Alles licht das wir nicht sehen inhalt

Saint-Malo 1944: Marie-Laure, ein junges, blindes Mädchen, ist mit ihrem Vater, der am "Muséum National d'Histoire Naturelle" arbeitet, aus dem besetzten Paris zu ihrem kauzigen Onkel in die Stadt am Meer geflohen. Einst hatte er ihr ein Modell der Pariser Nachbarschaft gebastelt, damit sie sich besser zurechtfinden kann. Nun ist in einem Modell Saint-Malos, der vielleicht kostbarste Schatz aus dem Museum versteckt, den auch die Nazis jagen. Werner Hausner, ein schmächtiger Waisenjunge aus dem Ruhrgebiet, wird wegen seiner technischen Begabung gefördert, auf eine Napola geschickt und dann in eine Wehrmachtseinheit gesteckt, die mit Peilgeräten Feindsender aufspürt, über die sich der Widerstand organisiert. Während Marie-Laures Vater von den Deutschen verschleppt und verhört wird, dringt Werners Einheit nach Saint-Malo vor, auf der Suche nach dem Sender, über den Etienne, Marie-Laures Onkel, die Résistance mit Daten versorgt...

Kunstvoll und spannend, mit einer wunderschönen Sprache und einem detaillierten Wissen um die Kriegsereignisse, den Einsatz des Radios, Widerstandscodes, Jules Verne und vieles andere erzählt Anthony Doerr mit einer Reihe unvergesslicher Figuren eine Geschichte aus dem zweiten Weltkrieg, und vor allem die Geschichte von Marie-Laure und Werner, zwei Jugendlichen, deren Lebenswege sich für einen folgenreichen Augenblick kreuzen.

Mehr als 13.000 Kundenrezensionen wurden über Anthony Doerrs Roman „Alles Licht, das wir nicht sehen“ in nur einem Jahr bei Amazon verfasst. So viele Leser geben sonst nur bei „Fifty Shades of Grey“ Kunde. Zur schwartenverdächtigen Millionenauflage ist nun aber auch der Pulitzerpreis gekommen. Offenbar haben wir es mit einem Phänomen von einem Roman zu tun, der in den Vereinigten Staaten Leser und Kritik gleichermaßen entzückt. Das Echo der deutschen Übersetzung blieb bisher allerdings verhalten.

Dabei ist es ein Roman, der uns schon deshalb angeht, weil er im alten Europa spielt. Aber vielleicht liegt in dieser Perspektive schon ein Problem. Deutscher Nazi-Grusel verbindet sich mit einem pittoresken französischen Schauplatz, Saint-Malo an der Bretagneküste, für Amerikaner zugleich eine heroische Landschaft. Die zentralen Kapitel des Romans spielen im August 1944, acht Wochen nach dem D-Day. Saint-Malo ist die letzte Nazi-Festung in Nordfrankreich. Und liegt deshalb unter Bombenhagel. 85 Prozent der Stadt wurden komplett zerstört: ein flammendes Inferno, das Doerr mit geradezu pyrotechnischer Beschreibungskraft vermittelt.

Fördern und foltern

Die Hauptfiguren sind in den Rückblende-Kapiteln noch Kinder, aber doch schon gezeichnet: ein blindes französisches Mädchen und ein albinoblonder deutscher Waisenknabe. Im regelmäßigen Wechsel erzählt der Roman von Werner Hausner, der in Essen mit seiner Schwester auf dem Gebiet der Zeche Zollverein aufwächst, und von Marie-Laure LeBlanc, die zunächst in Paris bei ihrem Vater lebt, einem Museumsschlosser, der für sie das heimische Viertel als kleine Holzstadt nachbaut, damit sie sich mit sensiblen Fingern orientieren kann. Blindheit wird von Doerr nicht nur behauptet; die Welt der Blinden ist ein Hörspiel: „Autos platschen über die Straße, Schmelzwasser rinnt durch die Gossen. Sie hört die Schneeflocken in den Bäumen ticken . . . Die Metro rattert unter dem Gehweg . . . Der Himmel weitet sich und sie hört das Knacken von Ästen.“ Kurz bevor die Wehrmacht Paris besetzt, flieht Marie-Laure mit ihrem Vater ins vermeintlich sichere Saint-Malo. Dort lebt ihr Großonkel in einem großen, verwunschenen Haus, und bald wird sie von einem Grüppchen resoluter Résistance-Damen für kleine, aber gefährliche Widerstandsaktivitäten eingespannt.

Werner entkommt unterdessen dem Waisenhaus und dem vorgezeichneten Untertage-Schicksal. Der Kleine zeigt früh eine große technische Begabung und baut aus Schrott Radios zusammen, so dass die Kinder Hörspielen über „hakennasige Kaufhausbesitzer“ lauschen können. Radio ist die Technik der Stunde – und Werner bald ein Fall für das nationalsozialistische Begabtenprogramm. Er kommt an die Napola von Schulpforta, durchsteht dort schikanöse Mutproben und sadistische Erniedrigungsrituale. Fördern und Foltern: Das sind die pädagogischen Leitlinien des Instituts.

History und Mystery

Auch wenn der Roman auf einige klischeegeschnitzte Nazi-Unholde nicht verzichtet, schafft er es doch, die perfide Doppelgesichtigkeit des nationalsozialistischen Erziehungssystems zur Darstellung zu bringen: Einerseits werden die Jungen auf Idealismus und „glühende Opferbereitschaft“ getrimmt, andererseits sollen ihnen die humanen Reflexe wegkonditioniert werden. Mitleid mit Schwachen, Einfühlung in Opfer und Benachteiligte ist demnach selbst eine fahrlässige Schwäche im sozialdarwinistischen Kampf der Rassen und Völker. Werner aber kommen Zweifel an der Logik der Ideologie: „Rassische Reinheit, politische Reinheit . . . Er fragt sich mitunter, ob nicht das Leben selbst eine Verunreinigung ist.“

Im Krieg wird er als Funktechniker Mitglied einer Spezialeinheit, die Partisanen-Sender ausfindig macht und mitsamt den Sendenden vernichtet. Brutale, aber eindrückliche Szenen; der Krieg ist die große Schule der „tiefen Verachtung alles menschlichen Lebens“. Später wird die Einheit nach Nordfrankreich verlegt, und dort spürt Werner illegale Signale auf, die aus dem Haus von Marie-Laures Großonkel kommen, einem Radiofreak der ersten Stunde, dessen letzte jetzt geschlagen hätte, wenn Werner die Entdeckung nicht für sich behielte.

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