Takis würger roman über stella goldschlag

Takis würger roman über stella goldschlag

Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.01.2019

Ein Ärgernis, eine Beleidigung, ein Vergehen
In seinem zweiten Roman bedient sich Takis Würger der historischen Geschichte der Stella Goldschlag, die als „Greiferin“ für die Gestapo tätig war.
Der Stoff könnte etwas aussagen über die Lügen deutscher Vergangenheitsbewältigung. Aber Würger macht es sich im Klischee bequem
VON FABIAN WOLFF
Manchmal braucht es gar nicht viel für einen Verrat an Geschichte und Erinnerung. Ein einziges Bild des KZ-Dramas „Kapo“ reichte 1960 dem damals noch vor allem als Filmkritiker tätigen Jacques Rivette – eine womöglich unangemessen ästhetisierte Einstellung der ausgestreckten Hand von Emmanuelle Riva, tot im Elektrozaun eines namenlosen Nazi-Lagers hängend – um dem Regisseur Gillo Pontecorvo seine voyeuristische und pornografische Darstellung des Undarstellbaren vorzuwerfen.
Takis Würger, der hauptberuflich Reporter des Spiegel ist und mit seinem Debütroman „Der Club“ viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, nimmt sich mit seinem zweiten Roman „Stella“, laut Klappentexter Daniel Kehlmann, nun genau dieses „Aberwitzige vor: das Unerzählbare erzählen.“ Das ist nur die halbe Wahrheit. Es ist kein Buch, das kühn Grenzen überschreitet, auch keins, das alle Gefahren geschickt umschifft, um ins „Unerzählbare“ vorzustoßen. Es scheint vielmehr einfach ohne jedes Problembewusstsein für Literatur, Literarisierung und Geschichte geschrieben worden zu sein.
Hintergrund ist ein historischer Fall, der durch Berichte und Erinnerungen von Überlebenden spukt und bereits in den sonst so verschwiegenen Fünfzigern der BRD medial ausgeschlachtet wurde. Die Frau, die golden vom Cover lächelt, ist Stella Kübler, geborene Goldschlag, Tochter gutbürgerlicher deutsch-jüdischer Eltern, die in den Jahren des Zweiten Weltkriegs und der Deportationen in Berlin für die Gestapo als „Greiferin“ tätig ist und versteckte Juden denunziert und so in den Tod schickt. Nach Kriegsende wird sie erkannt und von einem Sowjet-Militärtribunal zu 10 Jahren Haft verurteilt, die sie in diversen Speziallagern und Gefängnissen in der SBZ und dann der DDR verbringt. Danach kommt es in Westberlin zu einem weiteren Prozess, der jedoch nicht zu einer weiteren Haftstrafe führt.
Hauptfigur und Erzähler in Takis Würgers Roman hingegen, wie könnte es anders sein, ist ein junger Mann, der sich in Stella verliebt. Mit John-Irving’scher Aufdringlichkeit entwirft Würger die Kinder- und Jugendjahre seines Protagonisten, der in der Nähe von Genf im Schatten allerlei familienpathologischer und soziopolitischer Ominösitäten aufwächst. Sein Vater ist Schweizer Importunternehmer mit kosmopolitischen Anwandlungen, seine Mutter deutsche Trinkerin mit stärker werdenden antisemitischen Tendenzen und künstlerischer Ader. Die freundliche jüdische Köchin der Familie ist namenlos, aber dick. Als Kind bewirft Friedrich einen fremden Reisenden mit einem Schneeball und gibt es, weil er nicht weiß, was eine Lüge ist, anschließend zu. Der Fremde reißt ihm mit einem Ambosshorn die Wange auf, der junge Friedrich ist danach absolut farbenblind – sic!, wenn nicht das ganze Buch ein einziges sic! wäre.
Friedrich erzählt in der Rückschau, in betont simpler Sprache, aber mit aufdringlich genauem Blick für, zum Beispiel, die Beschaffenheit von Türknäufen oder den Wortlaut von Werbeplakaten. Als aus dem naiven Kind ein naiver junger Mann geworden ist und genug Motive und Symbole eingeführt sind, um die Existenz eines poetischen Konzepts behaupten zu können, geht er 1942 nach Berlin.
Warum genau, abgesehen von vagem Hunger nach Exotik, es ihn ausgerechnet nach Berlin zieht, ist nicht klar, warum er sich dort für einen Zeichenkurs anmeldet (Mutter, Trauma) hingegen schon. Er verguckt sich in das schöne blonde Aktmodell, das sich ihm als „Kristin“ vorstellt, aber „Pünktchen“ genannt werden will (vielleicht, weil er so ein Anton ist) und sich natürlich irgendwann als Stella entpuppt. Sie erleben wunderschöne Tage im Klischee, der schneidige SS-Mann Tristan von Appen, der heimlich jüdische Jazz-Platten hört und Käse aus Paris isst, rundet die Jules-et-Jim-Triade ab, bis sie jäh gestört wird: „Ich wollte nicht, dass mein Freund Tristan in der SS ist. Ich wollte nicht, dass Kristin für ein Ministerium arbeitet. Ich wollte, dass wir drei weiter tanzen.“
Für den Stella-Strang hakt sich Würger bei Peter Wyden unter, dessen Sachbuch aus den Neunzigern über den Fall ebenfalls „Stella“ heißt. Wyden, geboren in Berlin als Weidenreich, verstorben 1998, kannte Goldschlag noch aus Schulzeiten. Beide besuchten die 1935 gründete Privatschule für jüdische Kinder von Leonore Goldschmidt. Wyden war in die gleichaltrige Goldschlag stark verknallt. Während er mit seiner Familie 1937 in die USA emigrieren konnte, blieben die Goldschlags in Berlin. Stellas Vater Gerhard war Komponist und einer jener tragischen patriotischen Juden, die glaubten, dass ihre Liebe zu Goethe und Schubert und ihr Frontdienst im Ersten Weltkrieg sie beschützen würden – und dass die Gewalt und Ausgrenzung der Nazis, das beschreibt Wyden unumwunden, doch eigentlich nur für die Ostjuden bestimmt sei, die sie als Deutsche mosaischen Glaubens fast genauso skeptisch beäugen wie ihre arischen Nachbarn.
Nach dem Fall der Mauer machte sich Wyden daran, die Geschichte seiner Beinah-Jugendliebe zu erforschen, und die Erfahrungen seiner Emigranten-Generation gleich mit. Das Ergebnis steht in einer Reihe journalistischer Sachbücher, in denen sich jüdische Journalisten aus den USA in den Neunzigern mit angemessen kritischem Blick dem neuen Deutschland näherten, wie „Unter Deutschen“ von Jane Kramer, „Explaining Hitler“ von Ron Rosenbaum oder „Bist du der König der Juden?“ von James Schapiro über die Passionsspiele in Oberammergau.
Wydens Thema sind weniger die Widersprüche und Lügen deutscher Vergangenheitsbewältigung. Er will wissen, wie aus seiner Klassenkameradin das „blonde Gespenst“ werde konnte, das auch in den Berichten der Philosophiehistorikerin Marie Jalowicz Simon und in den Erinnerungen des Widerstandkämpfers Gad Beck auftaucht. Beck nennt sie in „Und Gad ging zu David“ ein „zur Kollaboration gezwungenes Opfer“ – sie will ihre Eltern retten, vergeblich – aus der bald „eine gnadenlose Täterin“ wird, „die mit zunehmendem Ehrgeiz Illegale aufspürte und verhaftete, meist von ihrem jüdischen Greiferkollegen Rolf Isaaksohn begleitet“. Ihr Gestapo-Kontakt Walter Dobberke wird Isaaksohn und Goldschlag sogar anweisen, zu heiraten.
All das passiert lange nach Ende der Handlung von Takis Würgers Roman, der 1942 spielt – nominell, weil die Beziehung von Friedrich und Stella auserzählt und sein Versuch Stellas Eltern zu retten gescheitert ist, de facto aber, weil die brutale Realität der Verhaftungen das Coming-of-Age dieses Erzählers zu sehr in die Tiefe ziehen würde und seine Stella so Wunscherfüllung bleiben kann. Weil aber doch jüdischer Verrat und Deportationen versprochen wurden, baut Würger ziemlich unvermittelt authentische Auszüge aus Akten des Sowjetmilitärtribunals ein, in denen das Schicksal der Opfer von Goldschlag dargelegt wird. Das ist vielleicht der aufrichtige, aber hilflose Versuch, immer wieder die Ermordeten in den Fokus zu rücken – oder das opportunistische Greifen nach dem Schock des Realen, wenn die eigentliche Erzählung alle paar Seiten zu hinken beginnt. So oder so ist es die Selbstentblößung eines letztlich überforderten Autors. Bitterer, obszöner Tiefpunkt des Romans ist eine Folterszene, in der Würger den Gestapomann Dobberke phonetisches Bairisch sprechen lässt.
Spätestens hier hätte jemand – irgendjemand – einschreiten, dem Autor die Hand auf die Schulter legen und einen Essayband von W.G. Sebald in die Hand drücken können. In einem Interview auf die „unsichtbare Präsenz der Welt der Konzentrationslager“ in seinen Texten angesprochen, antwortete Sebald einst, dass es darum gehe, „den Lesern zu versichern, dass ich diese Dinge immer im Hinterkopf behalte“, nicht nur als ästhetische Strategie, sondern aus moralischer Verantwortung. Würger hingegen, der so schludrig mit den Namen, den Leben und den Schicksalen der Opfer umgeht, kann die Leser kaum davon überzeugen, dass er allzu sehr über jeden gerade geschriebenen Absatz nachgedacht hat.
Mit seinem zweiten Buch ist Würger vom kleinen Schweizer Verlag Kein & Aber zum Publikumsverlag Hanser gegangen, der es heftig bewirbt. Nazisex und Judenfetisch (und umgekehrt) gibt es darin nicht, der Roman bleibt geradezu keusch. Am Willen zur Ausbeutung der Vergangenheit fehlt es nicht, aber Würger geht wie ein Vampir vor, der die Halsschlagader nicht trifft. Bestsellerkompatibel scheint allein der plätschernde Tonfall zu sein, der sich wie das Voice-Over eines Nazidramas mit Veronica Ferres liest: „,Verlass mich nicht‘, sagte sie in mein Ohr. Ich schüttelte den Kopf und küsste ihre Tränen.“
In einem Beitrag zur Menasse-Debatte hat Patrick Bahners in der FAZ geschrieben, Auschwitz sei „in den Theorien des historischen Wissens und der literarischen Fiktion wie im öffentlichen moralischen Bewusstsein der Inbegriff der Tatsache, mit der man nicht spielt“. Das ist ein paar Stufen zurückhaltender als das Dogma der Undarstellbarkeit, das in der Geschichte der Nachkriegsliteratur oft genug von deutschen Kritikern angeführt wurde, um Überlebenden den Mund zu verbieten: Holthusen gegen Celan, Raddatz gegen Hilsenrath, bei allem Respekt auch Sebald gegen Jurek Becker. Die Frage ist sowieso, wo Auschwitz anfängt, ob bei der Gaskammer, der Rampe, dem Tor, der Zugfahrt, der Deportation, der Verhaftung – von den anderen Vernichtungs- und Konzentrationslagern, den Erschießungsaktionen und Hunger- und Seuchentoten im Ghetto ganz zu schweigen.
Je nach Antwort ist Würgers „Stella“ ein Ärgernis, eine Beleidigung oder ein richtiges Vergehen – und das Symbol einer Branche, die jeden ethischen oder ästhetischen Maßstab verloren zu haben scheint, wenn sie ein solches Buch auch noch als wertvollen Beitrag zur Erinnerung an die Schoah verkaufen will. Selbst Stella Goldschlag hat diesen Roman nicht verdient.
Die brutale Realität würde
das Coming-of-Age des Erzählers
zu sehr in die Tiefe ziehen
Am Willen zur Ausbeutung der
Vergangenheit fehlt es nicht,
Würger geht wie ein Vampir vor
Takis Würger: Stella. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2019. 224 Seiten, 22 Euro.
Im Jahr 1957 steht Stella Goldschlag in West-Berlin vor Gericht, rechts ihr Verteidiger. Der Tochter deutsch-jüdischer Eltern wird vorgeworfen, in den Jahren 1943/44 Juden der Gestapo ausgeliefert zu haben.
Foto: imago/ZUMA/Keystone
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