Many Shades of Gender - Ein FAQ zu den Gender Studies (2019)von Paula-Irene Villa Braslavsky, seit 2008 Professorin für Allgemeine Soziologie und Gender Studies an der LMU München; In diesem FAQ werden viele
Fragen zum Thema ‘Gender’ aus der Sicht der entsprechenden Wissenschaft, also den ‘Gender Studies’ beantwortet. Diese Fragen sind allen, die zum Thema ‘Gender’ forschen oder sich damit befassen, immer wieder begegnet. Die nachfolgende Liste ist keine allumfassende oder abschließende Darstellung, sondern bietet Klärung, einige Antworten und vor allem weitere Hinweise zur eigenen Auseinandersetzung. Wie möchten hiermit zur Versachlichung und Verständigung
der Debatte beitragen; gegen Diffamierungen, raus aus den Schleifen wechselseitiger empörter Missverständnisse. Sind Geschlechtsunterschiede nicht angeboren? Das ist eine wichtige und interessante Frage. Sie wird in vielen Disziplinen gestellt und beschäftigt Natur- wie Sozialwissenschaften seit Jahrzehnten. Sie ist allerdings auch kaum in der Eindeutigkeit beantwortbar und daher womöglich falsch gestellt. Das liegt daran, dass Menschen biosoziale Lebewesen sind. Es gehört zur sozialen Natur des Menschen, die Welt (die natürliche Mitwelt, die physikalische Umwelt, die symbolische Welt der Zeichen und Sprache usw.) wie auch sich selber - ausdrücklich einschließlich auch den eigenen Körper - zu gestalten. In diesem Lichte sind Sozialität und Natürlichkeit tatsächlich immer miteinander verschränkt. Das bedeutet, dass sich Soziales nie unabhängig vom Biologisch-Materiellen realisiert (kein Denken, Sprechen, Lieben usw. ohne Gehirn, keine Praxis ohne Nerven und Muskeln, keine Partnerschaft oder Familie ohne physiologische Erregungen usw.), wie auch dass das Biologisch-Materielle immer auch sozial geprägt ist (wie aktuell etwa Epigenetik, Hormon- und Stoffwechsel, Adipositas usw. zeigen). Das konkretisiert sich nicht zuletzt ja darin, dass die körperliche Natur des Menschen zwar nicht beliebig oder unendlich, aber doch ganz wesentlich plastisch ist. Es gibt zwischen Menschen auf der biologischen Ebene durchaus Unterschiede, die durchaus ‘so gegeben sind’ und als geschlechtlich gelten: Etwa chromosomale Ausstattung oder die reproduktiven Organe wie Gebärmutter oder Hodensäcke. Derartige Organe, Körperformen, deren Funktionen erkennen die Gender Studies selbstverständlich an. Allerdings weisen die Gender Studies die alltagsweltliche und auch historisch oft zu
Unrecht formulierte Annahme zurück, dass sich aus Chromosomen, Gebärmutter oder möglichen Hirndifferenzen ganze ‘Geschlechtlichkeiten’ kausal ergeben. Das heißt, die Gender Studies fragen - möglichst offen - danach, was sich aus ‘angeborenen’ Qualitäten ergibt, und auch: was nicht. Vielfach haben die Gender Studies in diesem Sinne aufklären und zeigen können, dass auch die modernen naturwissenschaftlichen Tatsachen und dass so manche alltägliche Vorstellung davon, was an Geschlecht angeboren und
was erlernt oder auch nur vermeintlich geschlechtlich ist, doch ziemlich vorurteilsbehaftet ist. Wir wissen heute, auch den Gender Studies sei dank, dass es nicht angeboren ist, dass nur Männer Flugzeuge fliegen oder nur Frauen sich um kleine Kinder kümmern können. Wir wissen heute, dass das was zunächst als angeboren gilt, sich bisweilen als (auch) sozial geprägt und sozial wandelbar erweist. Wir wissen heute ebenso, dass es Körperlichkeiten, Materialitäten, biologische Tatsachen gibt, die
Geschlechtlichkeit mit-prägen. Die Forschung dazu hält an, und auch wenn die Dualität von ‘angeboren’ vs. ‘anerzogen’ bzw. ‘nature’ vs. ‘nurture’ letztlich weder sozial- noch biowissenschaftlich sinnvoll ist, so ist doch die Suche nach unterschiedlichen Ontologien des Geschlechts hoch produktiv und auch relevant. Es kommt schließlich noch hinzu, dass auch die wesentlich angeborenen oder gegebenen Aspekte von Geschlecht hoch komplex und dynamisch sind. Zum Weiterlesen:
Werden Jungs in der Schule benachteiligt? Diesen Eindruck kann man bisweilen haben, wenn man bedenkt und sieht, wie sehr Mädchen und Frauen tatsächlich seit der sogenannten Bildungsexpansion in Westdeutschland der 1960er und 1970er Jahre im Bereich Bildung aufgeholt haben. Junge Frauen machen inzwischen mindestens 50% der Abiturient_innen aus, und sie machen im Schnitt so gute
Abiturabschlüsse wie junge Männern. Allerdings: von der Bildungsexpansion haben auch Jungs und junge Männer profitiert. Das heißt, beide Geschlechter stehen typischerweise schulisch besser da als vor Jahrzehnten - “je jünger Frauen und Männer sind und damit je kürzer ihre Schulzeit zurückliegt, desto niedriger ist der Anteil der Personen mit einem Hauptschulabschluss. Gleichzeitig erreicht ein immer größerer Anteil der Schüler die Fachhochschul- oder Hochschulreife”, so zusammenfassend das
Demographie-Portal des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (https://www.demografie-portal.de/SharedDocs/Informieren/DE/ZahlenFakten/Schulabschluss_Alter_Geschlecht.html). Zum Weiterlesen:
Wollen die Gender Studies das Geschlecht abschaffen? Die Gender Studies wollen insgesamt weder Geschlecht abschaffen noch, wie manchmal auch vermutet wird, es allen aufzwingen. Vielmehr wollen die Gender Studies forschend herausfinden, wo wie für wen warum in welcher Weise und mit welchen Folgen Geschlecht überhaupt eine Rolle spielt (oder auch nicht). Dabei hat sich im Laufe der Forschung, insbesondere in historischer Hinsicht gezeigt, dass ‘Geschlecht’ im Laufe der Geschichte sehr Verschiedenes bedeutet hat (z.B. in
Bezug auf Männlichkeit https://www.univie.ac.at/igl.geschichte/maennlichkeiten/Mueller/literatur_maennlichkeiten.htm; Waldner o.J. für die Altertumswissenschaften; https://www2.hu-berlin.de/nilus/net-publications/ibaes2/Waldner/text.pdf), auch körperlich (z.B. Laqueur 1993) sein kann. Auch im regionalen Vergleich, oder entlang von religiösen oder kulturellen Differenzen kann Geschlecht enorm
variieren. Zudem hat sich in empirischen Studien gezeigt, dass ‘Geschlecht’ ganz Unterschiedliches und nicht etwas immer Gleiches meinen muss (eine Übersicht zur Forschung in der Anthropologie bei Shahrokhi o.J.: https://www.eolss.net/sample-chapters/C04/E6-20D-68-22.pdf oder für die Ethnologie S. Schröter
http://www.bpb.de/apuz/135446/grenzverlaeufe-zwischen-den-geschlechtern-aus-ethnologischer-perspektive?p=all): Geschlecht bezieht sich im Alltag auf Gefühle, Sexualität, Körper, Tätigkeiten, Lebensentwürfe, Identität, Zuständigkeiten usw. All’ dies zusammen genommen bedeutet, dass es gar nicht so klar ist, wie und als was ‘das Geschlecht’ fest zu machen ist.
Geschlechtlichkeit ist, wie manchmal in der Forschung gesagt wird, prekär oder fragil; eine hoch wirksame und wichtige ‘Uneigentlichkeit’ gewissermaßen. Diese Uneigentlichkeit hat Folgen. Auch wenn Geschlecht bei näherer Betrachtung gar nicht so eindeutig ist, zeigen sich dann aber oft eindeutige Folgen in Bezug auf soziale Ungleichheit (Pay Gap, Pension Gap, Zeitverwendung auf unbezahlte und bezahlte Arbeit). Gender Studies wollen also weder Geschlecht wichtiger machen als es ist, noch es
abschaffen, sondern herausfinden, wieso etwas, das gar nicht so einfach und eindeutig und immer gleich bestimmbar ist, sich in sozialer Ungleichheit verhärtet. Gleichstellung ist doch längst erreicht, womit beschäftigen sich die GS denn noch? Dass Gleichstellung noch nicht erreicht ist, zeigen nicht nur offizielle Statistiken, so wie die der WHO zum Thema Gewalt gegen Frauen (https://www.frauen-gegen-gewalt.de/de/gewalt-gegen-frauen-zahlen-und-fakten.html), sondern auch aktuelle Debatten zu Themen wie Abtreibung, Altersarmut, Pflegenotstand oder
Quotenregelungen. Frauen tragen die Risiken von Schwangerschaft und Geburt, verdienen weniger, arbeiten in schlechter bezahlten Berufen oder andersherum: Berufe, in denen mehrheitlich Frauen arbeiten sind schlechter entlohnt, haben weniger Aufstiegschancen und Prestige. Das führt zu einem erhöhten Risiko von Altersarmut, flankiert von institutionellen und gesetzlichen Arrangements wie dem Ehegattensplitting. Gleichstellung ist also nur in dem Maße erreicht, wie festgeschrieben ist, dass Männer
und Frauen gleichberechtigt sind. Empirisch aber zeigt sich, das erforschen die Gender Studies mit Methoden der Soziologie und Ökonometrie, dass Frauen nach wie vor ein höheres Risiko haben, arm zu sein und sexualisierter Gewalt zu erfahren, um nur die beiden prägnantesten Marker sozialer Ungleichheit zu benennen. Männer sind doch auch Opfer, z.B. ist die Suizidrate bei Männern höher als bei Frauen, ihre Lebenserwartung ist geringer als die von Frauen, sie sind auch Opfer von Gewalttaten. Warum befassen sich die GS nicht damit? Tatsächlich wird insgesamt in den Gender Studies weniger - manche Kolleg_innen in den Gender Studies meinen auch: zu wenig - zu Männlichkeit und zur Situation von Männern geforscht als zu Frauen. Was jedoch nicht bedeutet, dass Männer und Männlichkeiten übersehen würden. Vielmehr hat sich seit ca. 20 Jahren ein ganzer Strang innerhalb der Gender Studies etabliert (https://www.bpb.de/apuz/144861/wie-aus-jungen-maenner-werden?p=all; für die Geschlechtergeschichte vgl. Martschukat/Stieglitz 2018), der (manchmal: ‘kritische’) Männlichkeitsforschung betreibt (Schölper 2008). Dabei geht es um sehr viele sehr unterschiedliche Themen, etwa
Diese Liste ließe sich noch sehr, sehr lange fortsetzen. Das heißt, es wird reichlich zu Männern geforscht, auch zu ihren Risiken oder Benachteiligungen. Mehr Forschung geht allerdings immer.
Diese Frage ist angesichts der aktuellen Debatten rund um Flucht, Religion/Kultur und Geschlechterfragen mehr als berechtigt. Das Thema ist wichtig. Und tatsächlich lässt sich sagen: darüber wird zu wenig geforscht. Was nicht heißt, dass das gar nicht stattfindet.
Diese Liste ließe sich fortführen. Gleichwohl bleibt es doch so, dass zum
Themenkomplex unbedingt mehr geforscht werden sollte, insbes. im empirischen Kontext von Flucht und Integration hier und heute. Diese Forschung sollte jenseits von pauschalen Vor-Urteilen und diesseits von Ängsten vor ‘falschen’ oder inopportunen Ergebnissen geschehen. Womöglich, so ließe sich vermuten, gibt es in den Gender Studies durchaus eine gut gemeinte Sorge, bestimmte Gruppierungen - ‘die Muslime’ oder ‘die Flüchtlinge’ - nicht vorab als gegebene homogene Einheit zu setzen. Dies wiederum
basiert wahrscheinlich aus einer gut begründeten Skepsis gegenüber hoch problematischen und aus der deutschen wie internationalen Geschichte wohl bekannten und berüchtigten ‘Versämtlichungen’ (‘die Frauen’, ‘die Schwulen’, ‘das Mädchen usw.). Es gibt auch eine gute begründete Skepsis gegenüber der Frage nach der (angeblichen oder tatsächlichen, das wäre eben die Frage) Frauenverachtung oder der gewaltsamen Sexualität muslimisch sozialisierter Männer - aus politischen Gründen. Denn wir haben in
den letzten Jahren durchaus erlebt, wie die ebenso heikle wie vielschichtige und ganz und gar nicht neue Thematik sexualisierter/vergeschlechtlichter Gewalt (etwa gegen Frauen) ideologisch und politisch in extrem affektiver Weise instrumentalisiert wurde. Und noch wird. Bei den Gender Studies gibt es nur Frauen, vor allem auf den Professuren. Werden da nicht Männer diskriminiert? Es stimmt, bei den Professuren und den festen Stellen in den Gender Studies gibt es auffällig wenig Männer (vgl. https://www.mvbz.org). Über die Gründe ist wenig geforscht, darüber lässt sich also nur spekulieren. Einerseits mag der geringe Männeranteil daran liegen, dass nach wie vor sich deutlich mehr Frauen als Männer für diesen Studien-, dann auch Forschungsschwerpunkt interessieren. Denn sehr oft gilt noch die stereotype Form: wo Geschlecht oder Gender drauf steht, sind Frauen drin. Zum anderen kann es gut sein, dass Frauen in diesem Feld eher gesehen und gefördert werden. Angenommen werden kann aber zugleich, dass die meisten im Feld sich bemühen, allen Geschlechtern faire Chancen zu geben und alle Geschlechter auch als Interessierte zu adressieren. Anders gesagt: wir möchten gern Männer und alle Geschlechter ermutigen, sich in diesem Forschungsbereich ernsthaft zu engagieren! Das Geschlecht ist „nur konstruiert“, sagen die Gender Studies. Was soll das heißen? Dieser Satz beruht auf einem Mißverständnis - denn so einfach ist es beileibe nicht. Korrekter wäre es zu sagen, dass das Geschlecht auch sozial konstruiert ist. Die Gender Studies negieren nicht biologische oder medizinische Forschungen, das ist ein populäres Missverständnis. Manchmal wird dieses Missverständnis auch als Argument gegen
die Gender Studies vorgebracht, um deren Forschung zu diskreditieren (zum Beispiel weil diese Forschung mit Emanzipation von Frauen oder der Akzeptanz von Homosexualität in Verbindung gebracht wird).
Die Ausbreitung der GS an den Unis geht zu Lasten anderer Fächer. Die Gender Studies stehen im Gros nicht im Konkurrenzverhältnis mit anderen Disziplinen. Im Gegenteil verorten sich die meisten Gender-Wissenschaftler_innen in
mehreren Disziplinen. Gender Studies wirkt demnach in verschiedenen Disziplinen mit und erweitert diese. Zugleich sind im deutschsprachigen Raum ca. 0,4% (Stand 2016) aller Professuren mit einer klaren, eigenen (Teil- oder Voll-)Denomination für (manchmal Frauen- und) Gender Studies/Geschlechterforschung ausgewiesen. Das ist keine derart bedeutender Anteil, als dass er andere Fächer oder Disziplinen wirklich verdrängen könnte. Zahlen und genaue Auflistung der Professuren sowie Gender Studies
Zentren finden sich hier: Zuordnungen von Professuren und Ausrichtungen von Lehr- und Forschungseinheiten werden von Instituten und Universitäts- oder Hochschulleitungen, manchmal auch von Stiftungen oder öffentliche Forschungsmittelgeber vorgenommen. Geschlecht spielt doch oft gar keine Rolle, es sind die Gender Studies die das so überschätzen. Es stimmt, das Geschlecht in vielen sozialen Situationen keine oder eine sehr geringe Rolle spielt. Aber warum sollte das wissenschaftlich uninteressant sein? Gender Studies geht es ja nicht darum, immer und überall die Betonung des Geschlechts zu betonen, sondern danach zu fragen, weshalb der kleine Unterschied manchmal hohe Relevanz besitzt und manchmal auch keine. Interessanterweise ist es auch oft gar nicht so einfach vorherzusagen, wann eine Situation
mit Geschlecht aufgeladen wird. Auch diese Varianz in sozialen Situationen ist aus geschlechterwissenschaftlicher Perspektive spannend. Schon kleinste Kinder kennen den Unterschied zwischen Mann und Frau und orientieren sich daran. Was haben die GS dagegen? Nichts - warum auch? Es ist aber spannend zu erforschen, ob diese Aussagen so zutreffen und wie das zustande kommt. Und ob es immer für alle
so stimmt. Auch ist die Frage, für wen welche Art von Geschlechtsidentität richtig, gesund, sinnvoll, klar usw. ist, die ist gar nicht so einfach verbindlich zu beantworten. Es gibt, mehr oder weniger viele, es gibt aber Kinder, die sich so einfach zu entweder Bub oder Mädchen nicht zuordnen können oder wollen. Es gibt Unklarheiten, Brüche, Uneindeutigkeiten, die interessant oder auch angsteinflößend sind. Darüber lässt sich sprechen und nachdenken. Auch in den Bildungseinrichtungen. Auch mit
Kleinkindern. Mit Sex hat das übrigens zunächst nichts zu tun. Wieso müssen die GS alles gendern? Geschlecht als strukturelle Kategorie ist immer bereits vorhanden und so normalisiert, dass sie nicht mehr wahrgenommen wird. Die Gender Studies machen dies im Zusammenhang mit struktureller Ungleichheit zwischen den Geschlechtern sichtbar. Binnen-I, Sternchen, Unterstrich sind Versuche, Geschlecht nicht mit männlich gleichzusetzen, sondern zu differenzieren, wer eigentlich gemeint ist. Es macht einen großen Unterschied, ob die Arbeitssoziologie bspw. von Arbeitern oder von
Arbeitern und Arbeiterinnen, Arbeiter/innen, ArbeiterInnen, Arbeiter*innen, Arbeiter_innen schreibt. Klingt erst mal lustig, in ersterem Fall aber wird Wissen reproduziert, dass Arbeit männlich ist, etwas mit Muskeln und Stahl und Familie ernähren zu tun hat und sowieso nur Erwerbsarbeit meint. Die anderen Formen weisen darauf hin, dass nicht nur Männer (zur Differenzierung Sternchen etc. s.u.) arbeiten und gearbeitet haben, sondern Frauen auch. Erst wenn wir diesen Umstand konsequent sichtbar
machen, lassen sich auch Wissenslücke mit Bezug auf bspw. Frauenerwerbstätigkeit im neunzehnten Jahrhundert identifizieren. Oder, dass “Arbeiten” und “Muskeln” auch “Kinder rumtragen” meinen könnte. Die Gender Studies “müssen gendern”, weil sonst dem Fach (und den anderen Fächern auch) Wissen verloren geht, bzw. gar nicht erst entstehen kann, darüber, wer denn wo und wie gearbeitet hat. Und das wiederum hat Folgen für aktuelle Debatten zum Thema Arbeit, wie die Tautologie #working mom
beweist. Was sollen diese ganzen Schreib- und Sprechverbote und -gebote, wie z.B. Sternchen, Unterstrich usw.? Das nervt, verhunzt die Sprache, bringt nichts und ändert auch gar nichts an bestehenden Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern. Niemand in den Gender Studies würde behaupten, dass Sternchen oder Unterstriche alle Geschlechterungleichheiten beseitigen. Auch sagt niemand, dass dies das einzige oder gar wichtigste Problem sei. Allerdings weisen viele Studien schon lange und immer wieder neu durchaus darauf hin, dass Sprache unsere Wirklichkeit mit-bestimmt. Sprache, Worte, Begriffe, auch Grammatik rahmen unsere Wahrnehmung und machen die Welt in einer bestimmten Weise erfahrbar. In Bezug auf Geschlecht gibt es Studien die zeigen, dass die männlichen Allgemeinformen (Arzt, Lehrer, Professor, Schüler …) das, worum es jeweils geht, als tendenziell männlich prägen. Das ist nicht alles-entscheidend, schließlich gibt es ja trotzdem Lehrerinnen, Ärztinnen, Professorinnen und Schülerinnen. Aber die gewissermaßen idealtypische Person eines solchen Konzepts wird eher männlich gedacht, die männliche Form ist also die Norm. Daher gibt es seit vielen Jahrzehnten Versuche, andere Geschlechter auch sprachlich abzubilden - was der empirischen Wirklichkeit auch eher entspräche. Dazu gibt es in den Gender Studies viel Forschung, und auch unterschiedliche Ansätze sowie Praxen im eigenen Schreiben, Lehren und Forschen. So ist auch die angemessene Adressierung als Person, z.B. für Menschen, die sich nicht in der binären weiblich/männlich-Form verorten, selbstverständlich wichtig und ein simpler Akt der Anerkennung und der Höflichkeit. Im Übrigen ist ein bewusster Umgang mit den Vergeschlechtlichungen in der Sprache im Allgemeinen und in der Grammatikalisierung im Besonderen weder besonders kompliziert noch verhunzt es zwingend die Sprache bzw. das Sprechen. Es fordert aber die Phantasie heraus. Es gibt Schlimmeres. ;-) Sprech- und Sprachverbote zum Beispiel. Damit haben die Gender Studies nicht viel im Sinn. Wo sie einem, pardon einer, doch begegnen: ansprechen und klären. Ganz wichtig noch: Vorschläge zur Sichtbarmachung von Geschlechtervielfalt verstehen sich als inklusive Praxis und sind im Einklang mit dem Urteil des BVerG zum Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, welches bestehende zweigeschlechtliche Sprachnormen als diskriminierend verurteilt: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2017/bvg17-095.html Zum Zusammenhang von Sprache und Geschlecht:
Frauen und Männer sind doch selber schuld, wenn sie Nachteile erleben: Frauen setzen sich nicht genug durch, sie sind nicht so ehrgeizig wie Männer; Frauen verhandeln in Jobs schlechter oder wollen lieber weniger Verantwortung. Von den Gesellschaftswissenschaften des 20. Jahrhunderts können wir lernen, dass die Zuweisung von Schuld oder Selbstverantwortung an das einzelne Individuum ein häufig genutztes Argument ist. Zur modernen Individualisierung gehört eben auch, dass Menschen - aus guten Gründen - persönliche
Verantwortung für Geschehnisse zugerechnet wird, die jedoch nicht oder nur sehr bedingt in ihrer Kontrolle liegen. Zum Weiterlesen:
Andere soziale Platzanweiser sind doch viel wichtiger als Geschlecht: Einkommen und Bildung z.B., oder Religion und Region. Was stimmt ist, es gibt zahlreiche soziale Platzanweiser zum Beispiel die oben genannten und andere. Diese sind je
nach Person, Situation und Kontext in spezifischer Weise miteinander verschränkt. In der wissenschaftlichen Theorie spricht man von Intersektionalität. Das Zusammenwirken mehrerer Kategorien widerspricht aber nicht der Bedeutung von Geschlecht. Mehr zum Thema Intersektionalität:
http://portal-intersektionalitaet.de/theoriebildung/ueberblickstexte/walgenbach-einfuehrung/ Mit GS lässt sich nach dem Studium nichts Richtiges machen oder werden. Was bringt dann so ein Studium? Ein Studium in den Gender Studies bringt u. a. kritische Reflexionsfähigkeit, trandisziplinäre (Gender-)Kompetenz und Wissen um Machtstrukturen und Diskurse mit sich. Die Gender Studies bringen außerdem kritisches Wissen hervor, welches uns hilft gesellschaftliche Dynamiken zu analysieren und zu verstehen. Als interdisziplinäres Fach vermitteln die Gender Studies wie Geschlecht auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen vermittelt
und hervorgebracht wird: im Film, in der Literatur, in der Wissenschaft, in der Arbeit, in sozialen Beziehungen usw. Diese Bereiche werden von unterschiedlichen akademischen Disziplinen mit unterschiedlichen Fragestellungen und Methoden bearbeitet, deren Schnittmenge mit Bezug zu Fragen die Geschlecht als historisch wandelbare Kategorie bringen die Gender Studies als Fach zusammen. Dieses Wissen ist wichtig und nutzbar in vielen Berufen, nicht zuletzt weil nicht nur Inhalte sondern auch Methoden
vermittelt werden und damit die Fähigkeit, Diskurse und Praxen wissenschaftlich zu analysieren und zu interpretieren. Genauso wie in den Fächern, aus denen sich die Gender Studies speisen (Literaturwissenschaften, Kulturwissenschaften, Soziologie, Politikwissenschaften, Philosophie, Medizin, Geschichte, Biologie) werden in den Gender Studies wissenschaftliche Methoden vermittelt, nur eben mit dem Fokus auf Geschlecht. Die GS sind ideologisch, nicht wissenschaftlich. Das hat der jüngste Publikationsskandal (peer review Skandal 2018) doch deutlich gezeigt. Drei US-Amerikaner_innen, James A. Lindsay, Peter Boghossian und Helen Pluckrose, publizierten Anfang Oktober 2018 auf einem Portal ihre Erfahrung mit der absichtsvollen Veröffentlichung von nonsense-Aufsätzen in möglichst angesehenen Fachzeitschriften der Gender und anderer ‘studies’. Die drei Autor_innen hatten die explizite Absicht‚ “to study, understand, and expose the reality of grievance
studies, which is corrupting academic research” (https://areomagazine.com/2018/10/02/academic-grievance-studies-and-the-corruption-of-scholarship/), d.h. von ihnen so bezeichneten Jammer- oder Beschwerde-Studien sollten ob ihres ideologischen Gehalts überführt und dabei deren schädliche Wirkung auf das ganze Wissenschaftssystem gezeigt werden. Die Veröffentlichung
erregte eine relativ große Aufmerksamkeit und schien für viele Kritiker_inner der Gender Studies der endgültige Beweis, dass es den Gender Studies an Wissenschaftlichkeit mangelt. Dabei ist die Studie in Bezug auf die Gender Studies weniger aussagekräftig als viele denken: Zum Weiterlesen: https://ethxblog.blogspot.com/2018/10/sokal-on-steroids-why-hoax-papers.html Die GS werden doch politisch alimentiert. Das Argument einer ‘politischen Alimentierung’ bzw. der Gender Studies als Lobbyismus ist zwar politisch als ein böser Vorwurf gemeint, der vor allem von den selbsternannten Gegnern und Gegnerinnen der Geschlechterforschung gemacht wird. Nimmt man die Polemik heraus, ist er jedoch durchaus korrekt. Er gilt aber dann: für genau alle Disziplinen, Fächer und Lehr- sowie Forschungsformen in öffentlichen Einrichtungen. Alle Wissenschaften sind (auch) politisch alimentiert, denn in einer rechtsstaatlichen Demokratie entscheiden Bundes- und Landesregierungen zumindest weitestgehend darüber, wie (gut) ihre Hochschulen finanziert, welche Themenbereiche fokussiert werden und wie die Ausbildung der Studierenden aussehen soll. Wenngleich Hochschulen in diesem Rahmen frei operieren (was sehr wichtig ist, um kreative, exzellente, bahnbrechende Forschung nach eigenen, also wissenschaftlichen Standards, zu ermöglichen), so gibt es immer wieder Themen, die politisch für besonders relevant befunden werden (etwa die Heilung bestimmter Krankheiten, Stadtplanung, Migration, Klimakrise etc.). Dann wird unter Umständen entsprechend entschieden, bestimmte Schwerpunktprogramme auf diese Themen zu legen - und damit auch nicht auf andere. Das geschieht allerdings immer entlang der Empfehlungen der scientific community und unter Einhaltung derer Standards. Einen entsprechend gestalteten starken Fokus auf die Gender Studies gab es in der Bundesrepublik bisher nicht. Zwar haben einzelne Bundesländer manche Professur für Frauen- oder Geschlechterforschung mit-finanziert oder die Vernetzung bereits bestehender Stellen/Professuren/Zentren unterstützt (so etwa in NRW https://www.netzwerk-fgf.nrw.de/das-netzwerk/das-netzwerk/ oder in Berlin https://www.berlin.de/sen/frauen/oeffentlichkeit/frauenpolitische-netzwerke/afg/artikel.29327.php), aber tatsächlich haben sich die Gender Studies aus den Forschungskontexten und den einzelnen Disziplinen heraus, also wissenschaftsimmanent, entwickelt. Dabei hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Geschlechterfragen bei vielen Forschungs-Themen eine Rolle spielen, nicht zuletzt auch in Medizin (z.B. https://www.dgesgm.de), Wirtschaft (z.B. am DIW Berlin https://www.diw.de/de/diw_01.c.364695.de/forschung_beratung/forschungsgruppen/gender_studies/gender_studies.html), Jura (zB Univ. Wien; https://rechtsphilosophie.univie.ac.at/team/holzleithner-elisabeth/). Die Nachfrage nach Gender Studies ist also gestiegen und viele dem Vorurteil nach eher “konservative” Wissenschaften integrieren die Gender-Perspektive in ihren Kanon. Gender Studies sind aber immer noch ein vergleichsweises kleiner Forschungs- und Lehrzusammenhang an deutschen Universitäten (ca. 0,4% aller Professuren an Universitäten im deutschsprachigen Raum haben eine Voll- oder Teildenomination; vgl.
https://www.mvbz.org/anmerkungen-zur-datensammlung.php). Da die Gender Studies darüber hinaus - anders als bahnbrechende Forschungen der Biophysik, der Neurologie oder des Geo-Engineering - ohne teure Studien an Menschen, besondere Technik oder zusätzliches Personal auskommen, wäre ihre vermeintliche “Alimentierung” tatsächlich recht günstig. Bedeutet die Emanzipation von Frauen nicht vor allem Nachteile für Männer? Wenn es um die politische Frage nach Einfluss, Macht, nach Partizipations- und Teilhabemöglichkeiten geht, dann kann man die Infragestellung von Privilegien, die einer Gruppe zukommen, sicherlich als Nachteil verstehen. Wenn nicht mehr selbstverständlich die Geburt eines Sohnes als wichtiger als die einer Tochter erachtet wird, wenn Männer nicht mehr automatisch das größte Stück Fleisch beim Abendessen serviert bekommen, wenn Männer sich
Führungspositionen mit Frauen teilen müssen etc. Aber es greift völlig zu kurz die durch die Frauenbewegung vorangebrachten Veränderungen im Geschlechterverhältnis in Richtung Gleichberechtigung und Gleichstellung ausschließlich als Einschränkung und Verlust von Privilegien auf Seiten der Männer zu verstehen. Denn letztlich profitieren Männer ebenso von dieser Emanzipation, nur dass darüber viel zu wenig gesprochen wird. Männer sehen sich schließlich auch mit gesellschaftlichen Anforderungen und
normativen Erwartungen konfrontiert, denen sie, so scheint’s, genügen müssen: sie sollen eine Familie ernähren (können), stark sein, sich für Autos und Fußball interessieren und vieles mehr, glaubt man den Geschlechterklischees. Ist es nicht auch eine Befreiung, sich die Familienverantwortung mit eine_r Partner_in teilen zu können, Elternzeit nehmen zu können ohne ausgelacht zu werden, auch mit Freundinnen über Autos fachsimpeln zu können oder Fußball uninteressant zu finden und ganz allgemein
Aspekte der eigenen Persönlichkeit angstfrei ausleben zu dürfen, die gar nicht zu den Geschlechterklischees passen? Die Gender Studies haben ein breites Forschungsfeld zum Thema Männlichkeit(en) hervorgebracht. Dabei geht es um die Erforschung der Bedeutung von Männlichkeitsnormen (wie in dem wegweisenden Konzept der hegemonialen Männlichkeit der Geschlechterforscherin Raewyn Connell) und auch deren Wandel (z.B. in den Studien der Geschlechterforscher_innen Diana Lengersdorf und Michael Meuser,
die sich angucken, wie die Veränderung von Erwerbsverhältnissen sich auf die Selbstverständnisse von Männern und Frauen ausdrücken). Gibt es auf dieser Welt nicht wichtigere Probleme und drängendere Fragen als die nach dem Anteil weiblicher Politikerinnen im Parlament, der Möglichkeit eines dritten Geschlechts im Geburtenregister und der Einrichtung von Unisex-Toiletten? So viel ist sicher: Ein höherer Anteil weiblicher Politikerinnen wird keine direkte
Auswirkung darauf haben, dass es Kriege in der Welt gibt, und auch die mögliche Wahl eines dritten Geschlechts wird die zunehmende Kinderarmut in Deutschland nicht ändern können. Aber das hat ja auch niemand behauptet. Gleichwohl sind politische Forderungen, die das Thema Geschlecht und Sexualität auf die Tagesordnung setzen, nicht einfach nur Wohlstandsprobleme oder Identitätsgedöns, weil sie jeweils sehr unmittelbar Verhältnisse kritisieren, die gewaltvoll sind und Leid verursachen. So steht
Homosexualität in vielen Ländern nach wie vor unter Todesstrafe und auch in Deutschland sind Menschen, die der geltenden Norm in Bezug auf Geschlecht und sexueller Orientierung nicht entsprechen immer wieder Übergriffen und Diskriminierungen ausgesetzt (vgl. allgemeiner zum Thema Diskriminierung die Antidiskriminierungsstelle des Bundes http://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/Home/home_node.html).
Keine Möglichkeit zu haben auf die Toilette gehen zu können, weil man sowohl auf der Männer- wie der Frauentoilette Diskriminierung erfährt bzw. dort nicht reingelassen wird, ist eine leidvolle Erfahrung. Und umgekehrt gewinnen doch alle mit einer dritten Toilette mehr als sie verlieren (nicht zuletzt eine weitere Toilette). Das Problem ist jedoch auf einer allgemeineren Ebene, dass häufig verschiedene politische Anliegen fälschlicherweise gegeneinander ausgespielt werden. Dabei gehören
Verteilungsgerechtigkeit und die Anerkennung von Vielfalt zusammen. Denn nicht-Anerkennung hat konkrete materielle Folgen. Stigmatisierung, Ausgrenzung und Diskriminierung sind häufig die Voraussetzung für die ungleiche Verteilung von Chancen aber auch von ganz materiellen Ressourcen. ***********
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