Die Blätter fallen, fallen wie von weit Rilke

René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke (4 December 1875 – 29 December 1926), better known as Rainer Maria Rilke, was a Bohemian-Austrian poet and novelist. He is "widely recognized as one of the most lyrically intense German-language poets".He wrote both verse and highly lyrical prose. Several critics have described Rilke's work as inherently "mystical". His writings include one novel, several collections of poetry and several volumes of correspondence in which he invokes haunting images that focus on the difficulty of communion with the ineffable in an age of disbelief, solitude and profound anxiety. These deeply existential themes tend to position him as a transitional figure between the traditional and the modernist writers.

An einem wunderschönen "goldenen" Herbsttag zog es mich, vor zwei Jahren, nach Raron im Kanton Wallis. Schon von Weitem sieht man über dem Rhonetal die Burg, das Wahrzeichen von Raron. Aber dieses bedeutende Baudenkmal war nicht der einzige Grund, weshalb es mich nach Raron zog. Denn neben der Burg gibt es auch die einzigartige Felsenkirche St Michael und die Burgkirche St. Romanus zu besichtigen. Beide Kirchen sind eindrücklich und sehr sehenswert.

Nach der Besichtigung der Burgkirche stand ich dann vor dem eigentlichen Grund meines Besuches in Raron. Auf der Südseite der Burgkirche befindet sich das Grab des Dichters und Lyrikers Rainer Maria Rilke. Auf seinen eigenen Wunsch wurde er dort an diesem Sonnenplatz am 2. Januar 1927 begraben.

Ich stand vor seinem Grab und las:
"Rose, oh reiner Widerspruch, Lust, Niemandes Schlaf zu sein unter soviel Lidern."

"Wie diese Worte wohl zu interpretieren sind?" Ging es mir durch den Kopf. Doch im selben Moment formten meine Lippen mein Lieblingsgedicht von Rilke: "Die Blätter fallen, fallen wie von weit, als welkten in den Himmeln ferne Gärten, sie fallen mit verneinender Gebärde. Und in den Nächten fällt die schwere Erde aus allen Sternen in die Einsamkeit. Wir alle fallen.

Diese Hand da fällt. Und sieh dir andre an: Es ist in allen. Und doch ist einer da, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält." Ja, der Herbst hat begonnen. Der Wind ist frisch geworden, die Blätter färben sich, gelb, orange, rot, braun. Sie färben den Herbst bunt. An sonnigen Tagen haben die Blätter etwas Goldenes an sich. Bald wird die Uhr zurückgestellt, die Tage werden kürzer.

Die Dunkelheit nimmt zu, die Temperaturen sinken. Die Blätter fallen von den Bäumen, die Äste werden kahl. Die Natur bereitet sich auf den Winter vor. Die Bäume lassen die Blätter los. Ich glaube, wir alle wissen, wie sich das Loslassen anfühlt. Schon von klein auf müssen wir loslassen: Sachen, Tätigkeiten, die uns lieb sind, Tiere, Menschen. Dieses Loslassen ist eine Konstante in unserem Leben. Und doch werden wir uns nie ans Loslassen gewöhnen können.

Denn loslassen ist nicht einfach. Und eines ist gewiss: Das Loslassen kommt immer wieder, bei den Bäumen, aber auch bei uns. Die Bäume zeigen mir jedoch die Notwendigkeit des Loslassens. Sie passen sich so den kommenden Veränderungen an. Sie bereiten sich auf die Zukunft vor. Ich liebe den Herbst sehr, aber er stimmt mich auch, seit eh und je, nachdenklich.

Ja, nachdenklich,weil er mir den Spiegel vor Augen hält: Die Blätter fallen… wir können die Zeit nicht anhalten. Wir können die Zeit auch nicht zurückdrehen. Wir werden älter. Der Herbst des Lebens kommt oder er ist bereits da. Rainer Maria Rilke beschreibt dieses Gefühl vom Herbst des Lebens sehr fein: Wir alle fallen. Aber es bleibt nicht dabei.

Es bleibt nicht beim Fallen. Rilkes Gedicht lässt mich nicht innerlich leer, ratlos und ohnmächtig allein zurück. Im Gegenteil, sehr tröstlich ist es für mich, was in Rilkes Aussage mitschwingt: Wir alle fallen nie tiefer als in Gottes Hände. Ein wunderschönes Bild. Dieses Bild soll uns nicht nur in der Herbstzeit begleiten, sondern jeden Tag.

Poetry
of
Rainer Maria Rilke

Vier Herbstgedichte

Herbst

Die Blaetter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gaerten;
sie fallen mit verneinender Gebaerde.

Und in den Naechten faellt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da faellt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Haenden haelt.

Rainer Maria Rilke  Paris, 11 September 1902

Four Autumn Poems

Autumn

The leaves fall, as from afar,
as if withered in heaven's remote gardens;
it is with reluctance that they fall.

And during the nights weighty earth falls
from all the stars into solitude.

All of us fall. This hand falls here.
And look at others: All of them fall.

But there is One, Who holds what falls
with infinite tenderness in His hands.

Translation: Charles L. Cingolani        Copyright © 2020

Herbsttag

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr gross.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
Und auf den Fluren lass die Winde los.

Befiehl den letzten Fruechten voll zu sein;
Gieb ihnen noch zwei suedlichere Tage,
Draenge sie zur Vollendung hin und jage
Die letzte Suesse in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
Wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
Und wird in den Alleen hin und her
Unruhig wandern, wenn die Blaetter treiben.

Rainer Maria Rilke  Paris, 21 September 1902

Autumn Day

Lord, it is time. The summer was so great.
Lay Your shadow on the sundials,
And on the fields let loose the winds.

Command the last fruits to be full;
Grant them but two more southerly days,
Prod them to perfection and chase
The last sweetness into the heavy wine.

He who has no house now will build no other.
He who is alone now will stay so for long,
Will lie awake, read and write long letters
And wander back and forth on avenues, restless,
When the leaves are blown by the winds.

Translation: Charles L. Cingolani        Copyright © 2020

Ende des Herbstes

Ich sehe seit einer Zeit,
wie alles sich verwandelt.
Etwas steht auf und handelt
und toetet und tut Leid.

Von Mal zu Mal sind all
die Gaerten nicht dieselben;
von der gilbenden zu der gelben
langsamem Verfall:
wie war der Weg mir weit.

Jetzt bin ich schon bei den leeren
und schaue durch die Alleen.
Fast bis zu den fernsten Meeren
kann ich den ernsten schweren
verwehrenden Himmel sehn.

Jetzt reifen schon die roten Berberitzen

Jetzt reifen schon die roten Berberitzen,
alternde Astern atmen schwach im Beet.
Wer jetzt nicht reich ist, da der Sommer geht,
wird immer warten und sich nie besitzen.

Wer jetzt nicht seine Augen schliessen kann,
gewiss, dass eine Fuelle von Gesichten
in ihm nur wartet, bis die Nacht begann,
um sich in seinem Dunkel aufzurichten:—
der ist vergangen wie ein alter Mann.

Dem kommt nichts mehr, dem stoesst kein Tag mehr zu,
und alles luegt ihn an, was ihm geschieht;
auch du, mein Gott. Und wie ein Stein bist du,
welcher ihn taeglich in die Tiefe zieht.

Rainer Maria Rilke, 22.9.1901, Westerwede

End of Autumn

I have seen for some time,
how everything changes.
A thing stands up and acts
and kills and causes pain.

From time to time all
the gardens are not the same;
from yellowing to yellow
to slow decay:
how long the way was for me.

Now I am already near the vacant ones
and look down the avenues.
Almost to the most distant seas
I can see the earnest weighty
forbidding skies.

Now the red barberries ripen already

Now the red barberry is ripening already,
aging asters breathe weakly in their bed.
He who is not rich now, with summer passing,
will always wait and never gain mastery of himself.

He who cannot close his eyes now,
for him it is certain that an host of visions
is only waiting for the night to fall,
so he can be ministered to in his darkness:—
he has passed on like an old man.

To him comes nothing more, no more days will be allotted,
and all that happens to him will deceive him;
and You will too, God. You are like a stone
that pulls him down daily into the deep.

Translation: Charles L. Cingolani                            Copyright © 2020

Wer jetzt kein Haus hat Gedicht?

Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, und auf den Fluren lass die Winde los. Befiehl den letzten Früchten voll zu sein; gib ihnen noch zwei südlichere Tage, dränge sie zur Vollendung hin und jage die letzte Süße in den schweren Wein. Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.

Welche Gedichte hat Rainer Maria Rilke geschrieben?

Rainer Maria Rilke starb 1926 in ValMont an Leukämie. Seine bekanntesten Werke sind die "Duineser Elegien", die zyklische Prosadichtung "Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Laurids Brigge" und der Roman "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge".