"In einer Ecke uns schräg gegenüber sind Filmapparate aufgebaut. Es wird also jede kleinste Einzelheit dieses Prozesses genau mitverfolgt", berichtete ein Reporter über die Vorbereitungen. Am 20. November 1945 begann das Verfahren vor dem Militärgerichtshof mit acht Richtern der vier Siegermächte USA, Großbritannien, Frankreich und Sowjetunion. Tagungsort war der weitgehend unzerstörte Nürnberger Justizpalast, das größte Gerichtsgebäude Bayerns. Nürnberg als Schauplatz hatte zudem symbolische Bedeutung: Hier hatte die NSDAP ihre pompösen Reichsparteitage abgehalten und ihre berüchtigten "Rassegesetze" verabschiedet. Show Der Prozess war ein internationales Medienereignis mit Hunderten von Beobachtern, darunter prominente Namen wie Ernest Hemingway, John Steinbeck, John dos Passos, Alfred Döblin, Erich Kästner, Erika Mann, Willy Brandt und der spätere DDR-Geheimdienstchef Markus Wolf. "Der Saal ist künstlich beleuchtet, und das elektrische Licht, das einen bläulichen Schimmer hat, gibt der ganzen Atmosphäre etwas, wenn auch nicht Grelles, so doch überaus Deutliches." Politische Entscheider hatten bis dahin Immunität genossen Angeklagt waren 24 Männer und mit ihnen sechs "verbrecherische Organisationen": "Die Reichsregierung, die Führung der NSDAP, die SS, die Geheime Staatspolizei, die SA sowie Generalstab und Oberkommando der Wehrmacht." Zu den ranghöchsten Angeklagten zählten: "Reichsmarschall Hermann Göring, Außenminister Joachim von Ribbentrop, Rudolf Heß, der einstige 'Stellvertreter des Führers', Gestapochef Ernst Kaltenbrunner, der Parteiideologe Alfred Rosenberg, Julius Streicher, Herausgeber des antisemitischen Hetzblatts 'Stürmer', und Rüstungsminister Albert Speer."
Angeklagte geben sich als unbeteiligte Zeitzeugen Viele Deutsche betrachteten den Nürnberger Prozess als Willkür- und Racheakt und sprachen von Siegerjustiz, sagt der Jurist Hellmut Becker: Die Legende vom unwissenden Zeitzeugen Albert Speer Der Militärgerichtshof tagte an 218 Tagen, hörte 240 Zeugen und nahm über 5.000 Dokumente von Anklage und Verteidigung entgegen. Das Ergebnis: ein 16.000 Seiten starkes Sitzungsprotokoll. Dabei waren zu dem Zeitpunkt noch längst nicht alle Dimensionen und Einzelheiten der nationalsozialistischen Verbrechen bekannt. Die Beweislast war erdrückend, die vorgelegten Materialien beklemmend. Im Schatten des Kalten Krieges Als die Richter der vier Siegermächte Ende 1946 ihr Urteil verkündeten, lag bereits der Schatten des Kalten Krieges über dem Nürnberger Justizpalst. Ein halbes Jahr zuvor hatte der abgewählte, britische Kriegspremier Winston Churchills eine berühmte Rede vom "Eisernen Vorhang" quer durch Europa gehalten. Christoph Safferling, Professor für Internationales Strafrecht in Erlangen-Nürnberg: "Zu dem Zeitpunkt war schon klar, es wird einen Kalten Krieg geben. Und das war der große Bremsschuh die nächsten 50 Jahre. Die Erinnerung ist aber immer wach geblieben." Bahlsen, Flick und Co. - Wie Familienunternehmen NS-Zwangsarbeit aufarbeiten Im Nachfolgeprozess Nr. IX mussten sich 24 Einsatzgruppenleiter der SS vor Gericht verantworten. Ihnen stand der damals 27-jährige Ben Ferencz gegenüber, heute mit 100 Jahren letzter noch lebender Chefankläger der Nürnberger Prozesse. Ferencz hielt den Mitgliedern einer "verbrecherischen Organisation" vor, hinter der Front Hunderttausende von Zivilisten ermordet zu haben, vor allem Juden. "Dies war die tragische Erfüllung eines Programms der Intoleranz und Arroganz. Rache ist nicht unser Ziel. Der Fall, den wir präsentieren, ist ein Appell der Menschheit an das Recht." Ben Ferencz: unermüdlicher Advokat für den Frieden Jurist: Sieg für das Völkerrecht Das Gericht verhängte 14 Todesstrafen, doch im Zuge des sich verschärfenden Ost-West-Konflikts und der Westintegration der Bundesrepublik ließen die Amerikaner Milde walten. Von den Todesurteilen im Einsatzgruppen-Prozess wurden nur vier vollstreckt. Viele Täter wurden in den 1950er-Jahren begnadigt und gelangten nach kurzer Zeit wieder auf freien Fuß. Gleichwohl waren die Nürnberger Prozesse ein Sieg für das Völkerrecht, so der Jurist Gerd Hankel und Hans-Peter Kaul, von 2003 bis 2014 Richter am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Hankel: "Zunächst einmal macht dieser Prozess deutlich, dass zum ersten Mal in der Geschichte die Politik, die Machtpolitik hinter dem Recht zurückgetreten ist. Denn es wäre ja ohne weiteres möglich gewesen, 50.000 der Kriegsverbrechen beschuldigten Offiziere ohne weiteres hinzurichten." Mit Paragrafen gegen himmelschreiendes Unrecht "Staatliche Souveränität und Immunität können seit Nürnberg nicht mehr wie früher als Schutzmauer missbraucht werden, hinter der Gewaltherrscher und Unrechtsregime wie das Hitler-Regime unbehelligt schwerste Menschenrechtsverletzungen begehen können. Nürnberg hat Klarheit geschaffen, dass die Täter schlimmster Völkermordverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen nicht straffrei ausgehen können." Soweit Hans-Peter Kaul. Nach Nürnberg hätte es durchaus weitere Anlässe gegeben, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verfolgen. Gehörte nicht auch Stalin auf die Anklagebank wegen der Besetzung Polens nach dem Hitler-Stalin-Pakt? Und wegen des Massakers von Katyn, wo der sowjetische Geheimdienst über 4.000 gefangene Polen ermordete? Und was war mit den unzähligen zivilen Opfern bei der Zerstörung Dresdens oder dem Atombombenabwurf auf Hiroshima? Doch der Ost-West-Konflikt und die Ausnahmestellung der Supermächte erwiesen sich als großer Bremsschuh. Internationaler Strafgerichtshof: nicht alle Staaten dabei "Als Strafverfolgerin bringe ich den Angeklagten Milosevic vor dieses Gericht, damit er für seine Taten zur Verantwortung gezogen wird, und zwar im Auftrag der internationalen Gemeinschaft und im Namen aller Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen, eingeschlossen die Staaten des ehemaligen Jugoslawien." Wie das Haager Tribunal im Kosovo gesehen wird Ein halbes Jahrhundert nach Nürnberg und nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hatte die internationale Gemeinschaft also endlich rechtliche Institutionen geschaffen, um Kriegsverbrechen und Völkermord zu verfolgen und zu bestrafen. Nach dem so genannten Ad-hoc-Strafgerichtshof für Jugoslawien folgten weitere, unter anderem für Ruanda, Sierra Leone und Kambodscha. Darüber hinaus existiert seit 2002 in Den Haag der Internationale Strafgerichtshof als unabhängige ständige Einrichtung. Warum war der Nürnberger Prozess so wichtig?Warum sind die Nürnberger Prozesse so bedeutend? Die Prozesse trugen zur Aufklärung der NS-Verbrechen bei. Erstmals wurden Politiker und Militärs persönlich bestraft und ihre individuelle Schuld untersucht.
Was geschah nach den Nürnberger Prozessen?Gegen Ende des Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher wurden die Spannungen zwischen den USA und der Sowjetunion größer: Der Kalte Krieg begann. In der Frage der deutschen Kriegsverbrechen gab es in den USA daher einen deutlichen Stimmungsumschwung.
Ist der Nürnberger Prozess als siegerjustiz zu werten?In Deutschland und Österreich wurden durch die Kirchen, Juristen, Presse und Parteien in den Nachkriegsjahren die Nürnberger Prozesse, Fliegerprozesse und andere von Gerichten der Alliierten durchgeführte Gerichtsverfahren gegen Angehörige der Achsenmächte als „Siegerjustiz“ abgelehnt.
Warum wurde Nürnberg als Prozessor gewählt?Nürnberg wurde von den Alliierten bewusst als Prozessort gewählt, weil Hitler die Frankenmetropole 1933 offiziell zur „Stadt der Parteitage“ ernannt hatte.
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