesen Rollen herabzugleiten. Und so wie bei der heutigen Mode die Frauen vielfach gezwungen sind, an ihren Blusen herumzunesteln, [193] so m�hten sich die damaligen J�dinnen ab, den Rock auf die Rollen zu ziehen. Und es war nichts seltenes, da� die Geplagten sich bei dem ununterbrochenen Zurechtschieben des Rockes die Finger wund rieben. Die �rmel waren sehr eng und so lang, da� sie oft bis an die Finger reichten. Die ganze Obertaille war ringsum mit Pelzwerk eingefa�t und es war nat�rlich, da� mit diesem Pelzwerk ein besonderer Luxus getrieben wurde. Vornehme Frauen w�hlten immer Zobel. Die Halspartie war abgeschlossen durch einen Stehkragen, der auch im Sommer niemals fehlen durfte.

Diese Obertaille hatte ungef�hr die Form der heutigen Figaro- oder Bolero-J�ckchen. Sie war vorn offen, so da� das Mieder so weit zu sehen war, als es nicht von dem Brusttuch verdeckt war. Als Stoff f�r diese Obertaille diente das Karpo-Voluska (Karpfenschuppen). Dieser Name war durchaus zutreffend. Es waren silberne, mattvergoldete Sch�ppchen so dicht nebeneinander befestigt, da� das Wollgewebe fast garnicht mehr zu sehen war. Heut sieht man derartige Stoffe eigentlich nur noch an Maskenkost�men.

Auf das Brusttuch wurde ganz besondere Sorgfalt verwandt. Man w�hlte dazu silber- und goldgestickte Stoffe, die eine echt orientalische Zeichnung hatten. Halbmonde waren eigentlich am beliebtesten.

Die obere Partie war mit wei�en Spitzen bedeckt, die aus Frankreich bezogen wurden. Diese Blonden waren meist aus Flock- und Cordon-Seide und wiesen au�erordentlich k�nstlerische Muster auf.

Einen ganz besonderen Schnitt hatte der Rock. Er war au�erordentlich eng, kaum einen Schritt weit und nat�rlich immer fu�frei. Am meisten bevorzugt f�r diesen Rock wurde [194] der Atlas. In Zwischenr�umen von etwa zwei Querfingern zogen sich L�ngsstreifen den Rock herab aus feinsten, golddurchwirkten Stoffen. Ich entsinne mich noch ganz genau des Kleides meiner Mutter. Da waren die Muster dieser Borte �bereinandergereihte Ellipsen, die ein feines Bl�ttchen einschlossen. Nur die vorderen Teile des Rockes waren nicht mit diesen kostbaren Goldborten versehen, soweit sie von der Sch�rze �berdeckt waren. Die Sch�rze war ein unbedingtes Erfordernis f�r ein vollst�ndiges Kost�m. Sie wurde auch auf der Stra�e und selbstverst�ndlich bei allen Festlichkeiten getragen. Sie war lang und reichte bis zum Saum des Rockes. Die wohlhabenden Frauen verwandten bunten Seidenstoff oder einen wei�en, kostbaren Battist, der mit Samtblumen und k�nstlerisch feinen Mustern und Goldf�den bestickt war. (Die �rmeren begn�gten sich mit Wollstoffen oder farbigen Kattunen.) Den Stoff des Rockes mit seiner Abwechslung zwischen bestickten L�ngsstreifen und Atlasstreifen nannte man ganz allgemein in Littauen �G�ldengestick�.

�ber diesem Anzug wurde eine Art Mantel getragen, die Katinka. Die �rmel dieses Kleidungsst�ckes hatten eine weite Glockenform. Sie waren oben bauschig und unten schmal. Diese Katinka war sehr lang und hatte vorn ganz glatte Breiten. Der R�cken war in der Taille anschlie�end. Als Stoff wurde meistens Atlas verwandt, und da es sich bei der Katinka meist um ein Kleidungsst�ck f�r die k�ltere Jahreszeit handelte, war sie wattiert und mit Wollstoff gef�ttert. Reichere Damen lie�en sie mit Atlas f�ttern. Und ich entsinne mich noch, da� meine Mutter, die besonderen Wert auf sorgsame Kleidung legte, eine mit blauem Atlas gef�tterte Katinka trug.

Dieser Mantel wurde aber nur selten wie ein �berzieher [195] getragen. Wahrscheinlich, weil er den besonders kostbaren Anzug verdeckte und nicht zur Geltung brachte. So war es �blich, den Mantel einfach �ber die Schultern zu werfen, so da� die �rmel auf dem R�cken herunterhingen. Manche Frauen, besonders die Gabbetes, diese Helferinnen der Armen, pflegten nur einen �rmel �berzuziehen, den andern aber �ber die Schulter fallen zu lassen. Wir w�rden das heute als recht leger und einer vornehmen Dame unw�rdig bezeichnen. Damals galt es aber als standesgem��. So �ndern sich eben die Zeiten und so wandelt sich der Geschmack.

Weitaus die gr��te Aufmerksamkeit verwandten Reiche und Arme auf den Kopfputz. Bei den Reichen stellte er sogar eines der wesentlichsten Verm�gensst�cke dar. Dieser Kopfputz bestand aus einer schwarzen Sammetbinde, die dem Kokoschnik der Russinnen sehr �hnlich sah. Der Rand war in grotesken Formen ausgezackt und mit gro�en Perlen und Brillantsteinen reich besetzt. Dieser Kopfputz wurde oberhalb der Stirn getragen. Den Hinterkopf bedeckte eine glatt anliegende Haube, die man Kopke hie�. In der Mitte dieser Kopke war eine Schleife aus T�llband und Blumen befestigt. �ber den Nacken zog sich von einem Ohre bis zum andern eine Spitzenkrause, an der in der N�he der Augen, an den Schl�fen kleine Brillantohrringe angebracht waren. Nat�rlich fehlten auch Ohrringe nicht, und es war bei den vornehmen Frauen �blich, sehr gro�e Brillanten in den Ohren zu tragen. Die h�bschen Frauen sahen au�erordentlich vorteilhaft in diesem Schmuck aus, aber man mu� auch gestehen, da� die — sagen wir: weniger h�bschen durch den Kopfputz recht schmuck erschienen. Diese kostbare Binde bildete einen Hauptbestandteil der Ausstattung einer Frau. Und man konnte niemals eine Frau ohne diesen Zierrat sehen.

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Am Halse wurden Ketten aus gro�en Perlen getragen, die oft einen wundersamen, silbergrauen Schimmer hatten. Da� die Finger mit Brillantringen geziert waren, versteht sich nach alledem von selbst. Ja, man kann sagen, da� oft des Guten und Sch�nen beinah zu viel war: die Finger verschwanden ganz unter dem glitzernden, kunstvoll gearbeiteten Geschmeide.

Man wird sich vielleicht �ber dieses Prunken mit Edelsteinen, Perlen und kostbaren Metallen wundern und die j�dische Frau jener Zeit als geschmacklos eitel und unertr�glich putzs�chtig bezeichnen. Gewi�, sie verstanden sich zu kleiden und zu schm�cken. Aber die �berladenheit war gewisserma�en aus gesch�ftlichen Gr�nden geboten. Da die ungewisse Lage jener Zeit, dieses bohrende Gef�hl der Unsicherheit und weiterhin die unsicheren Rechtsverh�ltnisse den Besitz von Immobilien fast ausschlossen, so wurde ein gro�er Teil des beweglichen Kapitals in leicht transportablen Wertst�cken angelegt. Nach dem Reichtum an Schmuck, den die Frau trug, wurde die Kreditf�higkeit des Mannes eingesch�tzt.

Festliche Gelegenheiten gaben den Anla�, diesen ganzen Reichtum zu entfalten: Die hohen Feiertage und Hochzeiten. Am Lag b'omer, dem 33. Tage der S'fire-Zeit zwischen Pesach und Sch'wuaus, an dem die strenge Trauer der S'fire-Zeit unterbrochen werden konnte und an dem immer eine gr��ere Anzahl sommerlicher Hochzeitsfeste begangen wurde, konnte man so recht die ganze Pracht bewundern. Und man kann vielleicht sagen, da� die Frauen den ganzen, leicht transportablen Reichtum des Hauses mit sich herumtrugen. Ich betone: die Frauen, denn bei den M�nnern war jeder Schmuck arg verp�nt, war doch auch damals die Sitte im allgemeinen nicht in �bung, da� die M�nner auch nur Trauringe trugen.

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Der Kopfputz der jungen Frauen (�Schleier�) war nat�rlich ungleich bescheidener, aber auch recht bunt und fast abenteuerlich: Eine gelbe, gr�ne oder rote Haube aus Wollenstoff oder Kattun mit einem T�ll- oder Mousselin-Schleier bedeckt, der im Nacken zu einer Schleife gebunden war und dessen Enden lang herabhingen. Man nannte diese Enden Foches. Viele alte Frauen trugen gro�e rote Wollt�cher wie einen Turban um den Kopf gewunden. Dieses turbanartige Tuch hie� Knup.

Die Ohrenkrause fehlte am �Schleier� niemals. Gerade in der Mitte �ber der Stirn war mit Stecknadeln ein zu einer Spitze zusammengelegtes Seidenb�ndchen befestigt. Auf dem Scheitel waren T�llspitzen in Form eines K�rbchens festgesteckt, die man Koischel nannte. Auch bei den Armen fehlte weder ein haarfarbenes Band an der Stirngrenze, noch die beiden in der N�he der Augen angebrachten Ringe.

Die Kopfbekleidung der M�dchen war nur unwesentlich von der Frauentracht verschieden, nur da� sich die M�dchen ihres sch�nen Haarschmuckes noch erfreuten. Auch sie trugen eine Art Binde aus schmalem, rotem Wollstoff mit einer Schleife aus dem gleichen Stoffe, den man Tezub nannte. Der Schnitt der Kleider und der Sch�rzen war ebenso wie bei den Frauen. Sie trugen auch die niedrigen Sandalen. Aber das Brustl�tzchen und die Halsspitze, das sogenannte Kreindel schm�ckten sie nicht. Bei den reichen M�dchen war die Kopfbinde aus schwarzem Seident�ll, in den mit roter, blauer oder rosenfarbener Seide sch�ne Knospen eingestickt waren. In der Form unterschieden sich die Binden der Reichen und Armen nicht. Die einfachen nannte man �Greischel�, die Seident�llbinden �Wilnaer Knipel�.

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Die armen Frauen hingen an ihrer Tracht mit au�erordentlicher Liebe, und selbst in der gr��ten Not legte man sich bei allen Bed�rfnissen Zwang an, die Kleidung wurde aber nie ver�ndert. Ich hatte gerade in einem Hungerjahre Gelegenheit, diese Z�higkeit zu beobachten. Viele Leute kamen da in unser Haus, um sich dort Brot zu holen. Man verteilte damals in sehr decenter Form milde Gaben. Meine gute Mutter lie� t�glich 5-6 Pfund schwere Laibe Brot backen, die in einem Flurschrank, dessen T�r absichtlich offen gelassen wurde, f�r die armen Leute niedergelegt waren. Ebenso stand damals bei uns im E�zimmer immer die B�ffett�r offen, damit der eine oder der andere unserer Besucher, die in der schweren Zeit verarmt waren, sich an den dort aufbewahrten Sch�tzen: Brot, Butter, Schnaps, K�se g�tlich tun k�nnten. Uns Kindern war zwar streng untersagt worden, nachzusehen, wer da k�me. Aber wer kann kindliche Neugier ganz niederhalten? Von unseren sicheren Verstecken aus sahen wir die Leute kommen, an deren Haltung, Geberde und Aussehen die bittere Not so manches ver�ndert hatte, nicht aber an deren Tracht.....

Was f�r oft so tragikomische Szenen haben sich damals doch abgespielt! Noch in der Erinnerung wandelt mich ein Lachen an, aber es ist untermischt mit tiefem Weh, Emp�rung und Wut �ber die Entw�rdigung des Menschen.

So ereignete sich an einem Freitag Vormittag im Sommer des Jahres 1845 folgendes: Ich befand mich auf dem Marktplatz der Stadt Brest, wo viele j�dische Weiber zum Einkauf f�r den bevorstehenden Sabbath sich versammelt hatten, als pl�tzlich ein gro�er Tumult entstand. Alles lief durcheinander und str�mte dabei doch einem und demselben Punkt zu. Nat�rlich beeilte ich mich, auch dahin zu gelangen, um die [199] Ursache des Aufruhrs zu erfahren. Aus der Menge h�rte man bald Gel�chter, bald Seufzen. Endlich erreichte ich den Schauplatz und ein emp�render Anblick bot sich mir dar. Ich sah eine j�dische Frau mit (im buchst�blichen Sinne des Wortes) entbl��tem Kopfe, da ihr Haar, nach der talmudischen Vorschrift f�r verheiratete Frauen, abrasiert war. Dies ungl�ckliche Opfer stand so umringt von der Volksmenge, ganz entsetzt da, einerseits wegen der S�nde, barh�uptig unter freiem Himmel zu sein (was nach j�discher Anschauung ein gro�es Vergehen war), andrerseits voll Scham vor den gaffenden Menschen, und flehte mit vor Tr�nen erstickter Stimme den neben ihr stehenden Polizeimann um Gnade an, der ihr mit nicht allzu zarter Hand den Kopfputz abgerissen hatte und ihn jetzt als Troph�e hoch empor hielt und sch�ttelte, was das Publikum zu unaufh�rlichem Gel�chter anregte. Die bedauernswerte Frau suchte mit der einen Hand den kahlen Kopf mit dem Zipfel ihrer Sch�rze zuzudecken, w�hrend die zweite Hand in der Tasche herumst�berte, um die dort aufbewahrte Haube nach der neuen, russischen Vorschrift herauszuholen. Dabei schrie die Ungl�ckliche unaufh�rlich im j�mmerlichsten Ton: �Panotzik Panotzik! Hier, da hab ich, da ist ja in der Tasche der Lappen!� Sie hatte endlich die Haube auf den nackten Kopf gesetzt, was sie entsetzlich verunstaltete. Da erst beruhigte sich der Scherge und ging fort.

Bald f�hrte ihm das Schicksal ein zweites Opfer zu. Diesmal war es ein armer Jude, der in einem langsch��igen Kaftan auf den Marktplatz kam. Der Polizeimann empfing ihn mit nicht sehr schmeichelhaften Ausdr�cken. Indem er einen zweiten Polizisten herbeirief, hie� er den vor Angst zitternden Juden stehen bleiben, griff nach einer gro�en Schere, die er stets [200] bei sich trug, und nun schnitt er, unterst�tzt von seinem zweiten Amtskollegen, dem Juden die langen Sch��e des Kaftans nach Art eines Fracks ab, wodurch die (Unter-) Beinkleider zum Vorschein kamen. Dann ri� er dem Bedauernswerten die Kopfbedeckung ab und schnitt ihm die Pejes so nahe am Ohr ab, da� der Arme vor Schmerz aufschrie. Alsdann gab er sein Opfer frei, und das Marktvolk gab dem so zugerichteten Juden unter lautem Gejohle das Geleit.

Derartige Exekutionen kamen auch auf der gro�en Landstra�e vor. Begegnete ein Polizist da einem Juden in alter Tracht und hatte er gerade keine Schere bei sich, so war er der Ansicht, da� er sich durch diesen Umstand von der Aus�bung seiner Pflicht nicht zur�ckhalten lassen d�rfe. Statt der Schere bediente er sich zweier Steine und zwar so, da� er den Juden seitlich zur Erde legte, die Peje �ber einen Stein spannte, der dicht neben der Wange zu liegen kam, und mit einem zweiten Stein so lang auf die Peje losrieb, bis sie durchgewetzt war. Der arme Jude litt dabei nat�rlich schreckliche Qualen.

Diese Vorg�nge klingen heute unglaublich. Aber diese �u�erlichen Leiden und Trag�dien waren doch nur im kleinen ein Bild der gro�en Umw�lzungen, die sich vorbereiteten.

Wer behauptet das ein mädchen nützlicher ist als 20jungen

Druck: Beyer & Boehme, Berlin S. 42, Wasserthorstr. 50.



Notizen des Bearbeiters:

Die hebr�ischen Schriftzeichen auf S.22 und S.23 wurden durch die entsprechenden Unicode-Zeichen ersetzt.

Nicht konsistente Schreibweisen wurden so belassen, wie sie gedruckt wurden (Bsp.: Zizes und Zizis)


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