The Project Gutenberg EBook of Der Wille zur Macht, by Friedrich Nietzsche This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have to check the laws of the country where you are located before using this ebook. Title: Der Wille zur Macht Eine Auslegung alles Geschehens Author: Friedrich Nietzsche Editor: Max Brahn Release Date: September 25, 2019 [EBook #60360] Language: German Character set encoding: UTF-8 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER WILLE ZUR MACHT *** Produced by Peter Becker, Heike Leichsenring and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net Eine Auslegung alles Geschehens Show
von Neu ausgewählt und geordnet von Große Dinge verlangen, daß man von ihnen schweigt oder groß redet: groß, das heißt zynisch und mit Unschuld. 1917 Alfred Kröner Verlag in Leipzig Altenburg [Pg iii] [Der Plan, der dieser Anordnung zugrunde gelegt wurde, lautet in Nietzsches Niederschrift:] Der Wille zur Macht Erstes Buch Zweites Buch Drittes Buch Viertes Buch entworfen [Pg iv] Vorwort.Nietzsche hatte die Absicht, in einem zusammenhängenden Werke den Gesamtertrag seiner Lehre darzustellen. Die Titel des beabsichtigten Werkes und die Gesichtspunkte seiner Ordnung wechselten, aber die einheitliche Idee, seine Philosophie übersichtlich darzustellen, blieb bestehen. Es sollten keine neuen Grundideen in dem Werke stehen, keine wichtige Grundlehre verändert werden; das Werk hätte vielmehr beweisen sollen, daß sein Gedankenkreis vom ersten bis zum letzten Werk der gleiche geblieben ist. Alle so verschieden erscheinenden Lehren der einzelnen Entwicklungsperioden sind nur Variationen des gleichen Themas; eine Grundmelodie tönt dem aufmerksam Hinhörenden stets durch. Sie herauszuhören, ist nicht leicht. Denn seine Neigung, die gerade im Vordergrunde stehenden Gedanken, den augenblicklich herrschenden Affekt fast gewaltsam zu betonen, ihm die ganze Kraft seiner eindrucksvollen, überwältigenden Sprache zu leihen, läßt oft die Nebentöne deutlicher vernehmen als den Grundton. Daher wenige Denker so bedächtig gelesen werden müssen, wie der anscheinend so leicht eingehende Nietzsche. Volle, leichte Klarheit hätte daher nur ein solches, die Hauptgedanken allein hervorhebendes Werk bringen können. Darum ist es ein so trauriger Gedanke, daß seine Erkrankung die Vollendung gerade dieses Werkes verhinderte, an dem er vom Jahre 1882 an stets gearbeitet, zu dem er sich ununterbrochen Einzelaufzeichnungen gemacht und Dispositionen entworfen hat. Aus diesem Gedankenkreise entnahm er wesentliche Teile und vereinigte sie zu seinen letzten Werken, besonders zum Antichrist, der in den letzten Monaten vor seiner Erkrankung entstanden ist und in einem erregten Ton geschrieben ist, der sich von der Stilart der Niederschriften völlig unterscheidet. Was dann vom Gesamtwerke übrigblieb, das war eine unendliche Fülle von einzelnen Notizen, die sich in einer großen Anzahl von Heften finden. Die bisherigen Aus[Pg vi]gaben stellten sich die Aufgabe, von diesem Gedankenreichtum nichts verloren gehen zu lassen, und ordneten alles Vorhandene unter die von Nietzsche selbst angegebenen Gesichtspunkte. Durch zahlreiche Stichproben durfte ich mich davon überzeugen, mit wie großer Sorgfalt und treuer Gewissenhaftigkeit Elisabeth Förster-Nietzsche und Peter Gast die mühevolle Aufgabe gelöst haben, die schwer lesbaren Manuskripte zu entziffern und die Aphorismen unter die gegebenen Gesichtspunkte zu bringen. In den Heften fand sich vielerlei, was dem Denker bei Gelegenheit der Niederschrift oder zufällig zu gleicher Zeit einfiel, ohne daß es unmittelbar für das neue Ganze nötig war. Es ist nicht leicht, diese oft so lockenden Gedanken wegzulassen; es war auch für eine erste Ausgabe das Rechte, sie dem Leser nicht vorzuenthalten. Doch erschweren sie oft das Sichzurechtfinden in den leitenden Ideen und geben auch durch ihre große Zahl dem Werke einen übermäßigen Umfang. Da schien es angebracht, den Versuch zu machen, aus den Manuskripten wenigstens dem Sinne nach das zu machen, was Nietzsche selbst vorschwebte: eine Darstellung seiner Grundlehre; zugleich aber dem neugeordneten Werke eine Form zu geben, die eine leichte Übersicht gestattet und so durch die Änderung der äußeren Form das Eindringen in die Hauptlinien des Inhaltes erleichtert. So konnte ich in Übereinstimmung mit Elisabeth Förster-Nietzsche das herausheben, was den Grundgedanken, des „Willen zur Macht“, erklärt. Dann kam es darauf an, das Vorhandene so zu verteilen, daß ein Führer durch Nietzsches Grundlehren entstand. Da fehlen freilich Begriffe als wesentlich, die sonst oft im Vordergrund zu stehen scheinen, wie der „Übermensch“; andere, wie die „ewige Wiederkehr“, treten nur gelegentlich auf. Nicht ein Wechsel der Lehre liegt aber in diesen Fällen vor; der systematische Aufbau läßt vielmehr das an früheren Stellen laut Betonte hier nur als einen Unterteil eines größeren Ganzen erscheinen. So geht der Übermensch unter in der Gesamtauffassung des neuen, großen Menschen überhaupt, und die ewige Wiederkehr aller[Pg vii] Dinge, von der es einst scheinen konnte, sie zähle zu den Hauptlehren, wird eines unter den verschiedenen Mitteln zur Zucht des großen Menschen, wenn auch eines der entscheidenden. Gerade in dieser Ausgeglichenheit der Werte liegt die große Bedeutung, die das Werk selbst als unvollendetes hat. In Zarathustra hatte Nietzsche prophetenhaft zur Nachfolge seiner Lehre aufgerufen; kein Wunder, daß ein so geartetes Werk, dem Eindruck bestimmt, ihn auch im weitesten Kreise machte. Der Prophet will wirken, beeinflussen – dazu gehört Affekt, der mitreißt, gehört starke Betonung dessen, was der Prophet in den Vordergrund stellen will. Der „Wille zur Macht“ will lehren, klarlegen, aus Geschichte und Natur erläutern, wohl gar beweisen. Hier ist der ordnende Intellekt an der Arbeit, der systematisch aufbaut, nicht um zur Tat aufzurufen, den heiligen Krieg für eine neue Lehre zu verkünden, sondern um zu zeigen, aus welchen Wurzeln die eigene Lehre erwachsen ist, und wie sie die Gesamtheit der Welt dem willig Folgenden zu erklären vermag. Eine Weltdeutung kann aber aus sehr verschiedenen Wurzeln erwachsen, je nach der Persönlichkeit des Philosophen. Die Versenkung ins All, in die unmittelbare Tiefe der Dinge kennzeichnet den Typus des Metaphysikers und Mystikers. Die Vereinigung der letzten wissenschaftlichen Ergebnisse den wissenschaftlichen Philosophen. Das Ausgehen vom Menschen als dem Geschichte schaffenden und nur in der Geschichte bekannten Wesen den Kulturphilosophen, dem der Mensch das interessanteste Problem ist. Vom ersten bis zum letzten seiner Werke ist Nietzsche Kulturphilosoph. Von der Kultur der Griechen – dem höchsten Kulturtypus – schlug er in seinem Erstlingswerk die Brücke zu Wagner, also zur Kultur der Gegenwart. Das Christentum stand im Hintergrunde; es brauchte gar nicht genannt zu werden, um doch da zu sein. Vom Christentum führt auch der „Wille zur Macht“ zur Gegenwart, noch mehr zur neu zu schaffenden Zeit, zu der Zukunft, die durch den starken Willen des Menschen aus dieser Gegenwart werden soll. [Pg viii] Von unserer Zeit redet dieses Buch zunächst, nicht von einer Ewigkeit, einem stets Gleichen, wie die Metaphysiker tun. Eine Zeit ist nur aus den Werten bestimmbar, an die sie glaubt: denn alles Handeln ist ein Werten, jede Bewegung will etwas, also wertet sie etwas. Alle Werte ordnen sich letzten Endes einem letzten, höchsten, einem Oberwert unter, wie Raoul Richter in seinem Nietzschebuch ausgeführt hat. Unsere Zeit hat keine festen Werte; „das Eis, das uns noch trägt, ist so dünn geworden: wir fühlen alle den warmen, unheimlichen Atem des Tauwindes.“ Uns fehlt jeder bestimmte Glaube an den Wert der Dinge, da der einzige bisher zusammenhaltende Glaube im Niedergang ist, der christliche. Er gab dem Menschen einen absoluten Wert, den man genau kannte, gab ihm Selbstachtung und dem Übel einen Sinn. An sich selbst hat Nietzsche das Dahinschwinden des christlichen Glaubens empfunden, er, der Abkömmling von Theologen bis ins dritte und vierte Geschlecht. Er kannte die Feinheiten des Glaubens, er wußte, daß sie Erbgut in ihm waren, besonders jener vom Christentum anerzogene Glaube an die Wahrhaftigkeit. Schwindet er dahin, so tritt leicht die Meinung auf, daß es überhaupt keinen Sinn der Welt gibt, wenn dieser nicht gilt: die Ziellosigkeit an sich wird der Wert, der Nihilismus ist da. Wie aber konnte ein solches letztes Ziel verloren gehen, woher mußte die Auflehnung gegen das Christentum entstehen? Nach Nietzsche ist die Ablehnung des Christentums Abweisung der décadence, das heißt der Lehre der Erschöpften, der Schwachen, der Gegner des Lebens, derer, die nicht das Wachstum, die Größe, die Schönheit der Dinge der Welt wünschen. Unsre bisherige Moral ist im Grunde christliche; sie ist aber gleichzeitig die Moral der schwachen Menge, die sich gegen die gefährlichen Starken auflehnt, die aber durch ihre Zahl, ihre größere Klugheit, feinere Geistigkeit den Sieg über die Starken davonträgt. In dieser Erkenntnis sieht er wohl die kritische Grundlehre seines Systems, auf die sich alles Positive aufzubauen hat. [Pg ix] Denn aufbauend will er sein; alles Kritische, Verneinende ist ihm zuwider, er benutzt es nur als Mittel, sein Bejahendes deutlich zu machen, als nötig zu erweisen. Zu Taten will er die Menschheit befähigen, da er ein Philosoph ist, das heißt für ihn ein Werteschaffer; unserer Zeit aber „fehlt der Philosoph, der Ausdeuter der Tat, nicht nur der Umdichter“. Daher auch der Kern dieses Werkes nicht im ersten und zweiten Buch liegt, die nur Schutt wegräumen wollen, ehe das Gebäude im dritten und vierten Buch aufgerichtet wird: in diesen liegt nach der Absicht Nietzsches die Deutung der Zukunft. Worauf es also bei ihm hinausläuft, das ist mit einem Worte zu sagen: auf eine neue Moral. Wo er Moral bekämpft, da kürzt er nur das Wort; es müßte da stets heißen: bisherige Moral, für deren entwickeltste Form er die christliche ansieht. Was seine Moral mit der christlichen verbindet, das sagt ganz deutlich seine schöne Bestimmung: „Ich verstehe unter Moral ein System von Wertschätzungen, welches mit den Lebensbedingungen eines Wesens sich berührt.“ Daher kann es für ihn keine allgemeine Moral geben. Streng genommen gibt es nur eine Moral für jeden Einzelnen; faßt man die Einzelnen zu Typen, Arten zusammen, so gibt es Moralen für die Starken und die Schwachen, die Gesunden und die Kranken. Hier berührt sich die Lehre mit modernen Ideen, die, von ihr unbewußt oder bewußt abhängig oder nicht, die Menschen nach Anlagen einteilen und verlangen, daß unsere Erziehung in jedem die Anlage voll entwickelt und nicht versucht, aus jedem alles zu machen. In strenger Selbstuntersuchung, sich selbst verantwortlich, hat ein jeder festzustellen, „wer bin ich?“ und sein Leben so zu gestalten, daß sein Ich ungebrochen zur Entwicklung kommt, nicht nur die Freuden seiner Eigenart und seiner Lebensform suchend, nein, alle Leiden gern als notwendig mit auf sich nehmend. Streng und unerbittlich, hart gegen sich, wie nur je ein Asket es sein kann, vielleicht aber im Strome des Lebens viel leidender, viel gequälter. [Pg x] Die Moral, die hier gelehrt wird, ist die der Starken, die den Mut zu diesem strengen, harten, nur sich selbst verantwortlichen Leben haben. Wer diese lehrt, wird notwendig manches angreifende, kriegerische Wort für die entgegengesetzte Art, die Schwachen, haben. Aber „möchten wir eigentlich eine Welt, in der die Nachwirkung der Schwachen, ihre Feinheit, Rücksicht, Geistigkeit, Biegsamkeit fehlte?“ Die Moral der Schwachen wird von Nietzsche nicht etwa nur geduldet – ein ihm furchtbares Wort –, sie wird gewünscht, weil für nötig befunden. Aber sie soll nicht die herrschende sein, sie soll nicht sich alle „Moral“ zuschreiben; sie muß einsehen, daß sie genau so moralisch und unmoralisch, weil genau so nur aus einer bestimmten Perspektive der Welt hervorgehend ist wie die der Starken. Sie will Erhaltung, oft Stillstand: sie lasse der Moral des Schaffens freie Bahn, die das Alte oft zerbrechen muß, um neue Maßstäbe aufzustellen. Nietzsche sah voraus, daß es „dem nächsten Jahrhundert hier und da gründlich im Leibe rumoren wird“, daß neue Werte in jeder Hinsicht kommen werden – hat unser Geschlecht, das des größten Krieges der Weltgeschichte, wirklich das Gefühl in sich, daß es den alten Werten gehorcht? Neues, Starkes kommt, weil es kommen muß, weil es sich mit unseren Lebensbedingungen berührt, die nicht mehr die gleichen sein werden. Ob nicht gar der Prophet dieser neuen Zeit schon gelebt hat? Woher nimmt nun Nietzsche diese neue Wahrheit über die Moral; glaubt er allgemeingültige Sätze aufzustellen, deren Gegensatz falsch sein muß? Nein, auch diese Wahrheit ist ihm wie jede andere nur „eine Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte. Der Wert für das Leben entscheidet zuletzt.“ Jeder Sinn, der in den Dingen liegt, ist ihm nur eine Beziehung, die sich der Mensch schafft, letzten Endes, um der Dinge Herr zu werden, um sein Machtgefühl über die Dinge zu steigern, um seinen unbezähmbaren Willen zur Macht auszuüben. Es gibt vielerlei Wahrheiten von den Dingen, jede Art macht sich die Dinge so zurecht, daß sie seinem Leben[Pg xi] dienen, macht sich die ihm nützlichsten Fiktionen vom Sein und Wesen der Dinge. Darin steht Nietzsche der Philosophie sehr nahe, die neuerdings unter dem Namen der „Philosophie des Als-Ob“ so großes Aufsehen gemacht hat. Man kann, wenn man das dritte Buch dieses Werkes liest, nicht mehr behaupten, daß Nietzsche nur Moralphilosoph sei – von seinen Anschauungen über die Erkenntnis ist stärkste Anregung auf unsere Zeit ausgegangen. Er hat, mag er auch Darwin bekämpfen, so doch aus dem Geiste der Entwicklungslehre letzte Folgerungen gezogen. Und nun verfolgt er diese Grundidee, daß es der Wille zur Macht ist, der unsere Wahrheiten schafft durch alles Sein hindurch, in alle Tiefen unserer Weltanschauung hinein. Aber nicht unser Erkennen allein – selbst nur eine Sonderart der Natur – ist Wille zur Macht, die Natur ist es in ihrem tiefsten Kern. Alles Sein ist Leben – alles Leben Machtwille. Kräfte des Willens, die immer neue Kräfte anhäufen, die ihnen innewohnende Macht steigern und organisieren möchten, sind die letzten Erklärungen, die es für alles Sein gibt. Alles Geschehen, alle Veränderung läßt sich auf den Willen zur Macht zurückführen, der nie ruht, stets zu neuen Formen größerer Macht sich wandeln will – mit dieser Einsicht, die selbst keine absolute ist, gewinnen wir die für uns brauchbarste „perspektivische Schätzung“ der Welt, Macht über sie. „Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem. Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem.“ Soviel Macht einer in sich birgt, so viel ist er dieser Beurteilungsweise wert. So entsteht eine Rangordnung der Menschen nach ihren Machtgrößen. Ist es wirklich nötig, darauf hinzuweisen, daß es sich hier nicht um jene äußere Macht handelt, die mit Kanonen sich durchsetzt? Daß es sich dabei um eine innere Haltung der Seele handelt, die stark ist und nichts will, als ihre Kraft, ihre Macht erweitern, die sich nicht genug tun kann, ihren Mut zu erweisen, die so stark strömt, daß sie wissentlich ihre Kräfte verschwendet, die im Herrschen über sich und andere ihre[Pg xii] Pflicht findet. Solche Aristokratie ist angeboren, ist „Geblütsadel“. „Ich rede hier nicht vom Wörtchen ‚von‘ und vom Gothaischen Kalender: Einschaltung für Esel.“ So darf man auch denen zurufen, die das Wort Macht bei Nietzsche vergröbern, um dagegen zu kämpfen. Diese Menschen voll Willen, Kraft, Macht sind die Erschaffer des Neuen; sie geben allem neue Werte, sie rechtfertigen die Welt einfach dadurch, daß sie da sind. Nicht ihre Leistung, ihr Sein ist das Wesentliche. Es geht hier mit dieser von Nietzsches Lehren wie mit anderen: in seiner grandiosen, übersteigenden Sprache klingen sie oft so weltfremd, so erfunden, so lebensunbrauchbar. Und doch drücken sie nur Wahrheiten aus, die sich in der Menschheit stets wieder als ganz natürliche Erlebnisse erweisen. Hat nicht die Erregung der Kriegszeit gezeigt, wie sehr die Menschen dazu neigen, sich Heroen zu schaffen, führende, herrschende Naturen, denen alle anderen gern, als ob es nicht anders sein könnte, sich unterwerfen! Willig folgen sie dem, der neue Werte aufstellt und beweist, daß er einen starken, langen Willen hat, der imstande ist, sich gegen eine Welt von Hindernissen durchzusetzen. Auf seinen Wink tun sie alles, leiden sie alles, opfern sie sich hin bis zum Aufgeben des Lebens. Eine ganze Nation erlebt dann plötzlich die Wahrheit der Lehre, daß es auf diese geborenen Führernaturen ankommt, daß sie herangezogen werden müssen, wenn die anderen nicht untergehen sollen. Dann sieht man auch deutlich, daß nicht Lust und Unlust, wenigstens nicht die Formen, von denen Optimismus und Pessimismus zu sprechen pflegen, großes Handeln des Menschen bestimmen. Das Glück dieser Großen liegt allein „in dem herrschend gewordenen Bewußtsein der Macht und des Sieges.“ Darf man von ihnen die Moral des Mitleids, Rücksichtnahme, Milde verlangen – oder wünscht nicht die Menge sie hart, unbeugsam, stark, Macht durch und durch? Groß sollen sie sein und vornehm – die beiden Haupteigenschaften, die Nietzsche von „seinen“ Menschen verlangt. [Pg xiii] Diese großen schaffenden Menschen – der Theorie oder der Praxis – greifen mit mächtiger Hand in das Rad des Daseins; sie drehen seine Speichen ein Stück vorwärts, indem sie das Gefühl in sich tragen, der Welt neue Kräfte gewinnen zu müssen, nicht anders zu können, als Welt zu gestalten, indem sie sich selbst gestalten. Sie fragen nicht nach dem Werte des Lebens, sie fühlen die furchtbaren Gründe, auf denen es ruht, sie kennen seine Furchtbarkeit und seine Untiefen – und gewinnen daraus Einsicht und Kraft, es neu zu gestalten, ihren Willen zur Macht daran zu erproben, selbst wie göttliche Kräfte, darin zu zerstören, zu vernichten, Altes zu zerbrechen, Verbrecher am Gesetz zu werden, um Neues, Größeres werden zu lassen. Sie sagen „Ja“ zum Gesamtdasein und können darum zu keinem Teil „Nein“ sagen: denn die Notwendigkeit verschlingt alle Dinge untrennbar ineinander, daß man alles Sein bejahen muß, wenn man den kleinsten Teil bejaht. Ihre unendlich strömende Kraft freut sich des Gestaltens an dieser Welt, der einzigen Aufgabe des Menschen, seines Künstlerberufs. Sie kennen keine seiende Welt, nur eine werdende, eine sein sollende, an der Menschen ihr und der Welt Geschick zimmern. An den Widerständen, die sie ihnen bietet, wächst ihre Kraft; ihr Wille zur Macht kann sich nie genug tun, dieser Welt immer neue Gestalten zu geben, von ihrer Fülle, dem Reichtum ihrer Geistes- und Willenskräfte in die Welt hinüberströmen zu lassen. Sie sehen auf diese Welt als ihr Werk und wünschen sich nur eins: stets wieder an ihr zu formen bis in alle Unendlichkeit, immer von neuem wieder, unendlich oft. Sie bejahen dieses Dasein und wünschen, so wie es ist, wie es durch sie und ihren Machtwillen wird, möchte es wiederkehren: in gleicher Form unendlich oft in ewiger Wiederkehr. Diese Sehnsucht, ihrem Machtwillen entstammend, gibt ihnen Kraft – und diese neue Kraft gibt ihnen neue Sehnsucht. Die Schwachen aber gehen an dem Gedanken zugrunde, daß dieses Leben unendlich oft wiederkehren möge – und hier wie überall[Pg xiv] trennen sich denn die Menschen in ihrem Glauben, ihrem Wissen, ihrer Kunst, ihrem Handeln und Wünschen notwendig in die Starken und die Schwachen, weil dieser Unterschied ruht auf dem letzten Grunde des Seins: dem Grade des Willens zur Macht. Max Brahn. [Pg xv] Inhalt.
[Pg 1] Erstes Buch. Der europäische Nihilismus.1. Geschichte.1.Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte. Ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: die Heraufkunft des Nihilismus. Diese Geschichte kann jetzt schon erzählt werden: denn die Notwendigkeit selbst ist hier am Werke. Diese Zukunft redet schon in hundert Zeichen, dieses Schicksal kündigt überall sich an; für diese Musik der Zukunft sind alle Ohren bereits gespitzt. Unsere ganze europäische Kultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt: wie ein Strom, der ans Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen. 2.– Der hier das Wort nimmt, hat umgekehrt nichts bisher getan als sich zu besinnen: als ein Philosoph und Einsiedler aus Instinkt, der seinen Vorteil im Abseits, im Außerhalb, in der Geduld, in der Verzögerung, in der Zurückgebliebenheit fand; als ein Wage- und – Versuchergeist, der sich schon in jedes Labyrinth der Zukunft einmal verirrt hat; als ein Wahrsagevogel-Geist, der zurückblickt, wenn er erzählt, was kommen wird; als der erste vollkommene Nihilist Europas, der aber den Nihilismus selbst schon in sich zu Ende gelebt hat, – der ihn hinter sich, unter sich, außer sich hat. 3.Denn man vergreife sich nicht über den Sinn des Titels, mit dem dies Zukunftsevangelium benannt sein will. „Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte“ – mit dieser Formel ist eine Gegenbewegung zum Aus[Pg 2]druck gebracht in Absicht auf Prinzip und Aufgabe; eine Bewegung, welche in irgendeiner Zukunft jenen vollkommenen Nihilismus ablösen wird, welche ihn aber voraussetzt, logisch und psychologisch, welche schlechterdings nur auf ihn und aus ihm kommen kann. Denn warum ist die Heraufkunft des Nihilismus nunmehr notwendig? Weil unsre bisherigen Werte selbst es sind, die in ihm ihre letzte Folgerung ziehen, weil der Nihilismus die zu Ende gedachte Logik unsrer großen Werte und Ideale ist, – weil wir den Nihilismus erst erleben müssen, um dahinter zu kommen, was eigentlich der Wert dieser „Werte“ war.... Wir haben, irgendwann, neue Werte nötig.... 4.Die Verdüsterung, die pessimistische Färbung kommt notwendig im Gefolge der Aufklärung. Gegen 1770 bemerkte man bereits die Abnahme der Heiterkeit; Frauen dachten mit jenem weiblichen Instinkt, der immer zugunsten der Tugend Partei nimmt, daß die Immoralität daran schuld sei. Galiani traf ins Schwarze: er zitiert Voltaires Vers: Un monstre gai vaut mieux Wenn ich nun vermeine, jetzt um ein paar Jahrhunderte Voltairen und sogar Galiani – der etwas viel Tieferes war – in der Aufklärung voraus zu sein: wie weit mußte ich also gar in der Verdüsterung gelangt sein! Dies ist auch wahr: und ich nahm zeitig mich mit einer Art Bedauern in acht vor der deutschen und christlichen Enge und Folgeunrichtigkeit des Schopenhauerschen oder gar Leopardischen Pessimismus und suchte die prinzipiellsten Formen auf (– Asien –). Um aber diesen extremen Pessimismus zu ertragen (wie er hier und da aus meiner „Geburt der Tragödie“ herausklingt), „ohne Gott und Moral“ allein zu leben, mußte ich mir ein Gegenstück erfinden. Vielleicht weiß ich am besten, warum der Mensch allein lacht: er allein leidet so tief, daß er das Lachen erfinden mußte. Das unglücklichste und melancholischste Tier ist, wie billig, das heiterste. [Pg 3] 5. |
„Zweck und Mittel“ | } | als Ausdeutungen (nicht als Tatbestand) und inwiefern vielleicht notwendige Ausdeutungen? (als „erhaltende“) – alle im Sinne eines Willens zur Macht. |
„Ursache und Wirkung“ | ||
„Subjekt und Objekt“ | ||
„Tun und Leiden“ | ||
„Ding an sich und Erscheinung“ |
279.
Es ist unwahrscheinlich, daß unser „Erkennen“ weiter reichen sollte, als es knapp zur Erhaltung des Lebens ausreicht. Die Morphologie zeigt uns, wie die Sinne und die Nerven sowie das Gehirn sich entwickeln im Verhältnis zur Schwierigkeit der Ernährung.
280.
Die Erkenntnis wird bei höherer Art von Wesen auch neue Formen haben, welche jetzt noch nicht nötig sind.
[Pg 160]
281.
Der Mensch findet zuletzt in den Dingen nichts wieder, als was er selbst in sie hineingesteckt hat: – das Wiederfinden heißt sich Wissenschaft, das Hineinstecken – Kunst, Religion, Liebe, Stolz. In beidem, wenn es selbst Kinderspiel sein sollte, sollte man fortfahren und guten Mut zu beidem haben – die einen zum Wiederfinden, die andern – wir andern! – zum Hineinstecken!
282.
„Der Sinn für Wahrheit“ muß, wenn die Moralität des „Du sollst nicht lügen“ abgewiesen ist, sich vor einem andern Forum legitimieren: – als Mittel der Erhaltung von Mensch, als Machtwille.
Ebenso unsre Liebe zum Schönen: ist ebenfalls der gestaltende Wille. Beide Sinne stehen beieinander; der Sinn für das Wirkliche ist das Mittel, die Macht in die Hand zu bekommen, um die Dinge nach unserem Belieben zu gestalten. Die Lust am Gestalten und Umgestalten – eine Urlust! Wir können nur eine Welt begreifen, die wir selber gemacht haben.
283.
Die Welt „vermenschlichen“, das heißt immer mehr uns in ihr als Herren fühlen –
284.
Unsre Werte sind in die Dinge hineininterpretiert.
Gibt es denn einen Sinn im An-sich!?
Ist nicht notwendig Sinn eben Beziehungssinn und Perspektive?
Aller Sinn ist Wille zur Macht (alle Beziehungssinne lassen sich in ihm auflösen).
285.
Wenn das innerste Wesen des Seins Wille zur Macht ist, wenn Lust alles Wachstum der Macht, Unlust alles Gefühl, nicht widerstehen, nicht Herr werden zu können, ist: dürfen wir dann nicht Lust und Unlust als Kardinaltatsachen ansetzen? Ist Wille möglich ohne diese beiden Os[Pg 161]zillationen des Ja und des Nein? – Aber wer fühlt Lust?.... Aber wer will Macht?.... Absurde Frage! wenn das Wesen selbst Machtwille und folglich Lust- und Unlustfühlen ist! Trotzdem: es bedarf der Gegensätze, der Widerstände, also, relativ, der übergreifenden Einheiten....
286.
1. Die organischen Funktionen zurückübersetzt in den Grundwillen, den Willen zur Macht, – und aus ihm abgespaltet.
2. Der Wille zur Macht sich spezialisierend als Wille zur Nahrung, nach Eigentum, nach Werkzeugen, nach Dienern (Gehorchern) und Herrschern: der Leib als Beispiel. – Der stärkere Wille dirigiert den schwächeren. Es gibt gar keine andere Kausalität als die von Wille zu Wille. Mechanistisch nicht erklärt.
3. Denken, Fühlen, Wollen in allem Lebendigen. Was ist eine Lust anderes als: eine Reizung des Machtgefühls durch ein Hemmnis (noch stärker durch rhythmische Hemmungen und Widerstände) – so daß es dadurch anschwillt. Also in aller Lust ist Schmerz inbegriffen. – Wenn die Lust sehr groß werden soll, müssen die Schmerzen sehr lange und die Spannung des Bogens ungeheuer werden.
4. Die geistigen Funktionen. Wille zur Gestaltung, zur Anähnlichung usw.
287.
Der Wille zur Macht kann sich nur an Widerständen äußern; er sucht also nach dem, was ihm widersteht, – dies die ursprüngliche Tendenz des Protoplasmas, wenn es Pseudopodien ausstreckt und um sich tastet. Die Aneignung und Einverleibung ist vor allem ein Überwältigenwollen, ein Formen, An- und Umbilden, bis endlich das Überwältigte ganz in den Machtbereich des Angreifers übergegangen ist und denselben vermehrt hat. – Gelingt diese Einverleibung nicht, so zerfällt wohl das Gebilde; und die Zweiheit erscheint als Folge des Willens zur Macht: um nicht fahren zu lassen, was erobert ist, tritt der Wille zur Macht in zwei[Pg 162] Willen auseinander (unter Umständen ohne seine Verbindung untereinander völlig aufzugeben).
„Hunger“ ist nur eine engere Anpassung, nachdem der Grundtrieb nach Macht geistigere Gestalt gewonnen hat.
288.
Man kann das, was die Ursache dafür ist, daß es überhaupt Entwicklung gibt, nicht selbst wieder auf dem Wege der Forschung über Entwicklung finden; man soll es nicht als „werdend“ verstehen wollen, noch weniger als geworden.... Der „Wille zur Macht“ kann nicht geworden sein.
289.
Alles Geschehen aus Absichten ist reduzierbar auf die Absicht der Mehrung von Macht.
290.
Was ist „passiv“? – Gehemmt sein in der vorwärtsgreifenden Bewegung: also ein Handeln des Widerstandes und der Reaktion.
Was ist „aktiv“? – nach Macht ausgreifend.
„Ernährung“ – ist nur abgeleitet; das Ursprüngliche ist: alles in sich einschließen wollen.
„Zeugung“ – nur abgeleitet; ursprünglich: wo ein Wille nicht ausreicht, das gesamte Angeeignete zu organisieren, tritt ein Gegenwille in Kraft, der die Loslösung vornimmt, ein neues Organisationszentrum, nach einem Kampfe mit dem ursprünglichen Willen.
„Lust“ – als Machtgefühl (die Unlust voraussetzend).
291.
Ist „Wille zur Macht“ eine Art „Wille“ oder identisch mit dem Begriff „Wille“? Heißt es so viel als begehren? oder kommandieren? Ist es der „Wille“, von dem Schopenhauer meint, er sei das „An sich der Dinge“?
Mein Satz ist: daß Wille der bisherigen Psychologie eine ungerechtfertigte Verallgemeinerung ist, daß es diesen Willen gar nicht gibt, daß, statt die Ausgestaltung eines bestimmten Willens in viele Formen zu fassen, man den Charakter des Willens weggestrichen hat, indem man den[Pg 163] Inhalt, das Wohin? heraussubtrahiert hat – : das ist im höchsten Grade bei Schopenhauer der Fall: das ist ein bloßes leeres Wort, was er „Wille“ nennt. Es handelt sich noch weniger um einen „Willen zum Leben“: denn das Leben ist bloß ein Einzelfall des Willens zur Macht; – es ist ganz willkürlich, zu behaupten, daß alles danach strebe, in diese Form des Willens zur Macht überzutreten.
II. Der Geist – ein Machtwille.
1. Wahrnehmung.
292.
Es gibt vielerlei Augen. Auch die Sphinx hat Augen – : und folglich gibt es vielerlei „Wahrheiten“, und folglich gibt es keine Wahrheit.
293.
Unsere Wahrnehmungen, wie wir sie verstehen: das ist die Summe aller der Wahrnehmungen, deren Bewußtwerden uns und dem ganzen organischen Prozesse vor uns nützlich und wesentlich war: also nicht alle Wahrnehmungen überhaupt (zum Beispiel nicht die elektrischen); das heißt: wir haben Sinne nur für eine Auswahl von Wahrnehmungen – solcher, an denen uns gelegen sein muß, um uns zu erhalten. Bewußtsein ist so weit da, als Bewußtsein nützlich ist. Es ist kein Zweifel, daß alle Sinneswahrnehmungen gänzlich durchsetzt sind mit Werturteilen (nützlich und schädlich – folglich angenehm oder unangenehm). Die einzelne Farbe drückt zugleich einen Wert für uns aus (obwohl wir es uns selten oder erst nach langem, ausschließlichem Einwirken derselben Farbe eingestehen, zum Beispiel Gefangene im Gefängnis oder Irre). Deshalb reagieren Insekten auf verschiedene Farben anders: einige lieben diese, andere jene, zum Beispiel Ameisen.
294.
Diese perspektivische Welt, diese Welt für das Auge, Getast und Ohr ist sehr falsch, verglichen schon für einen sehr[Pg 164] viel feineren Sinnenapparat. Aber ihre Verständlichkeit, Übersichtlichkeit, ihre Praktikabilität, ihre Schönheit beginnt aufzuhören, wenn wir unsre Sinne verfeinern: ebenso hört die Schönheit auf beim Durchdenken von Vorgängen der Geschichte; die Ordnung des Zwecks ist schon eine Illusion. Genug, je oberflächlicher und gröber zusammenfassend, um so wertvoller, bestimmter, schöner, bedeutungsvoller erscheint die Welt. Je tiefer man hineinsieht, um so mehr verschwindet unsere Wertschätzung, – die Bedeutungslosigkeit naht sich! Wir haben die Welt, welche Wert hat, geschaffen! Dies erkennend, erkennen wir auch, daß die Verehrung der Wahrheit schon die Folge einer Illusion ist – und daß man mehr als sie die bildende, vereinfachende, gestaltende, erdichtende Kraft zu schätzen hat.
„Alles ist falsch! Alles ist erlaubt!“
Erst bei einer gewissen Stumpfheit des Blickes, einem Willen zur Einfachheit stellt sich das Schöne, das „Wertvolle“ ein: an sich ist es, ich weiß nicht was.
295.
Erst Bilder – zu erklären, wie Bilder im Geiste entstehen. Dann Worte, angewendet auf Bilder. Endlich Begriffe, erst möglich, wenn es Worte gibt – ein Zusammenfassen vieler Bilder unter etwas Nicht-Anschauliches, sondern Hörbares (Wort). Das kleine bißchen Emotion, welches beim „Wort“ entsteht, also beim Anschauen ähnlicher Bilder, für die ein Wort da ist – diese schwache Emotion ist das Gemeinsame, die Grundlage des Begriffes. Daß schwache Empfindungen als gleich angesetzt werden, als dieselben empfunden werden, ist die Grundtatsache. Also die Verwechslung zweier ganz benachbarten Empfindungen in der Konstatierung dieser Empfindungen; – wer aber konstatiert? Das Glauben ist das Uranfängliche schon in jedem Sinneseindruck: eine Art Ja-sagen erste intellektuelle Tätigkeit! Ein „Für-wahr-halten“ im Anfange! Also zu erklären: wie ein „Für-wahr-halten“ entstanden ist! Was liegt für eine Sensation hinter „wahr“?
[Pg 165]
296.
Widerspruch gegen die angeblichen „Tatsachen des Bewußtseins“. Die Beobachtung ist tausendfach schwieriger, der Irrtum vielleicht Bedingung der Beobachtung überhaupt.
297.
Kritik der neuen Philosophie: fehlerhafter Ausgangspunkt, als ob es „Tatsachen des Bewußtseins“ gäbe – und keinen Phänomenalismus in der Selbstbeobachtung.
298.
„Bewußtsein“ – inwiefern die vorgestellte Vorstellung, der vorgestellte Wille, das vorgestellte Gefühl (das uns allein bekannte) ganz oberflächlich ist! „Erscheinung“ auch unsre innere Welt!
299.
Der Phänomenalismus der „inneren Welt“. Die chronologische Umdrehung, so daß die Ursache später ins Bewußtsein tritt als die Wirkung. – Wir haben gelernt, daß der Schmerz an eine Stelle des Leibes projiziert wird, ohne dort seinen Sitz zu haben – : wir haben gelernt, daß die Sinnesempfindung, welche man naiv als bedingt durch die Außenwelt ansetzt, vielmehr durch die Innenwelt bedingt ist: daß die eigentliche Aktion der Außenwelt immer unbewußt verläuft..... Das Stück Außenwelt, das uns bewußt wird, ist nachgeboren nach der Wirkung, die von außen auf uns geübt ist, ist nachträglich projiziert als deren „Ursache“....
In dem Phänomenalismus der „innern Welt“ kehren wir die Chronologie von Ursache und Wirkung um. Die Grundtatsache der „inneren Erfahrung“ ist, daß die Ursache imaginiert wird, nachdem die Wirkung erfolgt ist.... Dasselbe gilt auch von der Abfolge der Gedanken: – wir suchen den Grund zu einem Gedanken, bevor er uns noch bewußt ist: und dann tritt zuerst der Grund und dann dessen Folge ins Bewußtsein.... Unser ganzes Träumen ist die Auslegung von Gesamtgefühlen auf mögliche Ur[Pg 166]sachen: und zwar so, daß ein Zustand erst bewußt wird, wenn die dazu erfundene Kausalitätskette ins Bewußtsein getreten ist.
Die ganze „innere Erfahrung“ beruht darauf, daß zu einer Erregung der Nervenzentren eine Ursache gesucht und vorgestellt wird – und daß erst die gefundene Ursache ins Bewußtsein tritt: diese Ursache ist schlechterdings nicht adäquat der wirklichen Ursache, – es ist ein Tasten auf Grund der ehemaligen „inneren Erfahrungen“, das heißt des Gedächtnisses. Das Gedächtnis erhält aber auch die Gewohnheit der alten Interpretationen, das heißt der irrtümlichen Ursächlichkeit, – so daß die „innere Erfahrung“ in sich noch die Folgen aller ehemaligen falschen Kausalfiktionen zu tragen hat. Unsere „Außenwelt“, wie wir sie jeden Augenblick projizieren, ist unauflöslich gebunden an den alten Irrtum vom Grunde: wir legen sie aus mit dem Schematismus des „Dings“ usw.
Die „innere Erfahrung“ tritt uns ins Bewußtsein erst nachdem sie eine Sprache gefunden hat, die das Individuum versteht – das heißt eine Übersetzung eines Zustandes in ihm bekanntere Zustände – : „verstehen“ das heißt naiv bloß: etwas Neues ausdrücken können in der Sprache von etwas Altem, Bekanntem. Zum Beispiel „ich befinde mich schlecht“ – ein solches Urteil setzt eine große und späte Neutralität des Beobachtenden voraus – : der naive Mensch sagt immer: das und das macht, daß ich mich schlecht befinde, – er wird über sein Schlechtbefinden erst klar, wenn er einen Grund sieht, sich schlecht zu befinden.... Das nenne ich den Mangel an Philologie; einen Text als Text ablesen können, ohne eine Interpretation dazwischen zu mengen, ist die späteste Form der „inneren Erfahrung“, – vielleicht eine kaum mögliche....
300.
Das Bewußtsein, – ganz äußerlich beginnend, als Koordination und Bewußtwerden der „Eindrücke“ – anfänglich am weitesten entfernt vom biologischen Zentrum des[Pg 167] Individuums; aber ein Prozeß, der sich vertieft, verinnerlicht, jenem Zentrum beständig annähert.
301.
Ursprünglich Chaos der Vorstellungen. Die Vorstellungen, die sich miteinander vertrugen, blieben übrig, die größte Zahl ging zugrunde – und geht zugrunde.
302.
Rolle des „Bewußtseins“. – Es ist wesentlich, daß man sich über die Rolle des „Bewußtseins“ nicht vergreift: es ist unsere Relation mit der „Außenwelt“, welche es entwickelt hat. Dagegen die Direktion, respektive die Obhut und Vorsorglichkeit in Hinsicht auf das Zusammenspiel der leiblichen Funktionen tritt uns nicht ins Bewußtsein; ebensowenig als die geistige Einmagazinierung: daß es dafür eine oberste Instanz gibt, darf man nicht bezweifeln: eine Art leitendes Komitee, wo die verschiedenen Hauptbegierden ihre Stimme und Macht geltend machen. „Lust“, „Unlust“ sind Winke aus dieser Sphäre her: der Willensakt insgleichen: die Ideen insgleichen.
In summa: Das, was bewußt wird, steht unter kausalen Beziehungen, die uns ganz und gar vorenthalten sind, – die Aufeinanderfolge von Gedanken, Gefühlen, Ideen im Bewußtsein drückt nichts darüber aus, daß diese Folge eine kausale Folge ist: es ist aber scheinbar so, im höchsten Grade. Auf diese Scheinbarkeit hin haben wir unsere ganze Vorstellung von Geist, Vernunft, Logik usw. gegründet (– das gibt es alles nicht: es sind fingierte Synthesen und Einheiten) und diese wieder in die Dinge, hinter die Dinge projiziert!
Gewöhnlich nimmt man das Bewußtsein selbst als Gesamtsensorium und oberste Instanz; indessen, es ist nur ein Mittel der Mitteilbarkeit: es ist im Verkehr entwickelt, und in Hinsicht auf Verkehrsinteressen.... „Verkehr“ hier verstanden auch von den Einwirkungen der Außenwelt und den unsererseits dabei nötigen Reaktionen; ebenso[Pg 168] wie von unseren Wirkungen nach außen. Es ist nicht die Leitung, sondern ein Organ der Leitung.
303.
Die Sinneswahrnehmungen nach „außen“ projiziert: „innen“ und „außen“ – da kommandiert der Leib –?
Dieselbe gleichmachende und ordnende Kraft, welche im Idioplasma waltet, waltet auch beim Einverleiben der Außenwelt: unsere Sinneswahrnehmungen sind bereits das Resultat dieser Anähnlichung und Gleichsetzung in bezug auf alle Vergangenheit in uns; sie folgen nicht sofort auf den „Eindruck“ –
304.
In betreff des Gedächtnisses muß man umlernen: hier steckt die Hauptverführung, eine „Seele“ anzunehmen, welche zeitlos reproduziert, wiedererkennt usw. Aber das Erlebte lebt fort „im Gedächtnis“; daß es „kommt“, dafür kann ich nichts, der Wille ist dafür untätig, wie beim Kommen jedes Gedankens. Es geschieht etwas, dessen ich mir bewußt werde: jetzt kommt etwas Ähnliches – wer ruft es? weckt es?
305.
Alles Denken, Urteilen, Wahrnehmen als Vergleichen hat als Voraussetzung ein „Gleichsetzen“, noch früher ein „Gleichmachen“. Das Gleichmachen ist dasselbe, was die Einverleibung der angeeigneten Materie in die Amöbe ist.
„Erinnerung“ spät, insofern hier der gleichmachende Trieb bereits gebändigt erscheint: die Differenz wird bewahrt. Erinnern als ein Einrubrizieren und Einschachteln; aktiv – wer?
306.
Der Glaube an den Leib ist fundamentaler als der Glaube an die Seele: letzterer ist entstanden aus der unwissenschaftlichen Betrachtung der Agonien des Leibes (etwas, das ihn verläßt. Glaube an die Wahrheit des Traumes –).
[Pg 169]
307.
Ausgangspunkt vom Leibe und der Physiologie: warum? – Wir gewinnen die richtige Vorstellung von der Art unsrer Subjekteinheit, nämlich als Regenten an der Spitze eines Gemeinwesens (nicht als „Seelen“ oder „Lebenskräfte“), insgleichen von der Abhängigkeit dieser Regenten von den Regierten und den Bedingungen der Rangordnung und Arbeitsteilung als Ermöglichung zugleich der Einzelnen und des Ganzen. Ebenso wie fortwährend die lebendigen Einheiten entstehen und sterben und wie zum „Subjekt“ nicht Ewigkeit gehört; ebenso daß der Kampf auch in Gehorchen und Befehlen sich ausdrückt und ein fließendes Machtgrenzen-Bestimmen zum Leben gehört. Die gewisse Unwissenheit, in der der Regent gehalten wird über die einzelnen Verrichtungen und selbst Störungen des Gemeinwesens, gehört mit zu den Bedingungen, unter denen regiert werden kann. Kurz, wir gewinnen eine Schätzung auch für das Nichtwissen, das Im-Großen-und-Groben-Sehen, das Vereinfachen und Fälschen, das Perspektivische. Das Wichtigste ist aber: daß wir den Beherrscher und seine Untertanen als gleicher Art verstehen, alle fühlend, wollend, denkend – und daß wir überall, wo wir Bewegung im Leibe sehen oder erraten, auf ein zugehöriges subjektives, unsichtbares Leben hinzuschließen lernen. Bewegung ist eine Symbolik für das Auge; sie deutet hin, daß etwas gefühlt, gewollt, gedacht worden ist.
Das direkte Befragen des Subjekts über das Subjekt und alle Selbstbespiegelung des Geistes hat darin seine Gefahren, daß es für seine Tätigkeit nützlich und wichtig sein könnte, sich falsch zu interpretieren. Deshalb fragen wir den Leib und lehnen das Zeugnis der verschärften Sinne ab: wenn man will, wir sehen zu, ob nicht die Untergebenen selber mit uns in Verkehr treten können.
308.
Alles, was einfach ist, ist bloß imaginär, ist nicht „wahr“. Was aber wirklich, was wahr ist, ist weder eins, noch auch nur reduzierbar auf eins.
[Pg 170]
309.
Ich halte die Phänomenalität auch der inneren Welt fest: Alles, was uns bewußt wird, ist durch und durch erst zurechtgemacht, vereinfacht, schematisiert, ausgelegt, – der wirkliche Vorgang der inneren „Wahrnehmung“, die Kausalvereinigung zwischen Gedanken, Gefühlen, Begehrungen, zwischen Subjekt und Objekt ist uns absolut verborgen – und vielleicht eine reine Einbildung. Diese „scheinbare innere Welt“ ist mit ganz denselben Formen und Prozeduren behandelt, wie die „äußere“ Welt. Wir stoßen nie auf „Tatsachen“: Lust und Unlust sind späte und abgeleitete Intellektphänomene....
Die „Ursächlichkeit“ entschlüpft uns; zwischen Gedanken ein unmittelbares, ursächliches Band anzunehmen, wie es die Logik tut – das ist Folge der allergröbsten und plumpsten Beobachtung. Zwischen zwei Gedanken spielen noch alle möglichen Affekte ihr Spiel: aber die Bewegungen sind zu rasch, deshalb verkennen wir sie, leugnen wir sie..
„Denken“, wie es die Erkenntnistheoretiker ansetzen, kommt gar nicht vor: das ist eine ganz willkürliche Fiktion, erreicht durch Heraushebung eines Elementes aus dem Prozeß und Subtraktion aller übrigen, eine künftige Zurechtmachung zum Zwecke der Verständlichung....
Der „Geist“, etwas, das denkt: womöglich gar „der Geist absolut, rein, pur“ – diese Konzeption ist eine abgeleitete zweite Folge der falschen Selbstbeobachtung, welche an „Denken“ glaubt: hier ist erst ein Akt imaginiert, der gar nicht vorkommt, „das Denken“, und zweitens ein Subjektsubstrat imaginiert, in dem jeder Akt dieses Denkens und sonst nichts anderes seinen Ursprung hat: das heißt, sowohl das Tun, als der Täter sind fingiert.
310.
Nichts ist fehlerhafter, als aus psychischen und physischen Phänomenen die zwei Gesichter, die zwei Offenbarungen einer und derselben Substanz zu machen. Damit erklärt man nichts: der Begriff „Substanz“ ist vollkommen unbrauch[Pg 171]bar, wenn man erklären will. Das Bewußtsein, in zweiter Rolle, fast indifferent, überflüssig, bestimmt vielleicht, zu verschwinden und einem vollkommenen Automatismus Platz zu machen –
Wenn wir nur die inneren Phänomene beobachten, so sind wir vergleichbar den Taubstummen, die aus der Bewegung der Lippen die Worte erraten, die sie nicht hören. Wir schließen aus den Erscheinungen des inneren Sinns auf unsichtbare und andere Phänomene, welche wir wahrnehmen würden, wenn unsere Beobachtungsmittel zureichend wären, und welche man den Nervenstrom nennt.
Für diese innere Welt gehen uns alle feineren Organe ab, so daß wir eine tausendfache Komplexität noch als Einheit empfinden, so daß wir eine Kausalität hineinerfinden, wo jeder Grund der Bewegung und Veränderung uns unsichtbar bleibt, – die Aufeinanderfolge von Gedanken, von Gefühlen ist ja nur das Sichtbarwerden derselben im Bewußtsein. Daß diese Reihenfolge irgend etwas mit einer Kausalverkettung zu tun habe, ist völlig unglaubwürdig: das Bewußtsein liefert uns nie ein Beispiel von Ursache und Wirkung.
311.
Alles, was als „Einheit“ ins Bewußtsein tritt, ist bereits ungeheuer kompliziert: wir haben immer nur einen Anschein von Einheit.
Das Phänomen des Leibes ist das reichere, deutlichere, faßbarere Phänomen: methodisch voranzustellen, ohne etwas auszumachen über seine letzte Bedeutung.
312.
Wo es eine gewisse Einheit in der Gruppierung gibt, hat man immer den Geist als Ursache dieser Koordination gesetzt: wozu jeder Grund fehlt. Warum sollte die Idee eines komplexen Faktums eine der Bedingungen dieses Faktums sein? oder warum müßte einem komplexen Faktum die Vorstellung als Ursache davon präzedieren? –
Wir werden uns hüten, die Zweckmäßigkeit durch den[Pg 172] Geist zu erklären: es fehlt jeder Grund, dem Geist die Eigentümlichkeit, zu organisieren und zu systematisieren, zuzuschreiben. Das Nervensystem hat ein viel ausgedehnteres Reich: die Bewußtseinswelt ist hinzugefügt. Im Gesamtprozeß der Adaptation und Systematisation spielt das Bewußtsein keine Rolle.
313.
Die Physiologen wie die Philosophen glauben, das Bewußtsein, im Maße es an Helligkeit zunimmt, wachse im Werte: das hellste Bewußtsein, das logischste, kälteste Denken sei ersten Ranges. Indessen – wonach ist dieser Wert bestimmt? – In Hinsicht auf Auslösung des Willens ist das oberflächlichste, vereinfachteste Denken das am meisten nützliche, – es könnte deshalb das – usw. (weil es wenig Motive übrig läßt).
Die Präzision des Handelns steht im Antagonismus mit der weitblickenden und oft ungewiß urteilenden Vorsorglichkeit: letztere durch den tieferen Instinkt geführt.
314.
Hauptirrtum der Psychologen: sie nehmen die undeutliche Vorstellung als eine niedrigere Art der Vorstellung gegen die helle gerechnet: aber was aus unserm Bewußtsein sich entfernt und deshalb dunkel wird, kann deshalb an sich vollkommen klar sein. Das Dunkelwerden ist Sache der Bewußtseinsperspektive.
315.
Die ungeheuren Fehlgriffe:
1. die unsinnige Überschätzung des Bewußtseins, aus ihm eine Einheit, ein Wesen gemacht: „der Geist“, „die Seele“, etwas, das fühlt, denkt, will –
2. der Geist als Ursache, namentlich überall, wo Zweckmäßigkeit, System, Koordination erscheinen;
3. das Bewußtsein als höchste erreichbare Form, als oberste Art Sein, als „Gott“;
4. der Wille überall eingetragen, wo es Wirkung gibt;
[Pg 173]
5. die „wahre Welt“ als geistige Welt, als zugänglich durch die Bewußtseinstatsachen;
6. die Erkenntnis absolut als Fähigkeit des Bewußtseins, wo überhaupt es Erkenntnis gibt.
Folgerungen:
jeder Fortschritt liegt in dem Fortschritt zum Bewußtwerden; jeder Rückschritt im Unbewußtwerden; (– das Unbewußtwerden galt als Verfallensein an die Begierden und Sinne, – als Vertierung....)
man nähert sich der Realität, dem „wahren Sein“ durch Dialektik; man entfernt sich von ihm durch Instinkte, Sinne, Mechanismus....
den Menschen in Geist auflösen, hieße ihn zu Gott machen: Geist, Wille, Güte – Eins;
alles Gute muß aus der Geistigkeit stammen, muß Bewußtseinstatsache sein;
der Fortschritt zum Besseren kann nur ein Fortschritt im Bewußtwerden sein.
316.
Über die Herkunft unsrer Wertschätzungen.
Wir können uns unsern Leib räumlich auseinanderlegen, und dann erhalten wir ganz dieselbe Vorstellung davon wie vom Sternensystem, und der Unterschied von organisch und unorganisch fällt nicht mehr in die Augen. Ehemals erklärte man die Sternbewegungen als Wirkungen zweckbewußter Wesen: man braucht das nicht mehr, und auch in betreff des leiblichen Bewegens und Sichveränderns glaubt man lange nicht mehr mit dem zwecksetzenden Bewußtsein auszukommen. Die allergrößte Menge der Bewegungen hat gar nichts mit Bewußtsein zu tun: auch nicht mit Empfindung. Die Empfindungen und Gedanken sind etwas äußerst Geringes und Seltenes im Verhältnis zu dem zahllosen Geschehen in jedem Augenblick.
Umgekehrt nehmen wir wahr, daß eine Zweckmäßigkeit im kleinsten Geschehen herrscht, der unser bestes Wissen nicht gewachsen ist: eine Vorsorglichkeit, eine Auswahl, ein[Pg 174] Zusammenbringen, Wiedergutmachen usw. Kurz, wir finden eine Tätigkeit vor, die einem ungeheuer viel höheren und überschauenden Intellekt zuzuschreiben wäre, als der uns bewußte ist. Wir lernen von allem Bewußten geringer denken: wir verlernen, uns für unser Selbst verantwortlich zu machen, da wir als bewußte, zwecksetzende Wesen nur der kleinste Teil davon sind. Von den zahlreichen Einwirkungen in jedem Augenblick, zum Beispiel Luft, Elektrizität, empfinden wir fast nichts: es könnte genug Kräfte geben, welche, obschon sie uns nie zur Empfindung kommen, uns fortwährend beeinflussen. Lust und Schmerz sind ganz seltene und spärliche Erscheinungen gegenüber den zahllosen Reizen, die eine Zelle, ein Organ auf eine andre Zelle, ein andres Organ ausübt.
Es ist die Phase der Bescheidenheit des Bewußtseins. Zuletzt verstehen wir das bewußte Ich selber nur als ein Werkzeug im Dienste jenes höheren, überschauenden Intellekts: und da können wir fragen, ob nicht alles bewußte Wollen, alle bewußten Zwecke, alle Wertschätzungen vielleicht nur Mittel sind, mit denen etwas wesentlich Verschiedenes erreicht werden soll, als es innerhalb des Bewußtseins scheint. Wir meinen: es handle sich um unsre Lust und Unlust – – – aber Lust und Unlust könnten Mittel sein, vermöge deren wir etwas zu leisten hätten, was außerhalb unseres Bewußtseins liegt – – – Es ist zu zeigen, wie sehr alles Bewußte auf der Oberfläche bleibt: wie Handlung und Bild der Handlung verschieden ist, wie wenig man von dem weiß, was einer Handlung vorhergeht: wie phantastisch unsere Gefühle „Freiheit des Willens“, „Ursache und Wirkung“ sind: wie Gedanken und Bilder, wie Worte nur Zeichen von Gedanken sind: die Unergründlichkeit jeder Handlung: die Oberflächlichkeit alles Lobens und Tadelns: wie wesentlich Erfindung und Einbildung ist, worin wir bewußt leben: wie wir in allen unsern Worten von Erfindungen reden (Affekte auch), und wie die Verbindung der Menschheit auf einem Überleiten und Fortdichten dieser Er[Pg 175]findungen beruht: während im Grunde die wirkliche Verbindung (durch Zeugung) ihren unbekannten Weg geht. Verändert wirklich dieser Glaube an die gemeinsamen Erfindungen die Menschen? Oder ist das ganze Ideen- und Wertschätzungswesen nur ein Ausdruck selber von unbekannten Veränderungen? Gibt es denn Willen, Zwecke, Gedanken, Werte wirklich? Ist vielleicht das ganze bewußte Leben nur ein Spiegelbild? Und auch wenn die Wertschätzung einen Menschen zu bestimmen scheint, geschieht im Grunde etwas ganz anderes! Kurz: gesetzt, es gelänge, das Zweckmäßige im Wirken der Natur zu erklären ohne die Annahme eines zweckesetzenden Ichs: könnte zuletzt vielleicht auch unser Zweckesetzen, unser Wollen usw. nur eine Zeichensprache sein für etwas Wesentlich-Anderes, nämlich Nicht-Wollendes und Unbewußtes? nur der feinste Anschein jener natürlichen Zweckmäßigkeit des Organischen, aber nichts Verschiedenes davon?
Und kurz gesagt: es handelt sich vielleicht bei der ganzen Entwicklung des Geistes um den Leib: es ist die fühlbar werdende Geschichte davon, daß ein höherer Leib sich bildet. Das Organische steigt noch auf höhere Stufen. Unsere Gier nach Erkenntnis der Natur ist ein Mittel, wodurch der Leib sich vervollkommnen will. Oder vielmehr: es werden Hunderttausende von Experimenten gemacht, die Ernährung, Wohnart, Lebensweise des Leibes zu verändern: das Bewußtsein und die Wertschätzungen in ihm, alle Arten von Lust und Unlust sind Anzeichen dieser Veränderungen und Experimente. Zuletzt handelt es sich gar nicht um den Menschen: er soll überwunden werden.
317.
Warum alle Tätigkeit, auch die eines Sinnes, mit Lust verknüpft ist? Weil vorher eine Hemmung, ein Druck bestand? Oder vielmehr, weil alles Tun ein Überwinden, ein Herrwerden ist und Vermehrung des Machtgefühls gibt? – Die Lust im Denken. – Zuletzt ist es nicht nur das Gefühl der Macht, sondern die Lust an dem Schaffen[Pg 176] und am Geschaffenen: denn alle Tätigkeit kommt uns ins Bewußtsein als Bewußtsein eines „Werks“.
318.
„Unlust“ und „Lust“ sind die denkbar dümmsten Ausdrucksmittel von Urteilen: womit natürlich nicht gesagt ist, daß die Urteile, welche hier auf diese Art lauten werden, dumm sein müßten. Das Weglassen aller Begründung und Logizität, ein Ja oder Nein in der Reduktion auf ein leidenschaftliches Habenwollen oder Wegstoßen, eine imperativische Abkürzung, deren Nützlichkeit unverkennbar ist: das ist Lust und Unlust. Ihr Ursprung ist in der Zentralsphäre des Intellekts; ihre Voraussetzung ist ein unendlich beschleunigtes Wahrnehmen, Ordnen, Subsummieren, Nachrechnen, Folgern: Lust und Unlust sind immer Schlußphänomene, keine „Ursachen“.
Die Entscheidung darüber, was Unlust und Lust erregen soll, ist vom Grade der Macht abhängig: dasselbe, was in Hinsicht auf ein geringes Quantum Macht als Gefahr und Nötigung zu schnellster Abwehr erscheint, kann bei einem Bewußtsein größerer Machtfülle eine wollüstige Reizung, ein Lustgefühl als Folge haben.
Alle Lust- und Unlustgefühle setzen bereits ein Messen nach Gesamtnützlichkeit, Gesamtschädlichkeit voraus: also eine Sphäre, wo das Wollen eines Ziels (Zustandes) und ein Auswählen der Mittel dazu stattfindet. Lust und Unlust sind niemals „ursprüngliche Tatsachen“.
Lust- und Unlustgefühle sind Willensreaktionen (Affekte), in denen das intellektuelle Zentrum den Wert gewisser eingetretener Veränderungen zum Gesamtwert fixiert, zugleich als Einleitung von Gegenaktionen.
319.
Wie weit unser Intellekt eine Folge von Existenzbedingungen ist – : wir hätten ihn nicht, wenn wir ihn nicht nötig hätten, und hätten ihn nicht so, wenn wir ihn nicht so nötig hätten, wenn wir auch anders leben könnten.
[Pg 177]
2. Erkenntnis.
a. Allgemeines.
320.Man müßte wissen, was Sein ist, um zu entscheiden, ob dies und jenes real ist (zum Beispiel „die Tatsachen des Bewußtseins“); ebenso was Gewißheit ist, was Erkenntnis ist und dergleichen. – Da wir das aber nicht wissen, so ist eine Kritik des Erkenntnisvermögens unsinnig: wie sollte das Werkzeug sich selbst kritisieren können, wenn es eben nur sich zur Kritik gebrauchen kann? Es kann nicht einmal sich selbst definieren!
321.Was kann allein Erkenntnis sein? – „Auslegung“, Sinnhineinlegen, – nicht „Erklärung“ (in den meisten Fällen eine neue Auslegung über eine alte unverständlich gewordene Auslegung, die jetzt selbst nur Zeichen ist). Es gibt keinen Tatbestand; alles ist flüssig, unfaßbar, zurückweichend; das Dauerhafteste sind noch unsre Meinungen.
322.Die Voraussetzung, daß es im Grunde der Dinge so moralisch zugeht, daß die menschliche Vernunft recht behält, – ist eine Treuherzigkeit und Biedermannsvoraussetzung, die Nachwirkung des Glaubens an die göttliche Wahrhaftigkeit – Gott als Schöpfer der Dinge gedacht. – Die Begriffe eine Erbschaft aus einer jenseitigen Vorexistenz – –
323.Erster Satz. Die leichtere Denkweise siegt über die schwierigere; – als Dogma: simplex sigillum veri. – Dico: daß die Deutlichkeit etwas für Wahrheit ausweisen soll, ist eine vollkommene Kinderei....
Zweiter Satz. Die Lehre vom Sein, vom Ding, von lauter festen Einheiten ist hundertmal leichter als die Lehre vom Werden, von der Entwicklung....
[Pg 178]
Dritter Satz. Die Logik war als Erleichterung gemeint: als Ausdrucksmittel, – nicht als Wahrheit.... Später wirkte sie als Wahrheit....
324.Was ist Wahrheit? – Inertia; die Hypothese, bei welcher Befriedigung entsteht: geringster Verbrauch von geistiger Kraft usw.
325.Eine Moral, eine durch lange Erfahrung und Prüfung erprobte, bewiesene Lebensweise kommt zuletzt als Gesetz zum Bewußtsein, als dominierend.... Und damit tritt die ganze Gruppe verwandter Werte und Zustände in sie hinein: sie wird ehrwürdig, unangreifbar, heilig, wahrhaft; es gehört zu ihrer Entwicklung, daß ihre Herkunft vergessen wird.... Es ist ein Zeichen, daß sie Herr geworden ist....
Ganz dasselbe könnte geschehen sein mit den Kategorien der Vernunft: dieselben könnten, unter vielem Tasten und Herumgreifen, sich bewährt haben durch relative Nützlichkeit.... Es kam ein Punkt, wo man sich zusammenfaßte, sich als Ganzes zum Bewußtsein brachte – und wo man sie befahl, das heißt, wo sie wirkten als befehlend.... Von jetzt ab galten sie als a priori, als jenseits der Erfahrung, als unabweisbar. Und doch drücken sie vielleicht nichts aus, als eine bestimmte Rassen- und Gattungszweckmäßigkeit, – bloß ihre Nützlichkeit ist ihre „Wahrheit“ –
326.Daß der Wert der Welt in unserer Interpretation liegt (– daß vielleicht irgendwo noch andre Interpretationen möglich sind, als bloß menschliche –), daß die bisherigen Interpretationen perspektivische Schätzungen sind, vermöge deren wir uns im Leben, das heißt im Willen zur Macht, zum Wachstum der Macht, erhalten, daß jede Erhöhung des Menschen die Überwindung engerer Interpretationen mit sich bringt, daß jede erreichte Verstärkung und Machterweiterung neue Perspektiven auftut und an neue Hori[Pg 179]zonte glauben heißt – das geht durch meine Schriften. Die Welt, die uns etwas angeht, ist falsch, das heißt, ist kein Tatbestand, sondern eine Ausdichtung und Rundung über einer mageren Summe von Beobachtungen; sie ist „im Flusse“, als etwas Werdendes, als eine sich immer neu verschiebende Falschheit, die sich niemals der Wahrheit nähert: denn – es gibt keine „Wahrheit“.
327.Die bestgeglaubten apriorischen „Wahrheiten“ sind für mich – Annahmen bis auf weiteres, zum Beispiel das Gesetz der Kausalität, sehr gut eingeübte Gewöhnungen des Glaubens, so einverleibt, daß nicht daran glauben das Geschlecht zugrunde richten würde. Aber sind es deswegen Wahrheiten? Welcher Schluß! Als ob die Wahrheit damit bewiesen würde, daß der Mensch bestehen bleibt!
328.Die Verirrung der Philosophie ruht darauf, daß man, statt in der Logik und den Vernunftkategorien Mittel zu sehen zum Zurechtmachen der Welt zu Nützlichkeitszwecken (also „prinzipiell“ zu einer nützlichen Fälschung), man in ihnen das Kriterium der Wahrheit, respektive der Realität zu haben glaubte. Das „Kriterium der Wahrheit“ war in der Tat bloß die biologische Nützlichkeit eines solchen Systems prinzipieller Fälschung: und da eine Gattung Tier nichts Wichtigeres kennt, als sich zu erhalten, so dürfte man in der Tat hier von „Wahrheit“ reden. Die Naivität war nur die, die anthropozentrische Idiosynkrasie als Maß der Dinge, als Richtschnur über „real“ und „unreal“ zu nehmen: kurz, eine Bedingtheit zu verabsolutisieren. Und siehe da, jetzt fiel mit einem Mal die Welt auseinander in eine „wahre“ Welt und eine „scheinbare“: und genau die Welt, in der der Mensch zu wohnen und sich einzurichten seine Vernunft erfunden hatte, genau dieselbe wurde ihm diskreditiert. Statt die Formen als Handhabe zu benutzen, sich die Welt handlich und berechenbar zu machen, kam der Wahnsinn der Philosophen dahinter, daß in diesen Kate[Pg 180]gorien der Begriff jener Welt gegeben ist, dem die andere Welt, die, in der man lebt, nicht entspricht.... Die Mittel wurden mißverstanden als Wertmaß, selbst als Verurteilung der Absicht....
Die Absicht war, sich auf eine nützliche Weise zu täuschen: die Mittel dazu die Erfindung von Formeln und Zeichen, mit deren Hilfe man die verwirrende Vielheit auf ein zweckmäßiges und handliches Schema reduzierte.
Aber wehe! jetzt brachte man eine Moralkategorie ins Spiel: kein Wesen will sich täuschen, kein Wesen darf täuschen, – folglich gibt es nur einen Willen zur Wahrheit. Was ist „Wahrheit“?
Der Satz vom Widerspruch gab das Schema: die wahre Welt, zu der man den Weg sucht, kann nicht mit sich in Widerspruch sein, kann nicht wechseln, kann nicht werden, hat keinen Ursprung und kein Ende.
Das ist der größte Irrtum, der begangen worden ist, das eigentliche Verhängnis des Irrtums auf Erden: man glaubte ein Kriterium der Realität in den Vernunftformen zu haben, – während man sie hatte, um Herr zu werden über die Realität, um auf eine kluge Weise die Realität mißzuverstehen....
Und siehe da: jetzt wurde die Welt falsch, und exakt der Eigenschaften wegen, die ihre Realität ausmachen, Wechsel, Werden, Vielheit, Gegensatz, Widerspruch, Krieg.
Und nun war das ganze Verhängnis da:
1. Wie kommt man los von der falschen, der bloß scheinbaren Welt? (– es war die wirkliche, die einzige);
2. wie wird man selbst möglichst der Gegensatz zu dem Charakter der scheinbaren Welt? (Begriff des vollkommenen Wesens als eines Gegensatzes zu jedem realen Wesen, deutlicher, als Widerspruch zum Leben....)
Die ganze Richtung der Werte war auf Verleumdung des Lebens aus; man schuf eine Verwechslung des Idealdogmatismus mit der Erkenntnis überhaupt: so daß die Gegenpartei immer nun auch die Wissenschaft perhorreszierte.
[Pg 181]
Der Weg zur Wissenschaft war dergestalt doppelt versperrt: einmal durch den Glauben an die „wahre“ Welt, und dann durch die Gegner dieses Glaubens. Die Naturwissenschaft, Psychologie war 1. in ihren Objekten verurteilt, 2. um ihre Unschuld gebracht....
In der wirklichen Welt, wo schlechterdings alles verkettet und bedingt ist, heißt irgend etwas verurteilen und wegdenken, alles wegdenken und verurteilen. Das Wort „das sollte nicht sein“, „das hätte nicht sein sollen“ ist eine Farce.... Denkt man die Konsequenzen aus, so ruinierte man den Quell des Lebens, wenn man das abschaffen wollte, was in irgendeinem Sinne schädlich, zerstörerisch ist. Die Physiologie demonstriert es ja besser!
– Wir sehen, wie die Moral a) die ganze Weltauffassung vergiftet, b) den Weg zur Erkenntnis, zur Wissenschaft abschneidet, c) alle wirklichen Instinkte auflöst und untergräbt (indem sie deren Wurzeln als unmoralisch empfinden lehrt).
Wir sehen ein furchtbares Werkzeug der décadence vor uns arbeiten, das sich mit den heiligsten Namen und Gebärden aufrecht hält.
329.Zur „logischen Scheinbarkeit“. – Der Begriff „Individuum“ und „Gattung“ gleichermaßen falsch und bloß augenscheinlich. „Gattung“ drückt nur die Tatsache aus, daß eine Fülle ähnlicher Wesen zu gleicher Zeit hervortreten, und daß das Tempo im Weiterwachsen und Sichverändern eine lange Zeit verlangsamt ist: so daß die tatsächlichen kleinen Fortsetzungen und Zuwachse nicht sehr in Betracht kommen (– eine Entwicklungsphase, bei der das Sichentwickeln nicht in die Sichtbarkeit tritt, so daß ein Gleichgewicht erreicht scheint, und die falsche Vorstellung ermöglicht wird, hier sei ein Ziel erreicht – und es habe ein Ziel in der Entwicklung gegeben....).
Die Form gilt als etwas Dauerndes und deshalb Wertvolleres; aber die Form ist bloß von uns erfunden; und wenn noch so oft „dieselbe Form erreicht wird“, so be[Pg 182]deutet das nicht, daß es dieselbe Form ist, – sondern es erscheint immer etwas Neues – und nur wir, die wir vergleichen, rechnen das Neue, insofern es Altem gleicht, zusammen in die Einheit der „Form“. Als ob ein Typus erreicht werden sollte und gleichsam der Bildung vorschwebe und innewohne.
Die Form, die Gattung, das Gesetz, die Idee, der Zweck – hier wird überall der gleiche Fehler gemacht, daß einer Fiktion eine falsche Realität untergeschoben wird: wie als ob das Geschehen irgendwelchen Gehorsam in sich trage, – eine künstliche Scheidung im Geschehen wird da gemacht zwischen dem, was tut, und dem, wonach das Tun sich richtet (aber das was und das wonach sind nur angesetzt aus einem Gehorsam gegen unsre metaphysisch-logische Dogmatik: kein „Tatbestand“).
Man soll diese Nötigung, Begriffe, Gattungen, Formen, Zwecke, Gesetze zu bilden („eine Welt der identischen Fälle“) nicht so verstehen, als ob wir damit die wahre Welt zu fixieren imstande wären; sondern als Nötigung, uns eine Welt zurecht zu machen, bei der unsre Existenz ermöglicht wird: – wir schaffen damit eine Welt, die berechenbar, vereinfacht, verständlich usw. für uns ist.
Diese selbe Nötigung besteht in der Sinnenaktivität, welche der Verstand unterstützt – durch Vereinfachen, Vergröbern, Unterstreichen und Ausdichten, auf dem alles „Wiedererkennen“, alles Sich-verständlich-machen-können beruht. Unsre Bedürfnisse haben unsre Sinne so präzisiert, daß die „gleiche Erscheinungswelt“ immer wiederkehrt und dadurch den Anschein der Wirklichkeit bekommen hat.
Unsre subjektive Nötigung, an die Logik zu glauben, drückt nur aus, daß wir, längst, bevor uns die Logik selber zum Bewußtsein kam, nichts getan haben als ihre Postulate in das Geschehen hineinlegen: jetzt finden wir sie in dem Geschehen vor –, wir können nicht mehr anders – und vermeinen nun, diese Nötigung verbürge etwas über die „Wahrheit“. Wir sind es, die das „Ding“, das „gleiche Ding“, das Subjekt, das Prädikat, das Tun, das Objekt,[Pg 183] die Substanz, die Form geschaffen haben, nachdem wir das Gleichmachen, das Grob- und Einfachmachen am längsten getrieben haben. Die Welt erscheint uns logisch, weil wir sie erst logisiert haben.
330.Die fortwährenden Übergänge erlauben nicht, von „Individuum“ usw. zu reden; die „Zahl“ der Wesen ist selber im Fluß. Wir würden nichts von Zeit und nichts von Bewegung wissen, wenn wir nicht, in grober Weise, „Ruhendes“ neben Bewegtem zu sehen glaubten. Ebensowenig von Ursache und Wirkung, und ohne die irrtümliche Konzeption des „leeren Raumes“ wären wir gar nicht zur Konzeption des Raums gekommen. Der Satz von der Identität hat als Hintergrund den „Augenschein“, daß es gleiche Dinge gibt. Eine werdende Welt könnte im strengen Sinne nicht „begriffen“, nicht „erkannt“ werden; nur insofern der „begreifende“ und „erkennende“ Intellekt eine schon geschaffene grobe Welt vorfindet, gezimmert aus lauter Scheinbarkeiten, aber fest geworden, insofern diese Art Schein das Leben erhalten hat – nur insofern gibt es etwas wie „Erkenntnis“: das heißt ein Messen der früheren und der jüngeren Irrtümer aneinander.
331.In einer Welt, die wesentlich falsch ist, wäre Wahrhaftigkeit eine widernatürliche Tendenz: eine solche könnte nur Sinn haben als Mittel zu einer besonderen höheren Potenz von Falschheit. Damit eine Welt des Wahren, Seienden fingiert werden konnte, mußte zuerst der Wahrhaftige geschaffen sein (eingerechnet, daß ein solcher sich „wahrhaftig“ glaubt).
Einfach, durchsichtig, mit sich nicht im Widerspruch, dauerhaft, sich gleichbleibend, ohne Falte, Volte, Vorhang, Form: ein Mensch derart konzipiert eine Welt des Seins als „Gott“ nach seinem Bilde.
Damit Wahrhaftigkeit möglich ist, muß die ganze Sphäre des Menschen sehr sauber, klein und achtbar sein: es muß[Pg 184] der Vorteil in jedem Sinne auf Seiten des Wahrhaftigen sein. – Lüge, Tücke, Verstellung müssen Erstaunen erregen....
332.Wenn der Charakter des Daseins falsch sein sollte – das wäre nämlich möglich –, was wäre dann die Wahrheit, alle unsere Wahrheit?... Eine gewissenlose Umfälschung des Falschen? Eine höhere Potenz des Falschen?....
333.Von der Vielartigkeit der Erkenntnis. Seine Relation zu vielem anderen spüren (oder die Relation der Art) – wie sollte das „Erkenntnis“ des andern sein! Die Art zu kennen und zu erkennen ist selber schon unter den Existenzbedingungen: dabei ist der Schluß, daß es keine anderen Intellektarten geben könne (für uns selber) als die, welche uns erhält, eine Übereilung: diese tatsächliche Existenzbedingung ist vielleicht nur zufällig und vielleicht keineswegs notwendig.
Unser Erkenntnisapparat nicht auf „Erkenntnis“ eingerichtet.
334.Überschriften über einem modernen Narrenhaus.
„Denknotwendigkeiten sind Moralnotwendigkeiten.“
Herbert Spencer.
„Der letzte Prüfstein für die Wahrheit eines Satzes ist die Unbegreiflichkeit ihrer Verneinung.“
Herbert Spencer.
335.Es könnte scheinen, als ob ich der Frage nach der „Gewißheit“ ausgewichen sei. Das Gegenteil ist wahr: aber indem ich nach dem Kriterium der Gewißheit fragte, prüfte ich, nach welchem Schwergewichte überhaupt bisher gewogen worden ist – und daß die Frage nach der Gewißheit selbst schon eine abhängige Frage sei, eine Frage zweiten Ranges.
[Pg 185]
b. Logik und Wissenschaft.
336.Das Begierdenerdreich, aus dem die Logik herausgewachsen ist: Herdeninstinkt im Hintergrunde. Die Annahme der gleichen Fälle setzt die „gleiche Seele“ voraus. Zum Zweck der Verständigung und Herrschaft.
337.Zur Entstehung der Logik. Der fundamentale Hang, gleichzusetzen, gleichzusehen wird modifiziert, im Zaum gehalten durch Nutzen und Schaden, durch den Erfolg: es bildet sich eine Anpassung aus, ein milderer Grad, in dem er sich befriedigen kann, ohne zugleich das Leben zu verneinen und in Gefahr zu bringen. Dieser ganze Prozeß ist ganz entsprechend jenem äußeren, mechanischen (der sein Symbol ist), daß das Plasma fortwährend, was es sich aneignet, sich gleich macht und in seine Formen und Reihen einordnet.
338.Die Annahme des Seienden ist nötig, um denken und schließen zu können: die Logik handhabt nur Formeln für Gleichbleibendes. Deshalb wäre diese Annahme noch ohne Beweiskraft für die Realität: „das Seiende“ gehört zu unsrer Optik. Das „Ich“ als seiend (– durch Werden und Entwicklung nicht berührt).
Die fingierte Welt von Subjekt, Substanz, „Vernunft“ usw. ist nötig – : eine ordnende, vereinfachende, fälschende, künstlich-trennende Macht ist in uns. „Wahrheit“ ist Wille, Herr zu werden über das Vielerlei der Sensationen: – die Phänomene aufreihen auf bestimmte Kategorien. Hierbei gehen wir vom Glauben an das „An-sich“ der Dinge aus (wir nehmen die Phänomene als wirklich).
Der Charakter der werdenden Welt als unformulierbar, als „falsch“, als „sich-widersprechend“. Erkenntnis und Werden schließen sich aus. Folglich muß „Erkenntnis“ etwas anderes sein: es muß ein Wille zum Erkennbar[Pg 186]machen vorangehen, eine Art Werden selbst muß die Täuschung des Seienden schaffen.
339.Ein- und dasselbe zu bejahen und zu verneinen mißlingt uns: das ist ein subjektiver Erfahrungssatz, darin drückt sich keine „Notwendigkeit“ aus, sondern nur ein Nichtvermögen.
Wenn, nach Aristoteles, der Satz vom Widerspruch der gewisseste aller Grundsätze ist, wenn er der letzte und unterste ist, auf den alle Beweisführungen zurückgehen, wenn in ihm das Prinzip aller anderen Axiome liegt: um so strenger sollte man erwägen, was er im Grunde schon an Behauptungen voraussetzt. Entweder wird mit ihm etwas in betreff des Wirklichen, Seienden behauptet, wie als ob man es anderswoher bereits kennte; nämlich, daß ihm nicht entgegengesetzte Prädikate zugesprochen werden können. Oder der Satz will sagen: daß ihm entgegengesetzte Prädikate nicht zugesprochen werden sollen. Dann wäre Logik ein Imperativ, nicht zur Erkenntnis des Wahren, sondern zur Setzung und Zurechtmachung einer Welt, die uns wahr heißen soll.
Kurz, die Frage steht offen: sind die logischen Axiome dem Wirklichen adäquat, oder sind sie Maßstäbe und Mittel, um Wirkliches, den Begriff „Wirklichkeit“, für uns erst zu schaffen?.... Um das Erste bejahen zu können, müßte man aber, wie gesagt, das Seiende bereits kennen; was schlechterdings nicht der Fall ist. Der Satz enthält also kein Kriterium der Wahrheit, sondern einen Imperativ über das, was als wahr gelten soll.
Gesetzt, es gäbe ein solches sich-selbst-identisches A gar nicht, wie es jeder Satz der Logik (auch der Mathematik) voraussetzt, das A wäre bereits eine Scheinbarkeit, so hätte die Logik eine bloß scheinbare Welt zur Voraussetzung. In der Tat glauben wir an jenen Satz unter dem Eindruck der unendlichen Empirie, welche ihn fortwährend zu bestätigen scheint. Das „Ding“ – das ist das eigentliche Substrat zu A; unser Glaube an Dinge ist die Vor[Pg 187]aussetzung für den Glauben an die Logik. Das A der Logik ist wie das Atom eine Nachkonstruktion des „Dinges“.... Indem wir das nicht begreifen und aus der Logik ein Kriterium des wahren Seins machen, sind wir bereits auf dem Wege, alle jene Hypostasen: Substanz, Prädikat, Objekt, Subjekt, Aktion usw. als Realitäten zu setzen: das heißt eine metaphysische Welt zu konzipieren, das heißt eine „wahre Welt“ (– diese ist aber die scheinbare Welt noch einmal....).
Die ursprünglichsten Denkakte, das Bejahen und Verneinen, das Für-wahr-halten und das Nicht-für-wahr-halten, sind, insofern sie nicht nur eine Gewohnheit, sondern ein Recht voraussetzen, überhaupt für wahr zu halten oder für unwahr zu halten, bereits von einem Glauben beherrscht, daß es für uns Erkenntnis gibt, daß Urteilen wirklich die Wahrheit treffen könne: – kurz, die Logik zweifelt nicht, etwas vom An-sich-Wahren aussagen zu können (nämlich, daß ihm nicht entgegengesetzte Prädikate zukommen können).
Hier regiert das sensualistische grobe Vorurteil, daß die Empfindungen uns Wahrheiten über die Dinge lehren, – daß ich nicht zu gleicher Zeit von ein und demselben Ding sagen kann, es ist hart und es ist weich. (Der instinktive Beweis, „ich kann nicht zwei entgegengesetzte Empfindungen zugleich haben“ – ganz grob und falsch.)
Das begriffliche Widerspruchsverbot geht von dem Glauben aus, daß wir Begriffe bilden können, daß ein Begriff das Wesen eines Dinges nicht nur bezeichnet, sondern faßt.. Tatsächlich gilt die Logik (wie die Geometrie und Arithmetik) nur von fingierten Wesenheiten, die wir geschaffen haben. Logik ist der Versuch, nach einem von uns gesetzten Seinsschema die wirkliche Welt zu begreifen, richtiger: uns formulierbar, berechenbar zu machen....
340.Gleichheit und Ähnlichkeit.
1. Das gröbere Organ sieht viel scheinbare Gleichheit;
[Pg 188]
2. der Geist will Gleichheit, das heißt einen Sinneneindruck subsummieren unter eine vorhandene Reihe: ebenso wie der Körper Unorganisches sich assimiliert.
Zum Verständnis der Logik:
der Wille zur Gleichheit ist der Wille zur Macht – der Glaube, daß etwas so und so sei (das Wesen des Urteils), ist die Folge eines Willens, es soll so viel als möglich gleich sein.
341.Die Logik ist geknüpft an die Bedingung: gesetzt, es gibt identische Fälle. Tatsächlich, damit logisch gedacht und geschlossen werde, muß diese Bedingung erst als erfüllt fingiert werden. Das heißt: der Wille zur logischen Wahrheit kann erst sich vollziehen, nachdem eine grundsätzliche Fälschung alles Geschehens angenommen ist. Woraus sich ergibt, daß hier ein Trieb waltet, der beider Mittel fähig ist, zuerst der Fälschung und dann der Durchführung seines Gesichtspunktes: die Logik stammt nicht aus dem Willen zur Wahrheit.
342.Die logische Bestimmtheit, Durchsichtigkeit als Kriterium der Wahrheit („omne illud verum est, quod clare et distincte percipitur“ Descartes): damit ist die mechanische Welthypothese erwünscht und glaublich.
Aber das ist eine grobe Verwechslung: wie simplex sigillum veri. Woher weiß man das, daß die wahre Beschaffenheit der Dinge in diesem Verhältnis zu unserm Intellekt steht? – Wäre es nicht anders? daß die ihm am meisten das Gefühl von Macht und Sicherheit gebende Hypothese am meisten von ihm bevorzugt, geschätzt und folglich als wahr bezeichnet wird? – Der Intellekt setzt sein freiestes und stärkstes Vermögen und Können als Kriterium der Wertvollsten, folglich Wahren....
„Wahr“: von seiten des Gefühls aus – : was das Gefühl am stärksten erregt („Ich“);
[Pg 189]
von seiten des Denkens aus – : was dem Denken das größte Gefühl von Kraft gibt;
von seiten des Tastens, Sehens, Hörens aus – : wobei am stärksten Widerstand zu leisten ist.
Also die höchsten Grade in der Leistung erwecken für das Objekt den Glauben an dessen „Wahrheit“, das heißt Wirklichkeit. Das Gefühl der Kraft, des Kampfes, des Widerstandes überredet dazu, daß es etwas gibt, dem hier widerstanden wird.
343.Das Urteil – das ist der Glaube: „dies und dies ist so.“ Also steckt im Urteil das Geständnis, einem „identischen Fall“ begegnet zu sein: es setzt also Vergleichung voraus, mit Hilfe des Gedächtnisses. Das Urteil schafft es nicht, daß ein identischer Fall da zu sein scheint. Vielmehr es glaubt einen solchen wahrzunehmen; es arbeitet unter der Voraussetzung, daß es überhaupt identische Fälle gibt. Wie heißt nun jene Funktion, die viel älter, früher arbeitend sein muß, welche an sich ungleiche Fälle ausgleicht und verähnlicht? Wie heißt jene zweite, welche auf Grund dieser ersten usw. „Was gleiche Empfindungen erregt, ist gleich“: wie aber heißt das, was Empfindungen gleich macht, als gleich „nimmt“? – Es könnte gar keine Urteile geben, wenn nicht erst innerhalb der Empfindungen eine Art Ausgleichung geübt wäre: Gedächtnis ist nur möglich mit einem beständigen Unterstreichen des schon Gewohnten, Erlebten. – Bevor geurteilt wird, muß der Prozeß der Assimilation schon getan sein: also liegt auch hier eine intellektuelle Tätigkeit vor, die nicht ins Bewußtsein fällt, wie beim Schmerz infolge einer Verwundung. Wahrscheinlich entspricht allen organischen Funktionen ein inneres Geschehen, also ein Assimilieren, Ausscheiden, Wachsen usw.
Wesentlich: vom Leib ausgehen und ihn als Leitfaden zu benutzen. Er ist das viel reichere Phänomen, welches deutlichere Beobachtung zuläßt. Der Glaube an den Leib ist besser festgestellt, als der Glaube an den Geist.
„Eine Sache mag noch so stark geglaubt werden: darin[Pg 190] liegt kein Kriterium der Wahrheit.“ Aber was ist Wahrheit? Vielleicht eine Art Glaube, welche zur Lebensbedingung geworden ist? Dann freilich wäre die Stärke ein Kriterium, zum Beispiel in betreff der Kausalität.
344.Grundlösung. – Wir glauben an die Vernunft: diese aber ist die Philosophie der grauen Begriffe. Die Sprache ist auf die allernaivsten Vorurteile hin gebaut.
Nun lesen wir Disharmonien und Probleme in die Dinge hinein, weil wir nur in der sprachlichen Form denken, – somit die „ewige Wahrheit“ der „Vernunft“ glauben (zum Beispiel Subjekt, Prädikat usw.).
Wir hören auf zu denken, wenn wir es nicht in dem sprachlichen Zwange tun wollen, wir langen gerade noch bei dem Zweifel an, hier eine Grenze als Grenze zu sehen.
Das vernünftige Denken ist ein Interpretieren nach einem Schema, welches wir nicht abwerfen können.
345.Der ganze Erkenntnisapparat ist ein Abstraktions- und Simplifikationsapparat – nicht auf Erkenntnis gerichtet, sondern auf Bemächtigung der Dinge: „Zweck“ und „Mittel“ sind so fern vom Wesen wie die „Begriffe“. Mit „Zweck“ und „Mittel“ bemächtigt man sich des Prozesses (– man erfindet einen Prozeß, der faßbar ist), mit „Begriffen“ aber der „Dinge“, welche den Prozeß machen.
346.Die erfinderische Kraft, welche Kategorien erdichtet hat, arbeitete im Dienst des Bedürfnisses, nämlich von Sicherheit, von schneller Verständlichkeit auf Grund von Zeichen und Klängen, von Abkürzungsmitteln: – es handelt sich nicht um metaphysische Wahrheiten bei „Substanz“, „Subjekt“, „Objekt“, „Sein“, „Werden“. – Die Mächtigen sind es, welche die Namen der Dinge zum Gesetz gemacht haben, und unter den Mächtigen sind es die größten Abstraktionskünstler, die die Kategorien geschaffen haben.
[Pg 191]
347.Nicht „erkennen“, sondern schematisieren, – dem Chaos so viel Regularität und Formen auflegen, als es unserm praktischen Bedürfnis genugtut.
In der Bildung der Vernunft, der Logik, der Kategorien ist das Bedürfnis maßgebend gewesen: das Bedürfnis, nicht zu „erkennen“, sondern zu subsummieren, zu schematisieren, zum Zweck der Verständigung, der Berechnung.... (Das Zurechtmachen, das Ausdichten zum Ähnlichen, Gleichen, – derselbe Prozeß, den jeder Sinneseindruck durchmacht, ist die Entwicklung der Vernunft!) Hier hat nicht eine präexistente „Idee“ gearbeitet: sondern die Nützlichkeit, daß nur, wenn wir grob und gleichgemacht die Dinge sehen, sie für uns berechenbar und handlich werden.... Die Finalität in der Vernunft ist eine Wirkung, keine Ursache: bei jeder anderen Art Vernunft, zu der es fortwährend Ansätze gibt, mißrät das Leben, – es wird unübersichtlich –, zu ungleich –
Die Kategorien sind „Wahrheiten“ nur in dem Sinne, als sie lebenbedingend für uns sind: wie der Euklidische Raum eine solche bedingte „Wahrheit“ ist. (An sich geredet: da niemand die Notwendigkeit, daß es gerade Menschen gibt, aufrecht erhalten wird, ist die Vernunft, so wie der Euklidische Raum, eine bloße Idiosynkrasie bestimmter Tierarten, und eine neben vielen anderen....)
Die subjektive Nötigung, hier nicht widersprechen zu können, ist eine biologische Nötigung: der Instinkt der Nützlichkeit, so zu schließen wie wir schließen, steckt uns im Leibe, wir sind beinahe dieser Instinkt.... Welche Naivität aber, daraus einen Beweis zu ziehen, daß wir damit eine „Wahrheit an sich“ besäßen!.... Das Nicht-widersprechen-können beweist ein Unvermögen, nicht eine „Wahrheit“.
348.„Erkennen“ ist ein Zurückbeziehen: seinem Wesen nach ein regressus in infinitum. Was Halt macht (bei einer angeblichen causa prima, bei einem Unbedingten usw.) ist die Faulheit, die Ermüdung – –
[Pg 192]
349.Wissenschaft – Umwandlung der Natur in Begriffe zum Zweck der Beherrschung der Natur – das gehört in die Rubrik „Mittel“.
Aber der Zweck und Wille des Menschen muß ebenso wachsen, die Absicht in Hinsicht auf das Ganze.
350.Die Wissenschaft – das war bisher die Beseitigung der vollkommenen Verworrenheit der Dinge durch Hypothesen, welche alles „erklären“, – also aus dem Widerwillen des Intellekts an dem Chaos. – Dieser selbe Widerwille ergreift mich bei der Betrachtung meiner selber: die innere Welt möchte ich auch durch ein Schema mir bildlich vorstellen und über die intellektuelle Verworrenheit hinauskommen. Die Moral war eine solche Vereinfachung: sie lehrte den Menschen als erkannt, als bekannt. – Nun haben wir die Moral vernichtet – wir selber sind uns wieder völlig dunkel geworden! Ich weiß, daß ich von mir nichts weiß. Die Physik ergibt sich als eine Wohltat für das Gemüt: die Wissenschaft (als der Weg zur Kenntnis) bekommt einen neuen Zauber nach der Beseitigung der Moral – und weil wir hier allein Konsequenz finden, so müssen wir unser Leben darauf einrichten, sie uns zu erhalten. Dies ergibt eine Art praktischen Nachdenkens über unsre Existenzbedingungen als Erkennenden.
351.Wir finden als das Stärkste und fortwährend Geübte auf allen Stufen des Lebens das Denken, – in jedem Perzipieren und scheinbaren Erleiden auch noch! Offenbar wird es dadurch am mächtigsten und anspruchsvollsten, und auf die Dauer tyrannisiert es alle anderen Kräfte. Es wird endlich die „Leidenschaft an sich“.
352.Es ist nicht genug, daß du einsiehst, in welcher Unwissenheit Mensch und Tier lebt: du mußt auch noch den Willen zur Unwissenheit haben und hinzulernen. Es ist dir nötig,[Pg 193] zu begreifen, daß ohne diese Art Unwissenheit das Leben selber unmöglich wäre, daß sie eine Bedingung ist, unter welcher das Lebendige allein sich erhält und gedeiht: eine große, feste Glocke von Unwissenheit muß um dich stehen.
353.Wir wissen, daß die Zerstörung einer Illusion noch keine Wahrheit ergibt, sondern nur ein Stück Unwissenheit mehr, eine Erweiterung unseres „leeren Raumes“, einen Zuwachs unserer „Öde“ –
354.Die Entwicklung der Wissenschaft löst das „Bekannte“ immer mehr in ein Unbekanntes auf: – sie will aber gerade das Umgekehrte und geht von dem Instinkt aus, das Unbekannte auf das Bekannte zurückzuführen.
In summa bereitet die Wissenschaft eine souveräne Unwissenheit vor, ein Gefühl, daß „Erkennen“ gar nicht vorkommt, daß es eine Art Hochmut war, davon zu träumen, mehr noch, daß wir nicht den geringsten Begriff übrig behalten, um auch nur „Erkennen“ als eine Möglichkeit gelten zu lassen, – daß „Erkennen“ selbst eine widerspruchsvolle Vorstellung ist. Wir übersetzen eine uralte Mythologie und Eitelkeit des Menschen in die harte Tatsache: so wenig „Ding an sich“, so wenig ist „Erkenntnis an sich“ noch erlaubt als Begriff. Die Verführung durch „Zahl und Logik“, die Verführung durch die „Gesetze“.
„Weisheit“ als Versuch, über die perspektivischen Schätzungen (das heißt über den „Willen zur Macht“) hinweg zu kommen: ein lebensfeindliches und auflösendes Prinzip, Symptom wie bei den Indern usw., Schwächung der Aneignungskraft.
355.Das Recht auf den großen Affekt – für den Erkennenden wieder zurückzugewinnen! nachdem die Entselbstung und der Kultus des „Objektiven“ eine falsche Rangordnung auch in dieser Sphäre geschaffen haben. Der Irrtum kam auf die Spitze, als Schopenhauer lehrte: eben im Loskom[Pg 194]men vom Affekt, vom Willen liege der einzige Zugang zum „Wahren“, zur Erkenntnis; der willensfreie Intellekt könne gar nicht anders, als das wahre, eigentliche Wesen der Dinge sehen.
Derselbe Irrtum in arte: als ob alles schön wäre, sobald es ohne Willen angeschaut wird.
356.Keine „moralische Erziehung“ des Menschengeschlechts: sondern die Zwangsschule der wissenschaftlichen Irrtümer ist nötig, weil die „Wahrheit“ degoutiert und das Leben verleidet, – vorausgesetzt, daß der Mensch nicht schon unentrinnbar in seine Bahn gestoßen ist und seine redliche Einsicht mit einem tragischen Stolze auf sich nimmt.
357.Die wertvollsten Einsichten werden am spätesten gefunden: aber die wertvollsten Einsichten sind die Methoden.
Alle Methoden, alle Voraussetzungen unsrer jetzigen Wissenschaft haben jahrtausendelang die tiefste Verachtung gegen sich gehabt: auf sie hin ist man aus dem Verkehr mit honetten Menschen ausgeschlossen worden, – man galt als „Feind Gottes“, als Verächter des höchsten Ideals, als „Besessener“.
Wir haben das ganze Pathos der Menschheit gegen uns gehabt, – unser Begriff von dem, was die „Wahrheit“ sein soll, was der Dienst der Wahrheit sein soll, unsre Objektivität, unsre Methode, unsre stille, vorsichtige, mißtrauische Art war vollkommen verächtlich.... Im Grunde war es ein ästhetischer Geschmack, was die Menschheit am längsten gehindert hat: sie glaubte an den pittoresken Effekt der Wahrheit, sie verlangte vom Erkennenden, daß er stark auf die Phantasie wirke.
Das sieht aus, als ob ein Gegensatz erreicht, ein Sprung gemacht worden sei: in Wahrheit hat jene Schulung durch die Moralhyperbeln Schritt für Schritt jenes Pathos milderer Art vorbereitet, das als wissenschaftlicher Charakter leibhaft wurde....
[Pg 195]
Die Gewissenhaftigkeit im Kleinen, die Selbstkontrolle des religiösen Menschen war eine Vorschule zum wissenschaftlichen Charakter: vor allem die Gesinnung, welche Probleme ernst nimmt, noch abgesehen davon, was persönlich dabei für einen herauskommt....
358.Nicht der Sieg der Wissenschaft ist das, was unser 19. Jahrhundert auszeichnet, sondern der Sieg der wissenschaftlichen Methode über die Wissenschaft.
c. Ursache und Wirkung.
359.Kritik des Begriffs „Ursache“. – Wir haben absolut keine Erfahrung über eine Ursache; psychologisch nachgerechnet, kommt uns der ganze Begriff aus der subjektiven Überzeugung, daß wir Ursache sind, nämlich, daß der Arm sich bewegt.... Aber das ist ein Irrtum. Wir unterscheiden uns, die Täter, vom Tun, und von diesem Schema machen wir überall Gebrauch, – wir suchen nach einem Täter zu jedem Geschehen. Was haben wir gemacht? Wir haben ein Gefühl von Kraft, Anspannung, Widerstand, ein Muskelgefühl, das schon der Beginn der Handlung ist, als Ursache mißverstanden, oder den Willen, das und das zu tun, weil auf ihn die Aktion folgt, als Ursache verstanden.
„Ursache“ kommt gar nicht vor: von einigen Fällen, wo sie uns gegeben schien, und wo wir aus uns sie projiziert haben zum Verständnis des Geschehens, ist die Selbsttäuschung nachgewiesen. Unser „Verständnis eines Geschehens“ bestand darin, daß wir ein Subjekt erfanden, welches verantwortlich wurde dafür, daß etwas geschah, und wie es geschah. Wir haben unser Willensgefühl, unser „Freiheits“-gefühl, unser Verantwortlichkeitsgefühl und unsre Absicht zu einem Tun in den Begriff „Ursache“ zusammengefaßt: causa efficiens und causa finalis ist in der Grundkonzeption eins.
Wir meinten, eine Wirkung sei erklärt, wenn ein Zustand[Pg 196] aufgezeigt würde, dem sie bereits inhäriert. Tatsächlich erfinden wir alle Ursachen nach dem Schema der Wirkung: letztere ist uns bekannt.... Umgekehrt sind wir außerstande, von irgendeinem Dinge vorauszusagen, was es „wirkt“. Das Ding, das Subjekt, der Wille, die Absicht – alles inhäriert der Konzeption „Ursache“. Wir suchen nach Dingen, um zu erklären, weshalb sich etwas verändert hat. Selbst noch das Atom ist ein solches hinzugedachtes „Ding“ und „Ursubjekt“....
Endlich begreifen wir, daß Dinge – folglich auch Atome – nichts wirken: weil sie gar nicht da sind, – daß der Begriff Kausalität vollkommen unbrauchbar ist. – Aus einer notwendigen Reihenfolge von Zuständen folgt nicht deren Kausalverhältnis (– das hieße deren wirkende Vermögen von eins auf zwei, auf drei, auf vier, auf fünf springen machen). Es gibt weder Ursachen noch Wirkungen. Sprachlich wissen wir davon nicht loszukommen. Aber daran liegt nichts. Wenn ich den Muskel von seinen „Wirkungen“ getrennt denke, so habe ich ihn negiert....
In summa: ein Geschehen ist weder bewirkt, noch bewirkend. Causa ist ein Vermögen zu wirken, hinzu erfunden zum Geschehen....
Die Kausalitätsinterpretation eine Täuschung.... Ein „Ding“ ist die Summe seiner Wirkungen, synthetisch gebunden durch einen Begriff, Bild. Tatsächlich hat die Wissenschaft den Begriff Kausalität seines Inhalts entleert und ihn übrig behalten zu einer Gleichnisformel, bei der es im Grunde gleichgültig geworden ist, auf welcher Seite Ursache oder Wirkung. Es wird behauptet, daß in zwei Komplexzuständen (Kraftkonstellationen) die Quanten Kraft gleich blieben.
Die Berechenbarkeit eines Geschehens liegt nicht darin, daß eine Regel befolgt wurde, oder einer Notwendigkeit gehorcht wurde, oder ein Gesetz von Kausalität von uns in jedes Geschehen projiziert wurde – : sie liegt in der Wiederkehr „identischer Fälle“.
Es gibt nicht, wie Kant meint, einen Kausalitätssinn.[Pg 197] Man wundert sich, man ist beunruhigt, man will etwas Bekanntes, woran man sich halten kann.... Sobald im Neuen uns etwas Altes aufgezeigt wird, sind wir beruhigt. Der angebliche Kausalitätsinstinkt ist nur die Furcht vor dem Ungewohnten und der Versuch, in ihm etwas Bekanntes zu entdecken, – ein Suchen nicht nach Ursachen, sondern nach Bekanntem.
360.In jedem Urteile steckt der ganze, volle, tiefe Glaube an Subjekt und Prädikat oder an Ursache und Wirkung (nämlich als die Behauptung, daß jede Wirkung Tätigkeit sei und daß jede Tätigkeit einen Täter voraussetze); und dieser letztere Glaube ist sogar nur ein Einzelfall des ersteren, so daß als Grundglaube der Glaube übrig bleibt: es gibt Subjekte; alles, was geschieht, verhält sich prädikativ zu irgend welchem Subjekte.
Ich bemerke etwas und suche nach einem Grund dafür: das heißt ursprünglich: ich suche nach einer Absicht darin, und vor allem nach einem, der Absicht hat, nach einem Subjekt, einem Täter: alles Geschehen ein Tun, – ehemals sah man in allem Geschehen Absichten, dies ist unsere älteste Gewohnheit. Hat das Tier sie auch? Ist es, als Lebendiges, nicht auch auf die Interpretation nach sich angewiesen? Die Frage „warum?“ ist immer die Frage nach der causa finalis, nach einem „Wozu?“ Von einem „Sinn der causa efficiens“ haben wir nichts: hier hat Hume recht, die Gewohnheit (aber nicht nur die des Individuums!) läßt uns erwarten, daß ein gewisser, oft beobachteter Vorgang auf den andern folgt: weiter nichts! Was uns die außerordentliche Festigkeit des Glaubens an Kausalität gibt, ist nicht die große Gewohnheit des Hintereinanders von Vorgängen, sondern unsre Unfähigkeit, ein Geschehen anders interpretieren zu können denn als ein Geschehen aus Absichten. Es ist der Glaube an das Lebendige und Denkende als an das einzig Wirkende – an den Willen, die Absicht –, es ist der Glaube, daß alles Geschehen ein Tun sei, daß alles Tun einen Täter voraussetze,[Pg 198] es ist der Glaube an das „Subjekt“. Sollte dieser Glaube an den Subjekt- und Prädikatbegriff nicht eine große Dummheit sein?
Frage: ist die Absicht Ursache eines Geschehens? Oder ist auch das Illusion? Ist sie nicht das Geschehen selbst?
361.Zur Bekämpfung des Determinismus und der Teleologie. – Daraus, daß etwas regelmäßig erfolgt und berechenbar erfolgt, ergibt sich nicht, daß es notwendig erfolgt. Daß ein Quantum Kraft sich in jedem bestimmten Falle auf eine einzige Art und Weise bestimmt und benimmt, macht es nicht zum „unfreien Willen“. Die „mechanische Notwendigkeit“ ist kein Tatbestand: wir erst haben sie in das Geschehen hineininterpretiert. Wir haben die Formulierbarkeit des Geschehens ausgedeutet als Folge einer über dem Geschehen waltenden Nezessität. Aber daraus, daß ich etwas Bestimmtes tue, folgt keineswegs, daß ich es gezwungen tue. Der Zwang ist in den Dingen gar nicht nachweisbar: die Regel beweist nur, daß ein und dasselbe Geschehen nicht auch ein anderes Geschehen ist. Erst dadurch, daß wir Subjekte, „Täter“ in die Dinge hineingedeutet haben, entsteht der Anschein, daß alles Geschehen die Folge von einem auf Subjekte ausgeübten Zwange ist, – ausgeübt von wem? wiederum von einem „Täter“. Ursache und Wirkung – ein gefährlicher Begriff, solange man ein Etwas denkt, das verursacht, und ein Etwas, auf das gewirkt wird.
a) Die Notwendigkeit ist kein Tatbestand, sondern eine Interpretation.
b) Hat man begriffen, daß das „Subjekt“ nichts ist, was wirkt, sondern nur eine Fiktion, so folgt vielerlei.
Wir haben nur nach dem Vorbilde des Subjekts die Dinglichkeit erfunden und in den Sensationenwirrwarr hineininterpretiert. Glauben wir nicht mehr an das wirkende Subjekt, so fällt auch der Glaube an wirkende[Pg 199] Dinge, an Wechselwirkung, Ursache und Wirkung zwischen jenen Phänomenen, die wir Dinge nennen.
Es fällt damit natürlich auch die Welt der wirkenden Atome: deren Annahme immer unter der Voraussetzung gemacht ist, daß man Subjekte braucht.
Es fällt endlich auch das „Ding an sich“: weil das im Grunde die Konzeption eines „Subjekts an sich“ ist. Aber wir begriffen, daß das Subjekt fingiert ist. Der Gegensatz „Ding an sich“ und „Erscheinung“ ist unhaltbar; damit aber fällt auch der Begriff „Erscheinung“ dahin.
c) Geben wir das wirkende Subjekt auf, so auch das Objekt, auf das gewirkt wird. Die Dauer, die Gleichheit mit sich selbst, das Sein inhäriert weder dem, was Subjekt, noch dem, was Objekt genannt wird: es sind Komplexe des Geschehens, in Hinsicht auf andere Komplexe scheinbar dauerhaft, – also zum Beispiel durch eine Verschiedenheit im Tempo des Geschehens (Ruhe – Bewegung, fest – locker: alles Gegensätze, die nicht an sich existieren und mit denen tatsächlich nur Gradverschiedenheiten ausgedrückt werden, die für ein gewisses Maß von Optik sich als Gegensätze ausnehmen. Es gibt keine Gegensätze: nur von denen der Logik her haben wir den Begriff des Gegensatzes – und von da aus fälschlich in die Dinge übertragen).
d) Geben wir den Begriff „Subjekt“ und „Objekt“ auf, dann auch den Begriff „Substanz“ – und folglich auch dessen verschiedene Modifikationen, zum Beispiel, „Materie“, „Geist“ und andere hypothetische Wesen, „Ewigkeit und Unveränderlichkeit des Stoffs“ usw. Wir sind die Stofflichkeit los.
Moralisch ausgedrückt, ist die Welt falsch. Aber insofern die Moral selbst ein Stück dieser Welt ist, so ist die Moral falsch.
Der Wille zur Wahrheit ist ein Festmachen, ein Wahr-, Dauerhaftmachen, ein Aus-dem-Auge-schaffen jenes falschen Charakters, eine Umdeutung desselben ins Seiende. „Wahrheit“ ist somit nicht etwas, das da wäre und das auf[Pg 200]zufinden, zu entdecken wäre, – sondern etwas, das zu schaffen ist und das den Namen für einen Prozeß abgibt, mehr noch für einen Willen der Überwältigung, der an sich kein Ende hat: Wahrheit hineinlegen, als ein processus in infinitum, ein aktives Bestimmen, – nicht ein Bewußtwerden von etwas, das an sich fest und bestimmt wäre. Es ist ein Wort für den „Willen zur Macht“.
Das Leben ist auf die Voraussetzung eines Glaubens an Dauerndes und Regulär-Wiederkehrendes gegründet; je mächtiger das Leben, um so breiter muß die erratbare, gleichsam seiend gemachte Welt sein. Logisierung, Rationalisierung, Systematisierung als Hilfsmittel des Lebens.
Der Mensch projiziert seinen Trieb zur Wahrheit, sein „Ziel“ in einem gewissen Sinne außer sich als seiende Welt, als metaphysische Welt, als „Ding an sich“, als bereits vorhandene Welt. Sein Bedürfnis als Schaffender erdichtet bereits die Welt, an der er arbeitet, nimmt sie vorweg; diese Vorwegnahme (dieser „Glaube“ an die Wahrheit) ist seine Stütze.
Alles Geschehen, alle Bewegung, alles Werden als ein Feststellen von Grad- und Kraftverhältnissen, als ein Kampf....
Sobald wir uns jemanden imaginieren, der verantwortlich ist dafür, daß wir so und so sind usw. (Gott, Natur), ihm also unsre Existenz, unser Glück und Elend als Absicht zulegen, verderben wir uns die Unschuld des Werdens. Wir haben dann jemanden, der durch uns und mit uns etwas erreichen will.
Das „Wohl des Individuums“ ist ebenso imaginär als das „Wohl der Gattung“: das erstere wird nicht dem letzteren geopfert, Gattung ist, aus der Ferne betrachtet, etwas ebenso Flüssiges wie Individuum. „Erhaltung der Gattung“ ist nur eine Folge des Wachstums der Gattung, das heißt der Überwindung der Gattung auf dem Wege zu einer stärkeren Art.
[Pg 201]
Thesen. – Daß die anscheinende „Zweckmäßigkeit“ („die aller menschlichen Kunst unendlich überlegene Zweckmäßigkeit“) bloß die Folge jenes in allem Geschehen sich abspielenden Willens zur Macht ist – : daß das Stärkerwerden Ordnungen mit sich bringt, die einem Zweckmäßigkeitsentwurf ähnlich sehen – : daß die anscheinenden Zwecke nicht beabsichtigt sind, aber, sobald die Übermacht über eine geringere Macht erreicht ist und letztere als Funktion der größeren arbeitet, eine Ordnung des Ranges, der Organisation den Anschein einer Ordnung von Mittel und Zweck erwecken muß.
Gegen die anscheinende „Notwendigkeit“:
– diese nur ein Ausdruck dafür, daß eine Kraft nicht auch etwas anderes ist.
Gegen die anscheinende „Zweckmäßigkeit“:
– letztere nur ein Ausdruck für eine Ordnung von Machtsphären und deren Zusammenspiel.
362.„Es mußte in der Ausbildung des Denkens der Punkt eintreten, wo es zum Bewußtsein kam, daß das, was man als Eigenschaften der Dinge bezeichnete, Empfindungen des empfindenden Subjekts seien: damit hörten die Eigenschaften auf, dem Dinge anzugehören.“ Es blieb „das Ding an sich“ übrig. Die Unterscheidung zwischen Ding an sich und des Dinges für uns basiert auf der älteren, naiven Wahrnehmung, die dem Dinge Energie beilegte: aber die Analyse ergab, daß auch die Kraft hineingedichtet worden ist, und ebenso – die Substanz. „Das Ding affiziert ein Subjekt“? Wurzel der Substanzvorstellung in der Sprache, nicht im Außer-uns-Seienden! Das Ding an sich ist gar kein Problem!
Das Seiende wird als Empfindung zu denken sein, welcher nichts Empfindungsloses mehr zugrunde liegt.
In der Bewegung ist kein neuer Inhalt der Empfindung gegeben. Das Seiende kann nicht inhaltliche Bewegung sein: also Form des Seins.
[Pg 202]
Nebenbei: Die Erklärung des Geschehens kann versucht werden einmal: durch Vorstellung von Bildern des Geschehens, die ihm voranlaufen (Zwecke);
zweitens: durch Vorstellung von Bildern, die ihm nachlaufen (die mathematisch-physikalische Erklärung).
Beide soll man nicht durcheinanderwerfen. Also: die physische Erklärung, welche die Verbildlichung der Welt ist aus Empfindung und Denken, kann nicht selber wieder das Empfinden und Denken ableiten und entstehen machen: vielmehr muß die Physik auch die empfindende Welt konsequent als ohne Empfindung und Zweck konstruieren – bis hinauf zum höchsten Menschen. Und die teleologische ist nur eine Geschichte der Zwecke und nie physikalisch!
363.Die Auslegung eines Geschehens als entweder Tun oder Leiden (– also jedes Tun ein Leiden) sagt: jede Veränderung, jedes Anderswerden setzt einen Urheber voraus und einen, an dem „verändert“ wird.
364.Unsre Unart, ein Erinnerungszeichen, eine abkürzende Formel als Wesen zu nehmen, schließlich als Ursache, zum Beispiel vom Blitz zu sagen: „er leuchtet“. Oder gar das Wörtchen „ich“. Eine Art von Perspektive im Sehen wieder als Ursache des Sehens selbst zu setzen: das war das Kunststück in der Erfindung des „Subjekts“, des „Ichs“!
365.Ich glaube an den absoluten Raum, als Substrat der Kraft: diese begrenzt und gestaltet. Die Zeit ewig. Aber an sich gibt es nicht Raum, noch Zeit. „Veränderungen“ sind nur Erscheinungen (oder Sinnesvorgänge für uns); wenn wir zwischen diesen noch so regelmäßige Wiederkehr ansetzen, so ist damit nichts begründet als eben diese Tatsache, daß es immer so geschehen ist. Das Gefühl, daß das post hoc ein propter hoc ist, ist leicht als Mißverständnis abzuleiten; es ist begreiflich. Aber Erscheinungen können nicht „Ursachen“ sein!
[Pg 203]
366.„Wille zur Macht“ und Kausalismus. – Psychologisch nachgerechnet, ist der Begriff „Ursache“ unser Machtgefühl vom sogenannten Wollen, – unser Begriff „Wirkung“ der Aberglaube, daß dies Machtgefühl die Macht selbst sei, welche bewegt....
Ein Zustand, der ein Geschehen begleitet und schon eine Wirkung des Geschehens ist, wird projiziert als „zureichender Grund“ desselben; – das Spannungsverhältnis unsres Machtgefühls (die Lust als Gefühl der Macht), des überwundenen Widerstandes – sind das Illusionen? –
Übersetzen wir den Begriff „Ursache“ wieder zurück in die uns einzig bekannte Sphäre, woraus wir ihn genommen haben: so ist uns keine Veränderung vorstellbar, bei der es nicht einen Willen zur Macht gibt. Wir wissen eine Veränderung nicht abzuleiten, wenn nicht ein Übergreifen von Macht über andere Macht statthat.
Die Mechanik zeigt uns nur Folgen, und dazu noch im Bilde (Bewegung ist eine Bilderrede). Die Gravitation selbst hat keine mechanische Ursache, da sie der Grund erst für mechanische Folgen ist.
Der Wille zur Akkumulation von Kraft ist spezifisch für das Phänomen des Lebens, für Ernährung, Zeugung, Vererbung, – für Gesellschaft, Staat, Sitte, Autorität. Sollten wir diesen Willen nicht als bewegende Ursache auch in der Chemie annehmen dürfen? – und in der kosmischen Ordnung?
Nicht bloß Konstanz der Energie: sondern Maximalökonomie des Verbrauchs: so daß das Stärkerwerdenwollen von jedem Kraftzentrum aus die einzige Realität ist, – nicht Selbstbewahrung, sondern Aneignen-, Herrwerden-, Mehrwerden-, Stärkerwerdenwollen.
Daß Wissenschaft möglich ist, das soll uns ein Kausalitätsprinzip beweisen? „Aus gleichen Ursachen gleiche Wirkungen“ – „Ein permanentes Gesetz der Dinge“ – „Eine invariable Ordnung“? – Weil etwas berechenbar ist, ist es deshalb schon notwendig?
[Pg 204]
Wenn etwas so und nicht anders geschieht, so ist darin kein „Prinzip“, kein „Gesetz“, keine „Ordnung“, sondern es wirken Kraftquanta, deren Wesen darin besteht, auf alle anderen Kraftquanta Macht auszuüben.
Können wir ein Streben nach Macht annehmen, ohne eine Lust- und Unlustempfindung, das heißt ohne ein Gefühl von der Steigerung und Verminderung der Macht? Der Mechanismus ist nur eine Zeichensprache für die interne Tatsachenwelt kämpfender und überwindender Willensquanta? Alle Voraussetzungen des Mechanismus, Stoff, Atom, Schwere, Druck und Stoß sind nicht „Tatsachen an sich“, sondern Interpretationen mit Hilfe psychischer Fiktionen.
Das Leben als die uns bekannteste Form des Seins ist spezifisch ein Wille zur Akkumulation der Kraft – : alle Prozesse des Lebens haben hier ihren Hebel: nichts will sich erhalten, alles soll summiert und akkumuliert werden.
Das Leben als ein Einzelfall (Hypothese von da aus auf den Gesamtcharakter des Daseins –) strebt nach einem Maximalgefühl von Macht; ist essentiell ein Streben nach Mehr von Macht; Streben ist nichts anderes als Streben nach Macht; das Unterste und Innerste bleibt dieser Wille. (Mechanik ist eine bloße Semiotik der Folgen.)
d. Ich und Außenwelt.
367.Der Substanzbegriff eine Folge des Subjektbegriffs: nicht umgekehrt! Geben wir die Seele, „das Subjekt“, preis, so fehlt die Voraussetzung für eine „Substanz“ überhaupt. Man bekommt Grade des Seienden, man verliert das Seiende.
Kritik der „Wirklichkeit“: worauf führt die „Mehr-oder-Weniger-Wirklichkeit“, die Gradation des Seins, an die wir glauben? –
Unser Grad von Lebens- und Machtgefühl (Logik und Zusammenhang des Erlebten) gibt uns das Maß von „Sein“, „Realität“, „Nicht-Schein“.
[Pg 205]
Subjekt: das ist die Terminologie unsres Glaubens an eine Einheit unter allen den verschiedenen Momenten höchsten Realitätsgefühls: wir verstehen diesen Glauben als Wirkung Einer Ursache, – wir glauben an unseren Glauben so weit, daß wir um seinetwillen die „Wahrheit“, „Wirklichkeit“, „Substanzialität“ überhaupt imaginieren. – „Subjekt“ ist die Fiktion, als ob viele gleiche Zustände an uns die Wirkung eines Substrats wären: aber wir haben erst die „Gleichheit“ dieser Zustände geschaffen; das Gleichsetzen und Zurechtmachen derselben ist der Tatbestand, nicht die Gleichheit (– diese ist vielmehr zu leugnen –).
368.Psychologische Geschichte des Begriffs „Subjekt“. Der Leib, das Ding, das vom Auge konstruierte „Ganze“ erweckt die Unterscheidung von einem Tun und einem Tuenden; der Tuende, die Ursache des Tuns, immer feiner gefaßt, hat zuletzt das „Subjekt“ übrig gelassen.
369.„Subjekt“, „Objekt“, „Prädikat“ – diese Trennungen sind gemacht und werden jetzt wie Schemata übergestülpt über alle anscheinenden Tatsachen. Die falsche Grundbeobachtung ist, daß ich glaube, ich bin's, der etwas tut, etwas leidet, der etwas „hat“, der eine Eigenschaft „hat“.
370.„Es wird gedacht: folglich gibt es Denkendes“: darauf läuft die Argumentation des Cartesius hinaus. Aber das heißt unsern Glauben an den Substanzbegriff schon als „wahr a priori“ ansetzen: – daß, wenn gedacht wird, es etwas geben muß, „das denkt“, ist einfach eine Formulierung unserer grammatischen Gewöhnung, welche zu einem Tun einen Täter setzt. Kurz, es wird hier bereits ein logisch-metaphysisches Postulat gemacht – und nicht nur konstatiert.... Auf dem Wege des Cartesius kommt man nicht zu etwas absolut Gewissem, sondern nur zu einem Faktum eines sehr starken Glaubens.
[Pg 206]
Reduziert man den Satz auf „es wird gedacht, folglich gibt es Gedanken“, so hat man eine bloße Tautologie: und gerade das, was in Frage steht, die „Realität des Gedankens“, ist nicht berührt, – nämlich in dieser Form ist die „Scheinbarkeit“ des Gedankens nicht abzuweisen. Was aber Cartesius wollte, ist, daß der Gedanke nicht nur eine scheinbare Realität hat, sondern eine an sich.
371.Daß zwischen Subjekt und Objekt eine Art adäquater Relation stattfinde; daß das Objekt etwas sei, das von innen gesehen Subjekt wäre, ist eine gutmütige Erfindung, die, wie ich denke, ihre Zeit gehabt hat. Das Maß dessen, was uns überhaupt bewußt wird, ist ja ganz und gar abhängig von der groben Nützlichkeit des Bewußtwerdens: wie erlaubte uns diese Winkelperspektive des Bewußtseins irgendwie über „Subjekt“ und „Objekt“ Aussagen, mit denen die Realität berührt würde! –
372.Parmenides hat gesagt, „man denkt das nicht, was nicht ist“; – wir sind am andern Ende und sagen, „was gedacht werden kann, muß sicherlich eine Fiktion sein.“
373.Ein Philosoph erholt sich anders mit anderem: er erholt sich zum Beispiel im Nihilismus. Der Glaube, daß es gar keine Wahrheit gibt, der Nihilistenglaube, ist ein großes Gliederstrecken für einen, der als Kriegsmann der Erkenntnis unablässig mit lauter häßlichen Wahrheiten im Kampfe liegt. Denn die Wahrheit ist häßlich.
3. Metaphysik.
Die „wahre“ Welt.
374.
Tiefe Abneigung, in irgendeiner Gesamtbetrachtung der Welt ein für allemal auszuruhen. Zauber der entgegenge[Pg 207]setzten Denkweise: sich den Anreiz des änigmatischen Charakters nicht nehmen lassen.
375.
Unsere Voraussetzungen: kein Gott: kein Zweck: endliche Kraft. Wir wollen uns hüten, den Niedrigen die ihnen nötige Denkweise auszudenken und vorzuschreiben!!
376.
Unendliche Ausdeutbarkeit der Welt: jede Ausdeutung ein Symptom des Wachstums oder des Untergehens.
Die Einheit (der Monismus) ein Bedürfnis der inertia; die Mehrheit der Deutung Zeichen der Kraft. Der Welt ihren beunruhigenden und änigmatischen Charakter nicht abstreiten wollen!
377.
Gegen das Versöhnenwollen und die Friedfertigkeit. Dazu gehört auch jeder Versuch von Monismus.
378.
Die „Sinnlosigkeit des Geschehens“: der Glaube daran ist die Folge einer Einsicht in die Falschheit der bisherigen Interpretationen, eine Verallgemeinerung der Mutlosigkeit und Schwäche, – kein notwendiger Glaube.
Unbescheidenheit des Menschen – : wo er den Sinn nicht sieht, ihn zu leugnen!
379.
Ist man Philosoph, wie man immer Philosoph war, so hat man kein Auge für das, was war, und das, was wird: – man sieht nur das Seiende. Da es aber nichts Seiendes gibt, so blieb dem Philosophen nur das Imaginäre aufgespart, als seine „Welt“.
380.
Die „wahre Welt“, wie immer auch man sie bisher konzipiert hat, – sie war immer die scheinbare Welt noch einmal.
[Pg 208]
381.
Die „wahre“ und die „scheinbare Welt“.
A.Die Verführungen, die von diesem Begriff ausgehen, sind dreierlei Art:
a) eine unbekannte Welt: – wir sind Abenteurer, neugierig, – das Bekannte scheint uns müde zu machen (– die Gefahr des Begriffs liegt darin, uns „diese“ Welt als bekannt zu insinuieren....);
b) eine andre Welt, wo es anders ist: – es rechnet etwas in uns nach, unsre stille Ergebung, unser Schweigen verlieren dabei ihren Wert, – vielleicht wird alles gut, wir haben nicht umsonst gehofft.... Die Welt, wo es anders, wo wir selbst – wer weiß? – anders sind....
c) eine wahre Welt: – das ist der wunderlichste Streich und Angriff, der auf uns gemacht wird; es ist so vieles an das Wort „wahr“ ankrustiert, unwillkürlich machen wir's auch der „wahren Welt“ zum Geschenk: die wahre Welt muß auch eine wahrhaftige sein, eine solche, die uns nicht betrügt, nicht zu Narren hat: an sie glauben ist beinahe glauben müssen (– aus Anstand, wie es unter zutrauenswürdigen Wesen geschieht –).
Der Begriff „die unbekannte Welt“ insinuiert uns diese Welt als „bekannt“ (als langweilig –);
der Begriff „die andre Welt“ insinuiert, als ob die Welt anders sein könnte, – hebt die Notwendigkeit und das Fatum auf (– unnütz, sich zu ergeben, sich anzupassen –);
der Begriff „die wahre Welt“ insinuiert diese Welt als eine unwahrhaftige, betrügerische, unredliche, unechte, unwesentliche, – und folglich auch nicht unserm Nutzen zugetane Welt (– unratsam, sich ihr anzupassen; besser: ihr widerstreben).
Wir entziehen uns also in dreierlei Weise „dieser“ Welt:
a) mit unsrer Neugierde, – wie als ob der interessantere Teil wo anders wäre;
[Pg 209]
b) mit unsrer Ergebung, – wie als ob es nicht nötig sei, sich zu ergeben, – wie als ob diese Welt keine Notwendigkeit letzten Ranges sei;
c) mit unsrer Sympathie und Achtung, – wie als ob diese Welt sie nicht verdiente, als unlauter, als gegen uns nicht redlich....
In summa: wir sind auf eine dreifache Weise revoltiert: wir haben ein x zur Kritik der „bekannten Welt“ gemacht.
B.Erster Schritt der Besonnenheit: zu begreifen, inwiefern wir verführt sind, – nämlich es könnte an sich exakt umgekehrt sein:
a) die unbekannte Welt könnte derartig beschaffen sein, um uns Lust zu machen zu „dieser“ Welt, – als eine vielleicht stupide und geringere Form des Daseins;
b) die andere Welt, geschweige, daß sie unsern Wünschen, die hier keinen Austrag fänden, Rechnung trüge, könnte mit unter der Masse dessen sein, was uns diese Welt möglich macht: sie kennen lernen wäre ein Mittel, uns zufrieden zu machen;
c) die wahre Welt: aber wer sagt uns eigentlich, daß die scheinbare Welt weniger wert sein muß, als die wahre? Widerspricht nicht unser Instinkt diesem Urteile? Schafft sich nicht ewig der Mensch eine fingierte Welt, weil er eine bessere Welt haben will als die Realität? Vor allem: wie kommen wir darauf, daß nicht unsre Welt die wahre ist?.... zunächst könnte doch die andre Welt die „scheinbare“ sein (in der Tat haben sich die Griechen zum Beispiel ein Schattenreich, eine Scheinexistenz neben der wahren Existenz gedacht –). Und endlich: was gibt uns ein Recht, gleichsam Grade der Realität anzusetzen? Das ist etwas anderes als eine unbekannte Welt, – das ist bereits Etwas-wissen-wollen von der unbekannten. Die „andere“, die „unbekannte“ Welt – gut! aber sagen „wahre Welt“, das heißt „etwas wissen von ihr“, – das ist der Gegensatz zur Annahme einer x-Welt....
[Pg 210]
In summa: die Welt x könnte in jedem Sinne langweiliger, unmenschlicher und unwürdiger sein als diese Welt.
Es stünde anders, wenn behauptet würde, es gebe x Welten, das heißt jede mögliche Welt noch außer dieser. Aber das ist nie behauptet worden....
C.Problem: warum die Vorstellung von der andern Welt immer zum Nachteil, respektive zur Kritik „dieser“ Welt ausgefallen ist, – worauf das weist? –
Nämlich: ein Volk, das auf sich stolz ist, das im Aufgange des Lebens ist, denkt das Anderssein immer als Niedriger-, Wertlosersein; es betrachtet die fremde, die unbekannte Welt als seinen Feind, als seinen Gegensatz, es fühlt sich ohne Neugierde, in voller Ablehnung gegen das Fremde.... Ein Volk würde nicht zugeben, daß ein anderes Volk das „wahre Volk“ wäre....
Schon, daß ein solches Unterscheiden möglich ist, – daß man diese Welt für die „scheinbare“ und jene für die „wahre“ nimmt, ist symptomatisch.
Die Entstehungsherde der Vorstellung „andre Welt“:
der Philosoph, der eine Vernunftwelt erfindet, wo die Vernunft und die logischen Funktionen adäquat sind: – daher stammt die „wahre“ Welt;
der religiöse Mensch, der eine „göttliche Welt“ erfindet: – daher stammt die „entnatürlichte, widernatürliche“ Welt;
der moralische Mensch, der eine „freie Welt“ fingiert: – daher stammt die „gute, vollkommene, gerechte, heilige“ Welt.
Das Gemeinsame der drei Entstehungsherde: der psychologische Fehlgriff, die physiologischen Verwechslungen.
Die „andre Welt“, wie sie tatsächlich in der Geschichte erscheint, mit welchen Prädikaten abgezeichnet? Mit den Stigmaten des philosophischen, des religiösen, des moralischen Vorurteils.
Die „andre Welt“, wie sie aus diesen Tatsachen erhellt, als ein Synonym des Nichtseins, des Nichtlebens, des Nichtlebenwollens....
[Pg 211]
Gesamteinsicht: der Instinkt der Lebensmüdigkeit, und nicht der des Lebens, hat die „andre Welt“ geschaffen.
Konsequenz: Philosophie, Religion und Moral sind Symptome der décadence.
382.
Zur Psychologie der Metaphysik. – Diese Welt ist scheinbar: folglich gibt es eine wahre Welt; – diese Welt ist bedingt: folglich gibt es eine unbedingte Welt; – diese Welt ist widerspruchsvoll: folglich gibt es eine widerspruchslose Welt; – diese Welt ist werdend: folglich gibt es eine seiende Welt: – lauter falsche Schlüsse (blindes Vertrauen in die Vernunft: wenn A ist, so muß auch sein Gegensatzbegriff B sein). Zu diesen Schlüssen inspiriert das Leiden: im Grunde sind es Wünsche, es möchte eine solche Welt geben; ebenfalls drückt sich der Haß gegen eine Welt, die leiden macht, darin aus, daß eine andere imaginiert wird, eine wertvollere: das Ressentiment der Metaphysiker gegen das Wirkliche ist hier schöpferisch.
Zweite Reihe von Fragen: wozu Leiden?.... und hier ergibt sich ein Schluß auf das Verhältnis der wahren Welt zu unsrer scheinbaren, wandelbaren, leidenden, widerspruchsvollen: 1. Leiden als Folge des Irrtums: wie ist Irrtum möglich? 2. Leiden als Folge von Schuld: wie ist Schuld möglich? (– lauter Erfahrungen aus der Natursphäre oder der Gesellschaft universaliert und ins „An-sich“ projiziert). Wenn aber die bedingte Welt ursächlich von der unbedingten bedingt ist, so muß die Freiheit zum Irrtum und zur Schuld mit von ihr bedingt sein: und wieder fragt man wozu?.... Die Welt des Scheins, des Werdens, des Widerspruchs, des Leidens ist also gewollt: wozu?
Der Fehler dieser Schlüsse: zwei gegensätzliche Begriffe sind gebildet, – weil dem einen von ihnen eine Realität entspricht, „muß“ auch dem andern eine Realität entsprechen. „Woher sollte man sonst dessen Gegenbegriff haben?“ – Vernunft somit als eine Offenbarungsquelle über An-sich-Seiendes.
[Pg 212]
Aber die Herkunft jener Gegensätze braucht nicht notwendig auf eine übernatürliche Quelle der Vernunft zurückzugehen: es genügt, die wahre Genesis der Begriffe dagegenzustellen: – diese stammt aus der praktischen Sphäre, aus der Nützlichkeitssphäre, und hat eben daher ihren starken Glauben (man geht daran zugrunde, wenn man nicht gemäß dieser Vernunft schließt: aber damit ist das nicht „bewiesen“, was sie behauptet).
Die Präokkupation durch das Leiden bei den Metaphysikern: ist ganz naiv. „Ewige Seligkeit“: psychologischer Unsinn. Tapfere und schöpferische Menschen fassen Lust und Leid nie als letzte Wertfragen, – es sind Begleitzustände: man muß beides wollen, wenn man etwas erreichen will – darin drückt sich etwas Müdes und Krankes an den Metaphysikern und Religiösen aus, daß sie Lust- und Leidprobleme im Vordergrunde sehen. Auch die Moral hat nur deshalb für sie solche Wichtigkeit, weil sie als wesentliche Bedingung in Hinsicht auf Abschaffung des Leidens gilt.
Insgleichen die Präokkupation durch Schein und Irrtum: Ursache von Leiden, Aberglaube, daß das Glück mit der Wahrheit verbunden sei (Verwechslung: das Glück in der „Gewißheit“, im „Glauben“).
383.
Kritik des Begriffes „wahre und scheinbare Welt“. – Von diesen ist die erste eine bloße Fiktion, aus lauter fingierten Dingen gebildet.
Die „Scheinbarkeit“ gehört selbst zur Realität: sie ist eine Form ihres Seins; das heißt in einer Welt, wo es kein Sein gibt, muß durch den Schein erst eine gewisse berechenbare Welt identischer Fälle geschaffen werden: ein Tempo, in dem Beobachtung und Vergleichung möglich ist, usw.
: „Scheinbarkeit“ ist eine zurechtgemachte und vereinfachte Welt, an der unsre praktischen Instinkte gearbeitet haben: sie ist für uns vollkommen wahr: nämlich wir leben, wir können in ihr leben: Beweis ihrer Wahrheit für uns....
[Pg 213]
: die Welt, abgesehen von unsrer Bedingung, in ihr zu leben, die Welt, die wir nicht auf unser Sein, unsre Logik und psychologischen Vorurteile reduziert haben, existiert nicht als Welt „an sich“; sie ist essentiell Relationswelt: sie hat unter Umständen von jedem Punkt aus ihr verschiedenes Gesicht: ihr Sein ist essentiell an jedem Punkte anders: sie drückt auf jeden Punkt, es widersteht ihr jeder Punkt – und diese Summierungen sind in jedem Falle gänzlich inkongruent.
Das Maß von Macht bestimmt, welches Wesen das andre Maß von Macht hat: unter welcher Form, Gewalt, Nötigung es wirkt oder widersteht.
Unser Einzelfall ist interessant genug: wir haben eine Konzeption gemacht, um in einer Welt leben zu können, um gerade genug zu perzipieren, daß wir noch es aushalten....
384.
Die scheinbare Welt, das heißt eine Welt, nach Werten angesehen; geordnet, ausgewählt nach Werten, das heißt in diesem Falle nach dem Nützlichkeitsgesichtspunkt in Hinsicht auf die Erhaltung und Machtsteigerung einer bestimmten Gattung von Animal.
Das Perspektivische also gibt den Charakter der „Scheinbarkeit“ ab! Als ob eine Welt noch übrig bliebe, wenn man das Perspektivische abrechnet! Damit hätte man ja die Relativität abgerechnet!
Jedes Kraftzentrum hat für den ganzen Rest seine Perspektive, das heißt seine ganz bestimmte Wertung, seine Aktionsart, seine Widerstandsart. Die „scheinbare Welt“ reduziert sich also auf eine spezifische Art von Aktion auf die Welt, ausgehend von einem Zentrum.
Nun gibt es gar keine andre Art Aktion: und die „Welt“ ist nur ein Wort für das Gesamtspiel dieser Aktionen. Die Realität besteht exakt in dieser Partikularaktion und -Reaktion jedes Einzelnen gegen das Ganze....
Es bleibt kein Schatten von Recht mehr übrig, hier von Schein zu reden....
[Pg 214]
Die spezifische Art zu reagieren ist die einzige Art des Reagierens: wir wissen nicht, wie viele und was für Arten es alles gibt.
Aber es gibt kein „anderes“, kein „wahres“, kein wesentliches Sein, – damit würde eine Welt ohne Aktion und Reaktion ausgedrückt sein....
Der Gegensatz der scheinbaren Welt und der wahren Welt reduziert sich auf den Gegensatz „Welt“ und „Nichts“ –
385.
A.Ich sehe mit Erstaunen, daß die Wissenschaft sich heute resigniert, auf die scheinbare Welt angewiesen zu sein: eine wahre Welt – sie mag sein, wie sie will –, gewiß haben wir kein Organ der Erkenntnis für sie.
Hier dürfen wir nun schon fragen: mit welchem Organ der Erkenntnis setzt man auch diesen Gegensatz nur an?....
Damit, daß eine Welt, die unsern Organen zugänglich ist, auch als abhängig von diesen Organen verstanden wird, damit, daß wir eine Welt als subjektiv bedingt verstehen, damit ist nicht ausgedrückt, daß eine objektive Welt überhaupt möglich ist. Wer zwingt uns, zu denken, daß die Subjektivität real, essentiell ist?
Das „An sich“ ist sogar eine widersinnige Konzeption: eine „Beschaffenheit an sich“ ist Unsinn: wir haben den Begriff „Sein“, „Ding“ immer nur als Relationsbegriff....
Das Schlimme ist, daß mit dem alten Gegensatz „scheinbar“ und „wahr“ sich das korrelative Werturteil fortgepflanzt hat: „gering an Wert“ und „absolut wertvoll“.
Die scheinbare Welt gilt uns nicht als eine „wertvolle“ Welt; der Schein soll eine Instanz gegen den obersten Wert sein. Wertvoll an sich kann nur eine „wahre“ Welt sein....
Vorurteil der Vorurteile! Erstens wäre an sich möglich, daß die wahre Beschaffenheit der Dinge dermaßen den Voraussetzungen des Lebens schädlich wäre, entgegengesetzt wäre, daß eben der Schein not täte, um leben zu können....[Pg 215] Dies ist ja der Fall in so vielen Lagen: zum Beispiel in der Ehe.
Unsre empirische Welt wäre aus den Instinkten der Selbsterhaltung auch in ihren Erkenntnisgrenzen bedingt: wir hielten für wahr, für gut, für wertvoll, was der Erhaltung der Gattung frommt....
a) Wir haben keine Kategorien, nach denen wir eine wahre und eine scheinbare Welt scheiden dürften. (Es könnte eben bloß eine scheinbare Welt geben, aber nicht nur unsere scheinbare Welt....)
b) Die wahre Welt angenommen, so könnte sie immer noch die geringere an Wert für uns sein: gerade das Quantum Illusion möchte, in seinem Erhaltungswert für uns, höheren Ranges sein. (Es sei denn, daß der Schein an sich ein Verwerfungsurteil begründete?)
c) Daß eine Korrelation bestehe zwischen den Graden der Werte und den Graden der Realität (so daß die obersten Werte auch die oberste Realität hätten), ist ein metaphysisches Postulat, von der Voraussetzung ausgehend, daß wir die Rangordnung der Werte kennen: nämlich, daß diese Rangordnung eine moralische ist.... Nur in dieser Voraussetzung ist die Wahrheit notwendig für die Definition alles Höchstwertigen.
B.Es ist von kardinaler Wichtigkeit, daß man die wahre Welt abschafft. Sie ist die große Anzweiflerin und Wertverminderung der Welt, die wir sind: sie war bisher unser gefährlichstes Attentat auf das Leben.
Krieg gegen alle Voraussetzungen, auf welche hin man eine wahre Welt fingiert hat. Zu diesen Voraussetzungen gehört, daß die moralischen Werte die obersten seien.
Die moralische Wertung als oberste wäre widerlegt, wenn sie bewiesen werden könnte als die Folge einer unmoralischen Wertung: als ein Spezialfall der realen Unmoralität: sie reduzierte sich damit selbst auf einen Anschein, und als Anschein hätte sie, von sich aus, kein Recht mehr, den Schein zu verurteilen.
[Pg 216]
C.Der „Wille zur Wahrheit“ wäre sodann psychologisch zu untersuchen: er ist keine moralische Gewalt, sondern eine Form des Willens zur Macht. Dies wäre damit zu beweisen, daß er sich aller unmoralischen Mittel bedient: die Metaphysiker voran –
Wir sind heute vor die Prüfung der Behauptung gestellt, daß die moralischen Werte die obersten Werte seien. Die Methodik der Forschung ist erst erreicht, wenn alle moralischen Vorurteile überwunden sind: – sie stellte einen Sieg über die Moral dar....
386.
Die größte Fabelei ist die von der Erkenntnis. Man möchte wissen, wie die Dinge an sich beschaffen sind: aber siehe da, es gibt keine Dinge an sich! Gesetzt aber sogar, es gäbe ein An-sich, ein Unbedingtes, so könnte es eben darum nicht erkannt werden! Etwas Unbedingtes kann nicht erkannt werden: sonst wäre es eben nicht unbedingt! Erkennen ist aber immer „sich irgendwozu in Bedingung setzen“ – –; ein solch Erkennender will, daß das, was er erkennen will, ihn nichts angeht, und daß dasselbe Etwas überhaupt niemanden nichts angeht: wobei erstlich ein Widerspruch gegeben ist, im Erkennenwollen und dem Verlangen, daß es ihn nichts angehen soll (wozu doch dann Erkennen?), und zweitens, weil etwas, das niemanden nichts angeht, gar nicht ist, also auch gar nicht erkannt werden kann. – Erkennen heißt „sich in Bedingung setzen zu etwas“: sich durch etwas bedingt fühlen und ebenso es selbst unsrerseits bedingen – – es ist also unter allen Umständen ein Feststellen, Bezeichnen, Bewußtmachen von Bedingungen (nicht ein Ergründen von Wesen, Dingen, „An-sichs“).
387.
Die Eigenschaften eines Dinges sind Wirkungen auf andre „Dinge“:
[Pg 217]
denkt man andre „Dinge“ weg, so hat ein Ding keine Eigenschaften,
das heißt, es gibt kein Ding ohne andre Dinge,
das heißt, es gibt kein „Ding an sich“.
388.
Das „Ding an sich“ widersinnig. Wenn ich alle Relationen, alle „Eigenschaften“, alle „Tätigkeiten“ eines Dinges wegdenke, so bleibt nicht das Ding übrig: weil Dingheit erst von uns hinzufingiert ist, aus logischen Bedürfnissen, also zum Zweck der Bezeichnung, der Verständigung (zur Bindung jener Vielheit von Relationen, Eigenschaften, Tätigkeiten).
389.
„Dinge, die eine Beschaffenheit an sich haben“ – eine dogmatische Vorstellung, mit der man absolut brechen muß.
390.
Daß die Dinge eine Beschaffenheit an sich hätten, ganz abgesehen von der Interpretation und Subjektivität, ist eine ganz müßige Hypothese: es würde voraussetzen, daß das Interpretieren und Subjektsein nicht wesentlich sei, daß ein Ding, aus allen Relationen gelöst, noch Ding sei.
Umgekehrt: der anscheinende objektive Charakter der Dinge: könnte er nicht bloß auf eine Graddifferenz innerhalb des Subjektiven hinauslaufen? – daß etwa das Langsam-Wechselnde uns als „objektiv“ dauernd, seiend, „an sich“ sich herausstellte, – daß das Objektive nur ein falscher Artbegriff und Gegensatz wäre innerhalb des Subjektiven?
391.
Ein „Ding an sich“ ebenso verkehrt wie ein „Sinn an sich“, eine „Bedeutung an sich“. Es gibt keinen „Tatbestand an sich“, sondern ein Sinn muß immer erst hineingelegt werden, damit es einen Tatbestand geben kann.
[Pg 218]
Das „was ist das?“ ist eine Sinnsetzung von etwas anderem aus gesehen. Die „Essenz“, die „Wesenheit“ ist etwas Perspektivisches und setzt eine Vielheit schon voraus. Zugrunde liegt immer „was ist das für mich?“ (für uns, für alles, was lebt usw.).
Ein Ding wäre bezeichnet, wenn an ihm erst alle Wesen ihr „was ist das?“ gefragt und beantwortet hätten. Gesetzt, ein einziges Wesen, mit seinen eignen Relationen und Perspektiven zu allen Dingen, fehlte, so ist das Ding immer noch nicht „definiert“.
Kurz: das Wesen eines Dings ist auch nur eine Meinung über das „Ding“. Oder vielmehr: das „es gilt“ ist das eigentliche „es ist“, das einzige „das ist“.
Man darf nicht fragen: „wer interpretiert denn?“ sondern das Interpretieren selbst, als eine Form des Willens zur Macht, hat Dasein (aber nicht als ein „Sein“, sondern als ein Prozeß, ein Werden) als ein Affekt.
Die Entstehung der „Dinge“ ist ganz und gar das Werk der Vorstellenden, Denkenden, Wollenden, Empfindenden. Der Begriff „Ding“ selbst ebenso als alle Eigenschaften. – Selbst „das Subjekt“ ist ein solches Geschaffenes, ein „Ding“ wie alle andern: eine Vereinfachung, um die Kraft, welche setzt, erfindet, denkt, als solche zu bezeichnen, im Unterschiede von allem einzelnen Setzen, Erfinden, Denken selbst. Also das Vermögen im Unterschiede von allem Einzelnen bezeichnet: im Grunde das Tun in Hinsicht auf alles noch zu erwartende Tun (Tun und die Wahrscheinlichkeit ähnlichen Tuns) zusammengefaßt.
392.
Der faule Fleck des Kantschen Kritizismus ist allmählich auch den gröberen Augen sichtbar geworden: Kant hatte kein Recht mehr zu seiner Unterscheidung „Erscheinung“ und „Ding an sich“, – er hatte sich selbst das Recht abgeschnitten, noch fernerhin in dieser alten üblichen Weise zu unterscheiden, insofern er den Schluß von der Erscheinung auf eine Ursache der Erscheinung als unerlaubt ablehnte –[Pg 219] gemäß seiner Fassung des Kausalitätsbegriffs und dessen rein intraphänomenaler Gültigkeit: welche Fassung andrerseits jene Unterscheidung schon vorwegnimmt, wie als ob das „Ding an sich“ nicht nur erschlossen, sondern gegeben sei.
393.
Es liegt auf der Hand, daß weder Dinge an sich miteinander im Verhältnisse von Ursache und Wirkung stehen können, noch Erscheinung mit Erscheinung: womit sich ergibt, daß der Begriff „Ursache und Wirkung“ innerhalb einer Philosophie, die an Dinge an sich und an Erscheinungen glaubt, nicht anwendbar ist. Die Fehler Kants –.... Tatsächlich stammt der Begriff „Ursache und Wirkung“, psychologisch nachgerechnet, nur aus einer Denkweise, die immer und überall Wille auf Wille wirkend glaubt, – die nur an Lebendiges glaubt und im Grunde nur an „Seelen“ (und nicht an Dinge). Innerhalb der mechanischen Weltbetrachtung (welche Logik ist und deren Anwendung auf Raum und Zeit) reduziert sich jener Begriff auf die mathemathische Formel – mit der, wie man immer wieder unterstreichen muß, niemals etwas begriffen, wohl aber etwas bezeichnet, verzeichnet wird.
394.
Gegen den Wert des Ewig-Gleichbleibenden (von Spinozas Naivität, Descartes' ebenfalls) den Wert des Kürzesten und Vergänglichsten, das verführerische Goldaufblitzen am Bauch der Schlange vita –
III. Die Natur – ein Machtwille.
1. Die anorganische Natur.
395.
Die Qualitäten sind unsere unübersteiglichen Schranken; wir können durch nichts verhindern, bloße Quantitätsdifferenzen als etwas von Quantität Grundverschiedenes zu empfinden, nämlich als Qualitäten, die nicht mehr auf[Pg 220]einander reduzierbar sind. Aber alles, wofür nur das Wort „Erkenntnis“ Sinn hat, bezieht sich auf das Reich, wo gezählt, gewogen, gemessen werden kann, auf die Quantität: während umgekehrt alle unsre Wertempfindungen (das heißt eben unsre Empfindungen) gerade an den Qualitäten haften, das heißt an unsren, nur uns allein zugehörigen perspektivischen „Wahrheiten“, die schlechterdings nicht „erkannt“ werden können. Es liegt auf der Hand, daß jedes von uns verschiedene Wesen andere Qualitäten empfindet und folglich in einer anderen Welt, als wir leben, lebt. Die Qualitäten sind unsre eigentliche menschliche Idiosynkrasie: zu verlangen, daß diese unsre menschlichen Auslegungen und Werte allgemeine und vielleicht konstitutive Werte sind, gehört zu den erblichen Verrücktheiten des menschlichen Stolzes.
396.
Unser „Erkennen“ beschränkt sich darauf, Quantitäten festzustellen; aber wir können durch nichts hindern, diese Quantitätsdifferenzen als Qualitäten zu empfinden. Die Qualität ist eine perspektivische Wahrheit für uns; kein „An sich“.
Unsere Sinne haben ein bestimmtes Quantum als Mitte, innerhalb deren sie funktionieren, das heißt, wir empfinden groß und klein im Verhältnis zu den Bedingungen unsrer Existenz. Wenn wir unsre Sinne um das Zehnfache verschärften oder verstumpften, würden wir zugrunde gehen: – das heißt, wir empfinden auch Größenverhältnisse in bezug auf unsre Existenzermöglichung als Qualitäten.
397.
Von den Weltauslegungen, welche bisher versucht worden sind, scheint heutzutage die mechanistische siegreich im Vordergrund zu stehen. Ersichtlich hat sie das gute Gewissen auf ihrer Seite; und keine Wissenschaft glaubt bei sich selber an einen Fortschritt und Erfolg, es sei denn, wenn er mit Hilfe mechanistischer Prozeduren errungen ist. Jedermann kennt diese Prozeduren: man läßt die „Vernunft“ und die „Zwecke“, so gut es gehen will, aus dem Spiele,[Pg 221] man zeigt, daß bei gehöriger Zeitdauer alles aus allem werden kann; man verbirgt ein schadenfrohes Schmunzeln nicht, wenn wieder einmal die „anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale“ einer Pflanze oder eines Eidotters auf Druck und Stoß zurückgeführt ist: kurz, man huldigt von ganzem Herzen, wenn in einer so ernsten Angelegenheit ein scherzhafter Ausdruck erlaubt ist, dem Prinzip der größtmöglichen Dummheit. Inzwischen gibt sich gerade bei den ausgesuchten Geistern, welche in dieser Beziehung stehen, ein Vorgefühl, eine Beängstigung zu erkennen, wie als ob die Theorie ein Loch habe, welches über kurz oder lang zu ihrem letzten Loche werden könne: ich meine zu jenem, auf dem man pfeift, wenn man in höchsten Nöten ist. Man kann Druck und Stoß selber nicht „erklären“, man wird die actio in distans nicht los: – man hat den Glauben an das Erklären-können selber verloren und gibt mit sauertöpfischer Miene zu, daß Beschreiben und nicht Erklären möglich ist, daß die dynamische Weltauslegung, mit ihrer Leugnung des „leeren Raumes“, den Klümpchenatomen, in kurzem über die Physiker Gewalt haben wird: wobei man freilich zur Dynamis noch eine innere Qualität –
398.
Der mechanistische Begriff der „Bewegung“ ist bereits eine Übersetzung des Originalvorgangs in die Zeichensprache von Auge und Getast.
Der Begriff „Atom“, die Unterscheidung zwischen einem „Sitz der treibenden Kraft und ihr selber“, ist eine Zeichensprache aus unsrer logisch-psychischen Welt her.
Es steht nicht in unserem Belieben, unser Ausdrucksmittel zu verändern: es ist möglich zu begreifen, inwiefern es bloße Semiotik ist. Die Forderung einer adäquaten Ausdrucksweise ist unsinnig: es liegt im Wesen einer Sprache, eines Ausdrucksmittels, eine bloße Relation auszudrücken.... Der Begriff „Wahrheit“ ist widersinnig. Das ganze Reich von „wahr – falsch“ bezieht sich nur auf Relationen zwischen Wesen, nicht auf das „An sich“.... Es gibt kein[Pg 222] „Wesen an sich“ (die Relationen konstituieren erst Wesen –), so wenig es eine „Erkenntnis an sich“ geben kann.
399.
Druck und Stoß etwas unsäglich Spätes, Abgeleitetes, Unursprüngliches. Es setzt ja schon etwas voraus, das zusammenhält und drücken und stoßen kann! Aber woher hielte es zusammen?
400.
Gegen das physikalische Atom. – Um die Welt zu begreifen, müssen wir sie berechnen können; um sie berechnen zu können, müssen wir konstante Ursachen haben; weil wir in der Wirklichkeit keine solchen konstanten Ursachen finden, erdichten wir uns welche – die Atome. Dies ist die Herkunft der Atomistik.
Die Berechenbarkeit der Welt, die Ausdrückbarkeit alles Geschehens in Formeln – ist das wirklich ein „Begreifen“? Was wäre wohl an einer Musik begriffen, wenn alles, was an ihr berechenbar ist und in Formeln abgekürzt werden kann, berechnet wäre? – Sodann die „konstanten Ursachen“, Dinge, Substanzen, etwas „Unbedingtes“ also; erdichtet – was hat man erreicht?
401.
„Anziehen“ und „Abstoßen“ in rein mechanischem Sinne ist eine vollständige Fiktion: ein Wort. Wir können uns ohne eine Absicht ein Anziehen nicht denken. – Den Willen, sich einer Sache zu bemächtigen oder gegen ihre Macht sich zu wehren und sie zurückzustoßen – das „verstehen“ wir: das wäre eine Interpretation, die wir brauchen könnten.
Kurz: die psychologische Nötigung zu einem Glauben an Kausalität liegt in der Unvorstellbarkeit eines Geschehens ohne Absichten: womit natürlich über Wahrheit oder Unwahrheit (Berechtigung eines solchen Glaubens) nichts gesagt ist! Der Glaube an causae fällt mit dem Glauben an τέλη (gegen Spinoza und dessen Kausalismus).
[Pg 223]
402.
Wir haben „Einheiten“ nötig, um rechnen zu können: deshalb ist nicht anzunehmen, daß es solche Einheiten gibt. Wir haben den Begriff der Einheit entlehnt von unserm „Ich“-Begriff, – unserm ältesten Glaubensartikel. Wenn wir uns nicht für Einheiten hielten, hätten wir nie den Begriff „Ding“ gebildet. Jetzt, ziemlich spät, sind wir reichlich davon überzeugt, daß unsre Konzeption des Ich-Begriffs nichts für eine reale Einheit verbürgt. Wir haben also, um die mechanistische Welt theoretisch aufrecht zu erhalten, immer die Klausel zu machen, inwiefern wir sie mit zwei Fiktionen durchführen: dem Begriff der Bewegung (aus unsrer Sinnensprache genommen) und dem Begriff des Atoms (= Einheit, aus unsrer psychischen „Erfahrung“ herstammend): – sie hat ein Sinnenvorurteil und ein psychologisches Vorurteil zu ihrer Voraussetzung.
Die Mechanik formuliert Folgeerscheinungen, noch dazu semiotisch, in sinnlichen und psychologischen Ausdrucksmitteln (daß alle Wirkung Bewegung ist; daß, wo Bewegung ist, etwas bewegt wird): sie berührt die ursächliche Kraft nicht.
Die mechanistische Welt ist so imaginiert, wie das Auge und das Getast sich allein eine Welt vorstellen (als „bewegt“), – so, daß sie berechnet werden kann, – daß ursächliche Einheiten fingiert sind, „Dinge“ (Atome), deren Wirkung konstant bleibt (– Übertragung des falschen Subjektsbegriffs auf den Atombegriff).
Phänomenal ist also: die Einmischung des Zahlbegriffs, des Dingbegriffs (Subjektbegriffs), des Tätigkeitsbegriffs (Trennung von Ursachesein und Wirken), des Bewegungsbegriffs (Auge und Getast): wir haben unser Auge, unsre Psychologie immer noch darin.
Eliminieren wir diese Zutaten, so bleiben keine Dinge übrig, sondern dynamische Quanta, in einem Spannungsverhältnis zu allen andern dynamischen Quanten: deren Wesen in ihrem Verhältnis zu allen andern Quanten besteht, in ihrem „Wirken“ auf dieselben. Der Wille zur[Pg 224] Macht nicht ein Sein, nicht ein Werden, sondern ein Pathos – ist die elementarste Tatsache, aus der sich erst ein Werden, ein Wirken ergibt....
403.
Der siegreiche Begriff „Kraft“, mit dem unsere Physiker Gott und die Welt geschaffen haben, bedarf noch einer Ergänzung: es muß ihm ein innerer Wille zugesprochen werden, welchen ich bezeichne als „Willen zur Macht“, das heißt als unersättliches Verlangen nach Bezeigung der Macht; oder Verwendung, Ausübung der Macht, als schöpferischen Trieb usw. Die Physiker werden die „Wirkung in die Ferne“ aus ihren Prinzipien nicht los; ebensowenig eine abstoßende Kraft (oder anziehende). Es hilft nichts: man muß alle Bewegungen, alle „Erscheinungen“, alle „Gesetze“ nur als Symptome eines innerlichen Geschehens fassen und sich der Analogie des Menschen zu diesem Ende bedienen. Am Tier ist es möglich, aus dem Willen zur Macht alle seine Triebe abzuleiten; ebenso alle Funktionen des organischen Lebens aus dieser einen Quelle.
404.
Unsre Erkenntnis ist in dem Maße wissenschaftlich geworden, als sie Zahl und Maß anwenden kann. Der Versuch wäre zu machen, ob nicht eine wissenschaftliche Ordnung der Werte einfach auf einer Zahl- und Maßskala der Kraft aufzubauen wäre.... Alle sonstigen „Werte“ sind Vorurteile, Naivitäten, Mißverständnisse. – Sie sind überall reduzierbar auf jene Zahl- und Maßskala der Kraft. Das Aufwärts in dieser Skala bedeutet jedes Wachsen an Wert: das Abwärts in dieser Skala bedeutet Verminderung des Wertes.
Hier hat man den Schein und das Vorurteil wider sich. (Die Moralwerte sind ja nur Scheinwerte, verglichen mit den physiologischen.)
405.
„Die Kraftempfindung kann nicht aus Bewegung hervorgehen: Empfindung überhaupt kann nicht aus Bewegung hervorgehen.“
[Pg 225]
„Auch dafür spricht nur eine scheinbare Erfahrung: in einer Substanz (Gehirn) wird durch übertragene Bewegung (Reize) Empfindung erzeugt. Aber erzeugt? Wäre denn bewiesen, daß die Empfindung dort noch gar nicht existiert? so daß ihr Auftreten als Schöpfungsakt der eingetretenen Bewegung aufgefaßt werden müßte? Der empfindungslose Zustand dieser Substanz ist nur eine Hypothese! keine Erfahrung! – Empfindung also Eigenschaft der Substanz: es gibt empfindende Substanzen.“
„Erfahren wir von gewissen Substanzen, daß sie Empfindung nicht haben? Nein, wir erfahren nur nicht, daß sie welche haben. Es ist unmöglich, die Empfindung aus der nicht empfindenden Substanz abzuleiten.“ – O der Übereilung!
406.
Ist jemals schon eine Kraft konstatiert? Nein, sondern Wirkungen, übersetzt in eine völlig fremde Sprache. Das Regelmäßige im Hintereinander hat uns aber so verwöhnt, daß wir uns über das Wunderliche daran nicht wundern.
407.
Eine Kraft, die wir uns nicht vorstellen können, ist ein leeres Wort und darf kein Bürgerrecht in der Wissenschaft haben: wie die sogenannte rein mechanische Anziehungs- und Abstoßungskraft, welche uns die Welt vorstellbar machen will, nichts weiter!
408.
Illusion, daß etwas erkannt sei, wo wir eine mathematische Formel für das Geschehene haben: es ist nur bezeichnet, beschrieben: nichts mehr!
409.
Wenn ich ein regelmäßiges Geschehen in eine Formel bringe, so habe ich mir die Bezeichnung des ganzen Phänomens erleichtert, abgekürzt usw. Aber ich habe kein „Gesetz“ konstatiert, sondern die Frage aufgestellt, woher es kommt, daß hier etwas sich wiederholt: es ist eine Vermu[Pg 226]tung, daß der Formel ein Komplex von zunächst unbekannten Kräften und Kraftauslösungen entspricht: es ist Mythologie, zu denken, daß hier Kräfte einem Gesetz gehorchen, so daß infolge ihres Gehorsams wir jedesmal das gleiche Phänomen haben.
410.
Die unabänderliche Aufeinanderfolge gewisser Erscheinungen beweist kein „Gesetz“, sondern ein Machtverhältnis zwischen zwei oder mehreren Kräften. Zu sagen, „aber gerade dies Verhältnis bleibt sich gleich!“ heißt nichts anderes als: „ein und dieselbe Kraft kann nicht auch eine andere Kraft sein.“ – Es handelt sich nicht um ein Nacheinander, – sondern um ein Ineinander, einen Prozeß, in dem die einzelnen sich folgenden Momente nicht als Ursachen und Wirkungen sich bedingen....
Die Trennung des „Tuns“ vom „Tuenden“, des Geschehens von einem, der geschehen macht, des Prozesses von einem etwas, das nicht Prozeß, sondern dauernd, Substanz, Ding, Körper, Seele usw. ist, – der Versuch, das Geschehen zu begreifen als eine Art Verschiebung und Stellungswechsel von „Seiendem“, von Bleibendem: diese alte Mythologie hat den Glauben an „Ursache und Wirkung“ festgestellt, nachdem er in den sprachlich-grammatischen Funktionen eine feste Form gefunden hatte.
411.
Kritik des Mechanismus. – Entfernen wir hier die zwei populären Begriffe „Notwendigkeit“ und „Gesetz“: das erste legt einen falschen Zwang, das zweite eine falsche Freiheit in die Welt. „Die Dinge“ betragen sich nicht regelmäßig, nicht nach einer Regel: es gibt keine Dinge (– das ist unsre Fiktion); sie betragen sich ebensowenig unter einem Zwang von Notwendigkeit. Hier wird nicht gehorcht: denn daß etwas so ist, wie es ist, so stark, so schwach, das ist nicht die Folge eines Gehorchens oder einer Regel oder eines Zwanges....
Der Grad von Widerstand und der Grad von Übermacht [Pg 227]– darum handelt es sich bei allem Geschehen: wenn wir, zu unserm Handgebrauch der Berechnung, das in Formeln und „Gesetzen“ auszudrücken wissen, um so besser für uns! Aber wir haben damit keine „Moralität“ in die Welt gelegt, daß wir sie als gehorsam fingieren –
Es gibt kein Gesetz: jede Macht zieht in jedem Augenblick ihre letzte Konsequenz. Gerade, daß es kein Anderskönnen gibt, darauf beruht die Berechenbarkeit.
Ein Machtquantum ist durch die Wirkung, die es übt, und die, der es widersteht, bezeichnet. Es fehlt die Adiaphorie: die an sich denkbar wäre. Es ist essentiell ein Wille zur Vergewaltigung und sich gegen Vergewaltigung zu wehren. Nicht Selbsterhaltung: jedes Atom wirkt in das ganze Sein hinaus, – es ist weggedacht, wenn man diese Strahlung von Machtwillen wegdenkt. Deshalb nenne ich es ein Quantum „Wille zur Macht“: damit ist der Charakter ausgedrückt, der aus der mechanischen Ordnung nicht weggedacht werden kann, ohne sie selbst wegzudenken.
Eine Übersetzung dieser Welt von Wirkung in eine sichtbare Welt – eine Welt fürs Auge – ist der Begriff „Bewegung“. Hier ist immer subintelligiert, daß etwas bewegt wird, – hierbei wird, sei es nun in der Fiktion eines Klümpchenatoms oder selbst von dessen Abstraktion, dem dynamischen Atom, immer noch ein Ding gedacht, welches wirkt, – das heißt, wir sind aus der Gewohnheit nicht herausgetreten, zu der uns Sinne und Sprache verleiten. Subjekt, Objekt, ein Täter zum Tun, das Tun und das, was es tut, gesondert: vergessen wir nicht, daß dies eine bloße Semiotik und nichts Reales bezeichnet. Die Mechanik als eine Lehre der Bewegung ist bereits eine Übersetzung in die Sinnensprache des Menschen.
412.
Die „Regelmäßigkeit“ der Aufeinanderfolge ist nur ein bildlicher Ausdruck, wie als ob hier eine Regel befolgt werde, kein Tatbestand. Ebenso „Gesetzmäßigkeit“. Wir finden eine Formel, um eine immer wiederkehrende Art der[Pg 228] Folge auszudrücken: damit haben wir kein „Gesetz“ entdeckt, noch weniger eine Kraft, welche die Ursache zur Wiederkehr von Folgen ist. Daß etwas immer so und so geschieht, wird hier interpretiert, als ob ein Wesen infolge eines Gehorsams gegen ein Gesetz oder einen Gesetzgeber immer so und so handelte: während es, abgesehen vom „Gesetz“, Freiheit hätte, anders zu handeln. Aber gerade jenes So-und-nicht-anders könnte aus dem Wesen selbst stammen, das nicht in Hinsicht erst auf ein Gesetz sich so und so verhielte, sondern als so und so beschaffen. Es heißt nur: etwas kann nicht auch etwas anderes sein, kann nicht bald dies, bald anderes tun, ist weder frei noch unfrei, sondern eben so und so. Der Fehler steckt in der Hineindichtung eines Subjekts.
413.
Zwei aufeinanderfolgende Zustände, der eine „Ursache“, der andere „Wirkung“ – : ist falsch. Der erste Zustand hat nichts zu bewirken, den zweiten hat nichts bewirkt.
Es handelt sich um einen Kampf zweier an Macht ungleichen Elemente: es wird ein Neuarrangement der Kräfte erreicht, je nach dem Maß von Macht eines jeden. Der zweite Zustand ist etwas Grundverschiedenes vom ersten (nicht dessen Wirkung): das Wesentliche ist, daß die im Kampf befindlichen Faktoren mit anderen Machtquanten herauskommen.
414.
Ich hüte mich, von chemischen „Gesetzen“ zu sprechen: das hat einen moralischen Beigeschmack. Es handelt sich vielmehr um eine absolute Feststellung von Machtverhältnissen: das Stärkere wird über das Schwächere Herr, soweit dies eben seinen Grad von Selbständigkeit nicht durchsetzen kann, – hier gibt es kein Erbarmen, keine Schonung, noch weniger eine Achtung vor „Gesetzen“!
415.
Es gibt nichts Unveränderliches in der Chemie: das ist nur Schein, ein bloßes Schulvorurteil. Wir haben das[Pg 229] Unveränderliche eingeschleppt, immer noch aus der Metaphysik, meine Herren Physiker. Es ist ganz naiv von der Oberfläche abgelesen, zu behaupten, daß der Diamant, der Graphit und die Kohle identisch sind. Warum? Bloß weil man keinen Substanzverlust durch die Wage konstatieren kann! Nun gut, damit haben sie noch etwas gemein; aber die Molekülarbeit bei der Verwandlung, die wir nicht sehen und wägen können, macht eben aus dem einen Stoff etwas andres, – mit spezifisch anderen Eigenschaften.
416.
Das „Sein“ – wir haben keine andere Vorstellung davon als „leben“. – Wie kann also etwas Totes „sein“?
2. Die organische Natur.
417.
Eine Vielheit von Kräften, verbunden durch einen gemeinsamen Ernährungsvorgang, heißen wir „Leben“. Zu diesem Ernährungsvorgang, als Mittel seiner Ermöglichung, gehört alles sogenannte Fühlen, Vorstellen, Denken, das heißt 1. ein Widerstreben gegen alle anderen Kräfte; 2. ein Zurechtmachen derselben nach Gestalt und Rhythmus; 3. ein Abschätzen in bezug auf Einverleibung oder Abscheidung.
418.
Die Verbindung des Unorganischen und Organischen muß in der abstoßenden Kraft liegen, welche jedes Kraftatom ausübt. „Leben“ wäre zu definieren als eine dauernde Form von Prozessen der Kraftfeststellungen, wo die verschiedenen Kämpfenden ihrerseits ungleich wachsen. Inwiefern auch im Gehorchen ein Widerstreben liegt; es ist die Eigenmacht durchaus nicht aufgegeben. Ebenso ist im Befehlen ein Zugestehen, daß die absolute Macht des Gegners nicht besiegt ist, nicht einverleibt, aufgelöst. „Gehorchen“ und „Befehlen“ sind Formen des Kampfspiels.
[Pg 230]
419.
Bei der Entstehung der Organismen denkt sich der Mensch zugegen: was ist bei diesem Vorgange mit Augen und Getast wahrzunehmen gewesen? Was ist in Zahlen zu bringen? Welche Regeln zeigen sich in den Bewegungen? Also: der Mensch will alles Geschehen sich als ein Geschehen für Auge und Getast zurechtlegen, folglich als Bewegungen: er will Formeln finden, die ungeheure Masse dieser Erfahrungen zu vereinfachen. Reduktion alles Geschehens auf den Sinnenmenschen und Mathematiker. Es handelt sich um ein Inventarium der menschlichen Erfahrungen: gesetzt, daß der Mensch, oder vielmehr das menschliche Auge und Begriffsvermögen, der ewige Zeuge aller Dinge gewesen sei.
420.
Es gehört zum Begriff des Lebendigen, daß es wachsen muß, – daß es seine Macht erweitern und folglich fremde Kräfte in sich hineinnehmen muß. Man redet, unter der Benebelung durch die Moralnarkose, von einem Recht des Individuums, sich zu verteidigen; im gleichen Sinne dürfte man auch von seinem Rechte anzugreifen reden: denn beides – und das Zweite noch mehr als das Erste – sind Nezessitäten für jedes Lebendige: – der aggressive und der defensive Egoismus sind nicht Sache der Wahl oder gar des „freien Willens“, sondern die Fatalität des Lebens selbst.
Hierbei gilt es gleich, ob man ein Individuum oder einen lebendigen Körper, eine aufwärtsstrebende „Gesellschaft“ ins Auge faßt. Das Recht zur Strafe (oder die gesellschaftliche Selbstverteidigung) ist im Grunde nur durch einen Mißbrauch zum Worte „Recht“ gelangt: ein Recht wird durch Verträge erworben, – aber das Sich-wehren und Sich-verteidigen ruht nicht auf der Basis eines Vertrags. Wenigstens dürfte ein Volk mit ebensoviel gutem Sinn sein Eroberungsbedürfnis, sein Machtgelüst, sei es mit Waffen, sei es durch Handel, Verkehr und Kolonisation, als Recht bezeichnen, – Wachstumsrecht etwa. Eine Gesellschaft, die,[Pg 231] endgültig und ihrem Instinkt nach, den Krieg und die Eroberung abweist, ist im Niedergang: sie ist reif für Demokratie und Krämerregiment.... In den meisten Fällen freilich sind die Friedensversicherungen bloße Betäubungsmittel.
421.
Die Physiologen sollten sich besinnen, den „Erhaltungstrieb“ als einen kardinalen Trieb eines organischen Wesens anzusetzen. Vor allem will etwas Lebendiges seine Kraft auslassen: die „Erhaltung“ ist nur eine der Konsequenzen davon. – Vorsicht vor überflüssigen teleologischen Prinzipien! Und dahin gehört der ganze Begriff „Erhaltungstrieb“.
422.
„Der Wert des Lebens.“ – Das Leben ist ein Einzelfall; man muß alles Dasein rechtfertigen und nicht nur das Leben, – das rechtfertigende Prinzip ist ein solches, aus dem sich das Leben erklärt.
Das Leben ist nur Mittel zu etwas: es ist der Ausdruck von Wachstumsformen der Macht.
423.
Man kann die unterste und ursprünglichste Tätigkeit im Protoplasma nicht aus einem Willen zur Selbsterhaltung ableiten, denn es nimmt auf eine unsinnige Art mehr in sich hinein, als die Erhaltung bedingen würde: und vor allem, es „erhält sich“ damit nicht, sondern zerfällt.... Der Trieb, der hier waltet, hat gerade dieses Sich-nicht-erhalten-wollen zu erklären: „Hunger“ ist schon eine Ausdeutung nach ungleich komplizierteren Organismen (– Hunger ist eine spezialisierte und spätere Form des Triebes, ein Ausdruck der Arbeitsteilung, im Dienst eines darüber waltenden höheren Triebes).
424.
Die Teilung eines Protoplasmas in zwei tritt ein, wenn die Macht nicht mehr ausreicht, den angeeigneten Besitz zu bewältigen: Zeugung ist Folge einer Ohnmacht.
[Pg 232]
Wo die Männchen aus Hunger die Weibchen aufsuchen und in ihnen aufgehen, ist Zeugung die Folge eines Hungers.
425.
Spott über den falschen „Altruismus“ bei den Biologen: die Fortpflanzung bei den Amöben erscheint als Abwerfen des Ballastes, als purer Vorteil. Die Ausstoßung der unbrauchbaren Stoffe.
426.
„Nützlich“ im Sinne der darwinistischen Biologie – das heißt: im Kampf mit anderen sich als begünstigend erweisend. Aber mir scheint schon das Mehrgefühl, das Gefühl des Stärkerwerdens, ganz abgesehen vom Nutzen im Kampf, der eigentliche Fortschritt: aus diesem Gefühle entspringt erst der Wille zum Kampf, –
427.
„Nützlich“ in bezug auf die Beschleunigung des Tempos der Entwicklung ist ein anderes „Nützlich“ als das in bezug auf möglichste Feststellung und Dauerhaftigkeit des Entwickelten.
428.
Gegen den Darwinismus. – Der Nutzen eines Organs erklärt nicht seine Entstehung, im Gegenteil! Die längste Zeit, während deren eine Eigenschaft sich bildet, erhält sie das Individuum nicht und nützt ihm nicht, am wenigsten im Kampf mit äußeren Umständen und Feinden.
Was ist zuletzt „nützlich“? Man muß fragen „in bezug worauf nützlich?“ Zum Beispiel was der Dauer des Individuums nützt, könnte seiner Stärke und Pracht ungünstig sein; was das Individuum erhält, könnte es zugleich festhalten und stillstellen in der Entwicklung. Andererseits kann ein Mangel, eine Entartung vom höchsten Nutzen sein, insofern sie als Stimulans anderer Organe wirkt. Ebenso kann eine Notlage Existenzbedingung sein, insofern sie ein Individuum auf das Maß herunterschraubt, bei dem es zusammenhält und sich nicht vergeudet. – Das Individuum selbst als Kampf der Teile (um Nahrung, Raum[Pg 233] usw.): seine Entwicklung geknüpft an ein Siegen, Vorherrschen einzelner Teile, an ein Verkümmern, „Organwerden“ anderer Teile.
Der Einfluß der „äußeren Umstände“ ist bei Darwin ins Unsinnige überschätzt: das Wesentliche am Lebensprozeß ist gerade die ungeheure gestaltende, von innen her formenschaffende Gewalt, welche die „äußeren Umstände“ ausnützt, ausbeutet.... Die von innen her gebildeten neuen Formen sind nicht auf einen Zweck hin geformt; aber im Kampf der Teile wird eine neue Form nicht lange ohne Beziehung zu einem partiellen Nutzen stehen und dann, dem Gebrauche nach, sich immer vollkommener ausgestalten.
429.
Anti-Darwin. – Was mich beim Überblick über die großen Schicksale des Menschen am meisten überrascht, ist, immer das Gegenteil vor Augen zu sehen von dem, was heute Darwin mit seiner Schule sieht oder sehen will: die Selektion zugunsten der Stärkeren, Besserweggekommenen, den Fortschritt der Gattung. Gerade das Gegenteil greift sich mit Händen: das Durchstreichen der Glücksfälle, die Unnützlichkeit der höher geratenen Typen, das unvermeidliche Herrwerden der mittleren, selbst der unter-mittleren Typen. Gesetzt, daß man uns nicht den Grund aufzeigt, warum der Mensch die Ausnahme unter den Kreaturen ist, neige ich zum Vorurteil, daß die Schule Darwins sich überall getäuscht hat. Jener Wille zur Macht, in dem ich den letzten Grund und Charakter aller Veränderung wiedererkenne, gibt uns das Mittel an die Hand, warum gerade die Selektion zugunsten der Ausnahmen und Glücksfälle nicht statthat: die Stärksten und Glücklichsten sind schwach, wenn sie organisierte Herdeninstinkte, wenn sie die Furchtsamkeit der Schwachen, die Überzahl gegen sich haben. Mein Gesamtaspekt der Welt der Werte zeigt, daß in den obersten Werten, die über der Menschheit heute aufgehängt sind, nicht die Glücksfälle, die Selektionstypen, die Oberhand haben: vielmehr die Typen der décadence, –[Pg 234] vielleicht gibt es nichts Interessanteres in der Welt als dieses unerwünschte Schauspiel....
So seltsam es klingt: man hat die Starken immer zu beweisen gegen die Schwachen; die Glücklichen gegen die Mißglückten; die Gesunden gegen die Verkommenden und Erblich-Belasteten. Will man die Realität zur Moral formulieren, so lautet diese Moral: die Mittleren sind mehr wert als die Ausnahmen; die décadence-Gebilde mehr als die Mittleren; der Wille zum Nichts hat die Oberhand über den Willen zum Leben – und das Gesamtziel ist, nun, christlich, buddhistisch, schopenhauerisch ausgedrückt: „besser nicht sein, als sein“.
Gegen die Formulierung der Realität zur Moral empöre ich mich: deshalb perhorresziere ich das Christentum mit einem tödlichen Haß, weil es die sublimen Worte und Gebärden schuf, um einer schauderhaften Wirklichkeit den Mantel des Rechts, der Tugend, der Göttlichkeit zu geben....
Ich sehe alle Philosophen, ich sehe die Wissenschaft auf den Knien vor der Realität vom umgekehrten Kampf ums Dasein, als ihn die Schule Darwins lehrt, – nämlich ich sehe überall die obenauf, die übrigbleibend, die das Leben, den Wert des Lebens kompromittieren. – Der Irrtum der Schule Darwins wurde mir zum Problem: wie kann man blind sein, um gerade hier falsch zu sehen?
Daß die Gattungen einen Fortschritt darstellen, ist die unvernünftigste Behauptung von der Welt: einstweilen stellen sie ein Niveau dar. Daß die höheren Organismen aus den niederen sich entwickelt hätten, ist durch keinen Fall bisher bezeugt. Ich sehe, daß die niederen durch die Menge, durch die Klugheit, durch die List im Übergewicht sind, – ich sehe nicht, wie eine zufällige Veränderung einen Vorteil abgibt, zum mindesten nicht für eine so lange Zeit: diese wäre wieder ein neues Motiv, zu erklären, warum eine zufällige Veränderung derartig stark geworden ist.
Ich finde die „Grausamkeit der Natur“, von der man so viel redet, an einer andern Stelle: sie ist grausam gegen[Pg 235] ihre Glückskinder, sie schont und schützt und liebt les humbles.
In summa: das Wachstum der Macht einer Gattung ist durch die Präponderanz ihrer Glückskinder, ihrer Starken vielleicht weniger garantiert als durch die Präponderanz der mittleren und niederen Typen.... In letzteren ist die große Fruchtbarkeit, die Dauer; mit ersteren wächst die Gefahr, die rasche Verwüstung, die schnelle Zahlverminderung.
430.
Anti-Darwin. – Die Domestikation des Menschen: welchen definitiven Wert kann sie haben? oder hat überhaupt eine Domestikation einen definitiven Wert? – Man hat Gründe, dies letztere zu leugnen.
Die Schule Darwins macht zwar große Anstrengung, uns zum Gegenteil zu überreden: sie will, daß die Wirkung der Domestikation tief, ja fundamental werden kann. Einstweilen halten wir am Alten fest: es hat sich nichts bisher bewiesen, als eine ganz oberflächliche Wirkung durch Domestikation – oder aber die Degenereszenz. Und alles, was der menschlichen Hand und Züchtung entschlüpft, kehrt fast sofort wieder in seinen Naturzustand zurück. Der Typus bleibt konstant: man kann nicht „dénaturer la nature“.
Man rechnet auf den Kampf um die Existenz, den Tod der schwächlichen Wesen und das Überleben der Robustesten und Bestbegabten; folglich imaginiert man ein beständiges Wachstum der Vollkommenheit für die Wesen. Wir haben uns umgekehrt versichert, daß, in dem Kampf um das Leben, der Zufall den Schwachen so gut dient wie den Starken; daß die List die Kraft oft mit Vorteil sich suppliert; daß die Fruchtbarkeit der Gattungen in einem merkwürdigen Rapport zu den Chancen der Zerstörung steht....
Man teilt der natürlichen Selektion zugleich langsame und unendliche Metamorphosen zu: man will glauben, daß jeder Vorteil sich vererbt und sich in abfolgenden Geschlechtern immer stärker ausdrückt (während die Erblichkeit so kapriziös ist....); man betrachtet die glücklichen Anpassungen gewisser Wesen an sehr besondere Lebensbedin[Pg 236]gungen, und man erklärt, daß sie durch den Einfluß des Milieus erlangt seien.
Man findet aber Beispiele der unbewußten Selektion nirgendswo (ganz und gar nicht). Die disparatesten Individuen einigen sich, die extremen mischen sich in die Masse. Alles konkurriert, seinen Typus aufrechtzuerhalten; Wesen, die äußere Zeichen haben, die sie gegen gewisse Gefahren schützen, verlieren dieselben nicht, wenn sie unter Umstände kommen, wo sie ohne Gefahr leben.... Wenn sie Orte bewohnen, wo das Kleid aufhört, sie zu verbergen, nähern sie sich keineswegs dem Milieu an.
Man hat die Auslese der Schönsten in einer Weise übertrieben, wie sie weit über den Schönheitstrieb unsrer eignen Rasse hinausgeht! Tatsächlich paart sich das Schönste mit sehr enterbten Kreaturen, das Größte mit dem Kleinsten. Fast immer sehen wir Männchen und Weibchen von jeder zufälligen Begegnung profitieren und sich ganz und gar nicht wählerisch zeigen. – Modifikation durch Klima und Nahrung: – aber in Wahrheit absolut gleichgültig.
Es gibt keine Übergangsformen. –
Man behauptet die wachsende Entwicklung der Wesen. Es fehlt jedes Fundament. Jeder Typus hat seine Grenze: über diese hinaus gibt es keine Entwicklung. Bis dahin absolute Regelmäßigkeit.
Meine Gesamtansicht. – Erster Satz: der Mensch als Gattung ist nicht im Fortschritt. Höhere Typen werden wohl erreicht, aber sie halten sich nicht. Das Niveau der Gattung wird nicht gehoben.
Zweiter Satz: der Mensch als Gattung stellt keinen Fortschritt im Vergleich zu irgendeinem andern Tier dar. Die gesamte Tier- und Pflanzenwelt entwickelt sich nicht vom Niederen zum Höheren.... Sondern alles zugleich und übereinander und durcheinander und gegeneinander. Die reichsten und komplexesten Formen – denn mehr besagt das Wort „höherer Typus“ nicht – gehen leichter zugrunde: nur die niedrigsten halten eine scheinbare Unver[Pg 237]gänglichkeit fest. Erstere werden selten erreicht und halten sich mit Not oben: letztere haben eine kompromittierende Fruchtbarkeit für sich. – Auch in der Menschheit gehen unter wechselnder Gunst und Ungunst die höheren Typen, die Glücksfälle der Entwicklung, am leichtesten zugrunde. Sie sind jeder Art von décadence ausgesetzt: sie sind extrem, und damit selbst beinahe schon décadents.... Die kurze Dauer der Schönheit, des Genies, des Cäsar ist sui generis: dergleichen vererbt sich nicht. Der Typus vererbt sich; ein Typus ist nichts Extremes, kein „Glücksfall“.... Das liegt an keinem besonderen Verhängnis und „bösen Willen“ der Natur, sondern einfach am Begriff „höherer Typus“: der höhere Typus stellt eine unvergleichlich größere Komplexität, – eine größere Summe koordinierter Elemente dar: damit wird auch die Disgregation unvergleichlich wahrscheinlicher. Das „Genie“ ist die sublimste Maschine, die es gibt, – folglich die zerbrechlichste.
Dritter Satz: die Domestikation (die „Kultur“) des Menschen geht nicht tief.... Wo sie tief geht, ist sie sofort die Degenereszenz (Typus: der Christ). Der „wilde“ Mensch (oder, moralisch ausgedrückt: der böse Mensch) ist eine Rückkehr zur Natur – und, in gewissem Sinne, seine Wiederherstellung, seine Heilung von der „Kultur“....
431.
Grundirrtümer der bisherigen Biologen: es handelt sich nicht um die Gattung, sondern um stärker auszuwirkende Individuen. (Die vielen sind nur Mittel.)
Das Leben ist nicht Anpassung innerer Bedingungen an äußere, sondern Wille zur Macht, der von innen her immer mehr „Äußeres“ sich unterwirft und einverleibt.
Diese Biologen setzen die moralischen Wertschätzungen fort (– der „an sich höhere Wert des Altruismus“, die Feindschaft gegen die Herrschsucht, gegen den Krieg, gegen die Unnützlichkeit, gegen die Rang- und Ständeordnung).
432.
Die Individuation, vom Standpunkt der Abstammungstheorie beurteilt, zeigt das beständige Zerfallen von[Pg 238] eins in zwei und das ebenso beständige Vergehen der Individuen auf den Gewinn von wenig Individuen, die die Entwicklung fortsetzen: die übergroße Masse stirbt jedesmal ab („der Leib“).
Das Grundphänomen: unzählige Individuen geopfert um weniger willen: als deren Ermöglichung. – Man muß sich nicht täuschen lassen: ganz so steht es mit den Völkern und Rassen: sie bilden den „Leib“ zur Erzeugung von einzelnen wertvollen Individuen, die den großen Prozeß fortsetzen.
433.
Mit der moralischen Herabwürdigung des ego geht auch noch, in der Naturwissenschaft, eine Überschätzung der Gattung Hand in Hand. Aber die Gattung ist etwas ebenso Illusorisches wie das ego: man hat eine falsche Distinktion gemacht. Das ego ist hundertmal mehr als bloß eine Einheit in der Kette von Gliedern; es ist die Kette selbst, ganz und gar; und die Gattung ist eine bloße Abstraktion aus der Vielheit dieser Ketten und deren partieller Ähnlichkeit. Daß, wie so oft behauptet worden ist, das Individuum der Gattung geopfert wird, ist durchaus kein Tatbestand: vielmehr nur das Muster einer fehlerhaften Interpretation.
434.
Gegen die Theorie, daß das einzelne Individuum den Vorteil der Gattung, seiner Nachkommenschaft im Auge hat, auf Unkosten des eigenen Vorteils: das ist nur Schein.
Die ungeheure Wichtigkeit, mit der das Individuum den geschlechtlichen Instinkt nimmt, ist nicht eine Folge von dessen Wichtigkeit für die Gattung, sondern das Zeugen ist die eigentliche Leistung des Individuums und sein höchstes Interesse folglich, seine höchste Machtäußerung (natürlich nicht vom Bewußtsein aus beurteilt, sondern von dem Zentrum der ganzen Individuation).
435.
Der Gesichtspunkt des „Werts“ ist der Gesichtspunkt von Erhaltungs-, Steigerungsbedingungen in Hinsicht[Pg 239] auf komplexe Gebilde von relativer Dauer des Lebens innerhalb des Werdens.
Es gibt keine dauerhaften letzten Einheiten, keine Atome, keine Monaden: auch hier ist „das Seiende“ erst von uns hineingelegt (aus praktischen, nützlichen, perspektivischen Gründen).
„Herrschaftsgebilde“; die Sphäre des Beherrschenden fortwährend wachsend oder unter der Gunst und Ungunst der Umstände (der Ernährung –) periodisch abnehmend, zunehmend.
„Wert“ ist wesentlich der Gesichtspunkt für das Zunehmen oder Abnehmen dieser herrschaftlichen Zentren („Vielheiten“ jedenfalls; aber die „Einheit“ ist in der Natur des Werdens gar nicht vorhanden).
Die Ausdrucksmittel der Sprache sind unbrauchbar, um das „Werden“ auszudrücken: es gehört zu unserm unablöslichen Bedürfnis der Erhaltung, beständig eine gröbere Welt von Bleibendem, von „Dingen“ usw. zu setzen. Relativ dürfen wir von Atomen und Monaden reden: und gewiß ist, daß die kleinste Welt an Dauer die dauerhafteste ist.... Es gibt keinen Willen: es gibt Willenspunktationen, die beständig ihre Macht mehren oder verlieren.
3. Der Mensch als Naturwesen.
436.
Der Mensch.
Am Leitfaden des Leibes. – Gesetzt, daß die „Seele“ ein anziehender und geheimnisvoller Gedanke war, von dem sich die Philosophen mit Recht nur widerstrebend getrennt haben – vielleicht ist das, was sie nunmehr dagegen einzutauschen lernen, noch anziehender, noch geheimnisvoller. Der menschliche Leib, an dem die ganze fernste und nächste Vergangenheit alles organischen Werdens wieder lebendig und leibhaft wird, durch den hindurch, über den hinweg und hinaus ein ungeheurer, unhörbarer Strom zu[Pg 240] fließen scheint: der Leib ist ein erstaunlicherer Gedanke als die alte „Seele“. Es ist zu allen Zeiten besser an den Leib als an unseren eigentlichsten Besitz, unser gewissestes Sein, kurz, unser ego geglaubt worden als an den Geist (oder die „Seele“ oder das Subjekt, wie die Schulsprache jetzt statt Seele sagt). Niemand kam je auf den Einfall, seinen Magen als einen fremden, etwa einen göttlichen Magen zu verstehen: aber seine Gedanken als „eingegeben“, seine Wertschätzungen als „von einem Gott eingeblasen“, seine Instinkte als Tätigkeit im Dämmern zu fassen – für diesen Hang und Geschmack des Menschen gibt es aus allen Altern der Menschheit Zeugnisse. Noch jetzt ist, namentlich unter Künstlern, eine Art Verwunderung und ehrerbietiges Aushängen der Entscheidung reichlich vorzufinden, wenn sich ihnen die Frage vorlegt, wodurch ihnen der beste Wurf gelungen und aus welcher Welt ihnen der schöpferische Gedanke gekommen ist: sie haben, wenn sie dergestalt fragen, etwas wie Unschuld und kindliche Scham dabei, sie wagen es kaum zu sagen, „das kam von mir, das war meine Hand, die die Würfel warf“. – Umgekehrt haben selbst jene Philosophen und Religiösen, welche den zwingendsten Grund in ihrer Logik und Frömmigkeit hatten, ihr Leibliches als Täuschung (und zwar als überwundene und abgetane Täuschung) zu nehmen, nicht umhin gekonnt, die dumme Tatsächlichkeit anzuerkennen, daß der Leib nicht davon gegangen ist: worüber die seltsamsten Zeugnisse teils bei Paulus, teils in der Vedânta-Philosophie zu finden sind. Aber was bedeutet zuletzt Stärke des Glaubens? Deshalb könnte es immer noch ein sehr dummer Glaube sein! – Hier ist nachzudenken: –
Und zuletzt, wenn der Glaube an den Leib nur die Folge eines Schlusses ist: gesetzt, es wäre ein falscher Schluß, wie die Idealisten behaupten, ist es nicht ein Fragezeichen an der Glaubwürdigkeit des Geistes selber, daß er dergestalt die Ursache falscher Schlüsse ist? Gesetzt, die Vielheit und Raum und Zeit und Bewegung (und was alles die Voraussetzungen eines Glaubens an Leiblichkeit sein mögen)[Pg 241] wären Irrtümer – welches Mißtrauen würde dies gegen den Geist erregen, der uns zu solchen Voraussetzungen veranlaßt hat? Genug, der Glaube an den Leib ist einstweilen immer noch ein stärkerer Glaube als der Glaube an den Geist; und wer ihn untergraben will, untergräbt eben damit am gründlichsten auch den Glauben an die Autorität des Geistes!
437.
Der Leib als Herrschaftsgebilde.
Die Aristokratie im Leibe, die Mehrheit der Herrschenden (Kampf der Zellen und Gewebe).
Die Sklaverei und die Arbeitsteilung: der höhere Typus nur möglich durch Herunterdrückung eines niederen auf eine Funktion.
Lust und Schmerz kein Gegensatz. Das Gefühl der Macht.
„Ernährung“ nur eine Konsequenz der unersättlichen Aneignung, des Willens zur Macht.
Die „Zeugung“, der Zerfall, eintretend bei der Ohnmacht der herrschenden Zellen, das Angeeignete zu organisieren.
Die gestaltende Kraft ist es, die immer neuen „Stoff“ (noch mehr „Kraft“) vorrätig haben will. Das Meisterstück des Aufbaus eines Organismus aus dem Ei.
„Mechanistische Auffassung“: will nichts als Quantitäten: aber die Kraft steckt in der Qualität. Die Mechanistik kann also nur Vorgänge beschreiben, nicht erklären.
Der „Zweck“. Auszugehen von der „Sagazität“ der Pflanzen.
Begriff der „Vervollkommnung“: nicht nur größere Kompliziertheit, sondern größere Macht (– braucht nicht nur größere Masse zu sein –).
Schluß auf die Entwicklung der Menschheit: die Vervollkommnung besteht in der Hervorbringung der mächtigsten Individuen, zu deren Werkzeug die größte Menge gemacht wird (und zwar als intelligentestes und beweglichstes Werkzeug).
[Pg 242]
438.
In der ungeheuren Vielheit des Geschehens innerhalb eines Organismus ist der uns bewußt werdende Teil ein bloßes Mittel: und das bißchen „Tugend“, „Selbstlosigkeit“ und ähnliche Fiktionen werden auf eine vollkommen radikale Weise vom übrigen Gesamtgeschehen aus Lügen gestraft. Wir tun gut, unseren Organismus in seiner vollkommenen Unmoralität zu studieren....
Die animalischen Funktionen sind ja prinzipiell millionenfach wichtiger als alle schönen Zustände und Bewußtseinshöhen: letztere sind ein Überschuß, soweit sie nicht Werkzeuge sein müssen für jene animalischen Funktionen. Das ganze bewußte Leben, der Geist samt der Seele, samt dem Herzen, samt der Güte, samt der Tugend: in wessen Dienst arbeitet es denn? In dem möglichster Vervollkommnung der Mittel (Ernährungs-, Steigerungsmittel) der animalischen Grundfunktionen: vor allem der Lebenssteigerung.
Es liegt so unsäglich viel mehr an dem, was man „Leib“ und „Fleisch“ nannte: der Rest ist ein kleines Zubehör. Die Aufgabe, die ganze Kette des Lebens fortzuspinnen, und so, daß der Faden immer mächtiger wird – das ist die Aufgabe.
Aber nun sehe man, wie Herz, Seele, Tugend, Geist förmlich sich verschwören, diese prinzipielle Aufgabe zu verkehren: wie als ob sie die Ziele wären!.... Die Entartung des Lebens ist wesentlich bedingt durch die außerordentliche Irrtumsfähigkeit des Bewußtseins: es wird am wenigsten durch Instinkte in Zaum gehalten und vergreift sich deshalb am längsten und gründlichsten.
Nach den angenehmen und unangenehmen Gefühlen dieses Bewußtseins abmessen, ob das Dasein Wert hat: kann man sich eine tollere Ausschweifung der Eitelkeit denken? Es ist ja nur ein Mittel: – und angenehme oder unangenehme Gefühle sind ja auch nur Mittel!
Woran mißt sich objektiv der Wert? Allein an dem Quantum gesteigerter und organisierter Macht....
[Pg 243]
439.
Die normale Unbefriedigung unsrer Triebe, zum Beispiel des Hungers, des Geschlechtstriebs, des Bewegungstriebs, enthält in sich durchaus noch nichts Herabstimmendes; sie wirkt vielmehr agazierend auf das Lebensgefühl, wie jeder Rhythmus von kleinen, schmerzhaften Reizen es stärkt, was auch die Pessimisten uns vorreden mögen. Diese Unbefriedigung, statt das Leben zu verleiden, ist das große Stimulans des Lebens.
(Man könnte vielleicht die Lust überhaupt bezeichnen als einen Rhythmus kleiner Unlustreize.)
440.
Der Schmerz ist etwas anderes als die Lust, – ich will sagen, er ist nicht deren Gegenteil.
Wenn das Wesen der „Lust“ zutreffend bezeichnet worden ist als ein Plusgefühl von Macht (somit als ein Differenzgefühl, das die Vergleichung voraussetzt), so ist damit das Wesen der „Unlust“ noch nicht definiert. Die falschen Gegensätze, an die das Volk und folglich die Sprache glaubt, sind immer gefährliche Fußfesseln für den Gang der Wahrheit gewesen. Es gibt sogar Fälle, wo eine Art Lust bedingt ist durch eine gewisse rhythmische Abfolge kleiner Unlustreize: damit wird ein sehr schnelles Anwachsen des Machtgefühls, des Lustgefühls erreicht. Dies ist der Fall zum Beispiel beim Kitzel, auch beim geschlechtlichen Kitzel im Akt des Coitus: wir sehen dergestalt die Unlust als Ingrediens der Lust tätig. Es scheint, eine kleine Hemmung, die überwunden wird und der sofort wieder eine kleine Hemmung folgt, die wieder überwunden wird – dieses Spiel von Widerstand und Sieg regt jenes Gesamtgefühl von überschüssiger, überflüssiger Macht am stärksten an, das das Wesen der Lust ausmacht.
Die Umkehrung, eine Vermehrung der Schmerzempfindung durch kleine eingeschobene Lustreize, fehlt: Lust und Schmerz sind eben nichts Umgekehrtes.
Der Schmerz ist ein intellektueller Vorgang, in dem[Pg 244] entschieden ein Urteil laut wird, – das Urteil „schädlich“, in dem sich lange Erfahrung aufsummiert hat. An sich gibt es keinen Schmerz. Es ist nicht die Verwundung, die weh tut; es ist die Erfahrung, von welchen schlimmen Folgen eine Verwundung für den Gesamtorganismus sein kann, welche in Gestalt jener tiefen Erschütterung redet, die Unlust heißt (bei schädigenden Einflüssen, welche der älteren Menschheit unbekannt geblieben sind, zum Beispiel von seiten neu kombinierter giftiger Chemikalien, fehlt auch die Aussage des Schmerzes, – und wir sind verloren).
Im Schmerz ist das eigentlich Spezifische immer die lange Erschütterung, das Nachzittern eines schreckenerregenden Choks im zerebralen Herde des Nervensystems: – man leidet eigentlich nicht an der Ursache des Schmerzes (irgendeiner Verletzung zum Beispiel), sondern an der langen Gleichgewichtsstörung, welche infolge jenes Choks eintritt. Der Schmerz ist eine Krankheit der zerebralen Nervenherde, die Lust ist durchaus keine Krankheit.
Daß der Schmerz die Ursache ist zu Gegenbewegungen hat zwar den Augenschein und sogar das Philosophenvorurteil für sich; aber in plötzlichen Fällen kommt, wenn man genau beobachtet, die Gegenbewegung ersichtlich früher als die Schmerzempfindung. Es stünde schlimm um mich, wenn ich bei einem Fehltritt zu warten hätte, bis das Faktum an die Glocke des Bewußtseins schlüge und ein Wink, was zu tun ist, zurücktelegraphiert würde. Vielmehr unterscheide ich so deutlich als möglich, daß erst die Gegenbewegung des Fußes, um den Fall zu verhüten, folgt und dann in einer meßbaren Zeitdistanz eine Art schmerzhafter Welle plötzlich im vordern Kopf fühlbar wird. Man reagiert also nicht auf den Schmerz. Der Schmerz wird nachher projiziert in die verwundete Stelle: – aber das Wesen dieses Lokalschmerzes ist trotzdem nicht der Ausdruck der Art der Lokalverwundung; er ist ein bloßes Ortszeichen, dessen Stärke und Tonart der Verwundung gemäß ist, welche die Nervenzentren davon empfangen haben. Daß infolge jenes Choks die Muskelkraft des Organismus meßbar heruntergeht, gibt durch[Pg 245]aus noch keinen Anhalt dafür, das Wesen des Schmerzes in einer Verminderung des Machtgefühls zu suchen.
Man reagiert, nochmals gesagt, nicht auf den Schmerz: die Unlust ist keine „Ursache“ von Handlungen. Der Schmerz selbst ist eine Reaktion, die Gegenbewegung ist eine andre und frühere Reaktion, – beide nehmen von verschiedenen Stellen ihren Ausgangspunkt....
441.
Man hat die Unlust verwechselt mit einer Art der Unlust, mit der der Erschöpfung; letztere stellt in der Tat eine tiefe Verminderung und Herabstimmung des Willens zur Macht, eine meßbare Einbuße an Kraft dar. Das will sagen: es gibt a) Unlust als Reizmittel zur Verstärkung der Macht, und b) Unlust nach einer Vergeudung von Macht; im ersteren Falle ein stimulus, im letztern die Folge einer übermäßigen Reizung.... Die Unfähigkeit zum Widerstand ist der letzteren Unlust zu eigen: die Herausforderung des Widerstehenden gehört zur ersteren.... Die Lust, welche im Zustand der Erschöpfung allein noch empfunden wird, ist das Einschlafen; die Lust im andern Falle ist der Sieg....
Die große Verwechslung der Psychologen bestand darin, daß sie diese beiden Lustarten – die des Einschlafens und die des Sieges – nicht auseinanderhielten. Die Erschöpften wollen Ruhe, Gliederausstrecken, Frieden, Stille, – es ist das Glück der nihilistischen Religionen und Philosophien; die Reichen und Lebendigen wollen Sieg, überwundene Gegner, Überströmen des Machtgefühls über weitere Bereiche als bisher. Alle gesunden Funktionen des Organismus haben dies Bedürfnis, – und der ganze Organismus ist ein solcher nach Wachstum von Machtgefühlen ringender Komplex von Systemen – – –
442.
Intellektualität des Schmerzes: er bezeichnet nicht an sich, was augenblicklich geschädigt ist, sondern welchen Wert die Schädigung hat in Hinsicht auf das allgemeine Individuum.
[Pg 246]
Ob es Schmerzen gibt, in denen „die Gattung“ und nicht das Individuum leidet –?
443.
„Die Summe der Unlust überwiegt die Summe der Lust: folglich wäre das Nichtsein der Welt besser als deren Sein“ – „Die Welt ist etwas, das vernünftigerweise nicht wäre, weil sie dem empfindenden Subjekt mehr Unlust als Lust verursacht“ – dergleichen Geschwätz heißt sich heute Pessimismus!
Lust und Unlust sind Nebensachen, keine Ursachen; es sind Werturteile zweiten Ranges, die sich erst ableiten von einem regierenden Wert, – ein in Form des Gefühls redendes „nützlich“, „schädlich“, und folglich absolut flüchtig und abhängig. Denn bei jedem „nützlich“, „schädlich“ sind immer noch hundert verschiedene Wozu? zu fragen.
Ich verachte diesen Pessimismus der Sensibilität: er ist selbst ein Zeichen tiefer Verarmung am Leben.
444.
Wie kommt es, daß die Grundglaubensartikel in der Psychologie allesamt die ärgsten Verdrehungen und Falschmünzereien sind? „Der Mensch strebt nach Glück“ zum Beispiel – was ist daran wahr? Um zu verstehen, was „Leben“ ist, welche Art Streben und Spannung Leben ist, muß die Formel so gut von Baum und Pflanze als vom Tier gelten. „Wonach strebt die Pflanze?“ – aber hier haben wir bereits eine falsche Einheit erdichtet, die es nicht gibt: die Tatsache eines millionenfachen Wachstums mit eigenen und halbeigenen Initiativen ist versteckt und verleugnet, wenn wir eine plumpe Einheit „Pflanze“ voranstellen. Daß die letzten kleinsten „Individuen“ nicht in dem Sinn eines „metaphysischen Individuums“ und Atoms verständlich sind, daß ihre Machtsphäre fortwährend sich verschiebt – das ist zu allererst sichtbar: aber strebt ein jedes von ihnen, wenn es sich dergestalt verändert, nach Glück? – Aber alles Sichausbreiten, Einverleiben, Wachsen ist ein Anstreben gegen Widerstehendes; Bewegung ist essentiell[Pg 247] etwas mit Unlustzuständen Verbundenes: es muß das, was hier treibt, jedenfalls etwas anderes wollen, wenn es dergestalt die Unlust will und fortwährend aufsucht. – Worum kämpfen die Bäume eines Urwaldes miteinander? Um „Glück“? – Um Macht!....
Der Mensch, Herr über die Naturgewalten geworden, Herr über seine eigene Wildheit und Zügellosigkeit (die Begierden haben folgen, haben nützlich sein gelernt) – der Mensch, im Vergleich zu einem Vormenschen, stellt ein ungeheures Quantum Macht dar, – nicht ein Plus von „Glück“! Wie kann man behaupten, daß er nach Glück gestrebt habe?....
445.
Der Glaube an „Affekte“. – Affekte sind eine Konstruktion des Intellekts, eine Erdichtung von Ursachen, die es nicht gibt. Alle körperlichen Gemeingefühle, die wir nicht verstehen, werden intellektuell ausgedeutet, das heißt ein Grund gesucht, um sich so oder so zu fühlen, in Personen, Erlebnissen usw. Also etwas Nachteiliges, Gefährliches, Fremdes wird gesetzt, als wäre es die Ursache unserer Verstimmung; tatsächlich wird es zu der Verstimmung hinzugesucht, um der Denkbarkeit unseres Zustandes willen. – Häufige Blutzuströmungen zum Gehirn mit dem Gefühl des Erstickens werden als „Zorn“ interpretiert: die Personen und Sachen, die uns zum Zorn reizen, sind Auslösungen für den physiologischen Zustand. – Nachträglich, in langer Gewöhnung, sind gewisse Vorgänge und Gemeingefühle sich so regelmäßig verbunden, daß der Anblick gewisser Vorgänge jenen Zustand des Gemeingefühls hervorbringt und speziell irgend jene Blutstauung, Samenerzeugung usw. mit sich bringt: also durch die Nachbarschaft. „Der Affekt wird erregt“, sagen wir dann.
In „Lust“ und „Unlust“ stecken bereits Urteile: die Reize werden unterschieden, ob sie dem Machtgefühl förderlich sind oder nicht.
Der Glaube an das Wollen. Es ist Wunderglaube, einen Gedanken als Ursache einer mechanischen Bewegung[Pg 248] zu setzen. Die Konsequenz der Wissenschaft verlangt, daß, nachdem wir die Welt in Bildern uns denkbar gemacht haben, wir auch die Affekte, Begehrungen, Willen usw. uns denkbar machen, das heißt sie leugnen und als Irrtümer des Intellekts behandeln.
446.
Wenn wir etwas tun, so entsteht ein Kraftgefühl, oft schon vor dem Tun, bei der Vorstellung des zu Tuenden (wie beim Anblick eines Feindes, eines Hemmnisses, dem wir uns gewachsen glauben): immer begleitend. Wir meinen instinktiv, dies Kraftgefühl sei Ursache der Handlung, es sei „die Kraft“. Unser Glaube an Kausalität ist der Glaube an Kraft und deren Wirkung; eine Übertragung unsres Erlebnisses: wobei wir Kraft und Kraftgefühl identifizieren. – Nirgends aber bewegt die Kraft die Dinge; die empfundene Kraft „setzt nicht die Muskeln in Bewegung“. „Wir haben von einem solchen Prozeß keine Vorstellung, keine Erfahrung.“ „Wir erfahren ebensowenig wie die Kraft als Bewegendes die Notwendigkeit einer Bewegung.“ Die Kraft soll das Zwingende sein! „Wir erfahren nur, daß eins auf das andre folgt, – weder Zwang erfahren wir, noch Willkür, daß eins auf das andre folgt.“ Die Kausalität wird erst durch die Hineindenkung des Zwanges in den Folgenvorgang geschaffen. Ein gewisses „Begreifen“ entsteht dadurch, das heißt, wir haben uns den Vorgang angemenschlicht, „bekannter“ gemacht: das Bekannte ist das Gewohnheitsbekannte des mit Kraftgefühl verbundenen menschlichen Erzwingens.
447.
Ich habe die Absicht, meinen Arm auszustrecken; angenommen, ich weiß so wenig von Physiologie des menschlichen Leibes und von den mechanischen Gesetzen seiner Bewegung als ein Mann aus dem Volke, was gibt es eigentlich Vageres, Blasseres, Ungewisseres als diese Absicht im Vergleich zu dem, was darauf geschieht? Und gesetzt, ich sei der scharfsinnigste Mechaniker und speziell über die For[Pg 249]meln unterrichtet, die hierbei angewendet werden, so würde ich um keinen Deut besser oder schlechter meinen Arm ausstrecken. Unser „Wissen“ und unser „Tun“ in diesem Falle liegen kalt auseinander: als in zwei verschiedenen Reichen. – Andererseits: Napoleon führt den Plan eines Feldzuges durch – was heißt das? Hier ist alles gewußt, was zur Durchführung des Planes gehört, weil alles befohlen werden muß: aber auch hier sind Untergebene vorausgesetzt, welche das Allgemeine auslegen, anpassen an die Not des Augenblicks, Maß der Kraft usw.
448.
Die Wissenschaft fragt nicht, was uns zum Wollen trieb: sie leugnet vielmehr, daß gewollt worden ist, und meint, daß etwas ganz anderes geschehen sei – kurz, daß der Glaube an „Wille“ und „Zweck“ eine Illusion sei. Sie fragt nicht nach den Motiven der Handlung, als ob diese uns vor der Handlung im Bewußtsein gewesen wären: sondern sie zerlegt erst die Handlung in eine mechanische Gruppe von Erscheinungen und sucht die Vorgeschichte dieser mechanischen Bewegung – aber nicht im Fühlen, Empfinden, Denken. Daher kann sie nie die Erklärung geben: die Empfindung ist ja eben ihr Material, das erklärt werden soll. – Ihr Problem ist eben: die Welt zu erklären, ohne zu Empfindungen als Ursache zu greifen: denn das hieße ja: als Ursache der Empfindungen die Empfindungen ansehen. Ihre Aufgabe ist schlechterdings nicht gelöst.
Also: entweder kein Wille – die Hypothese der Wissenschaft –, oder freier Wille. Letztere Annahme das herrschende Gefühl, von dem wir uns nicht losmachen können, auch wenn die Hypothese bewiesen wäre.
Der populäre Glaube an Ursache und Wirkung ist auf die Voraussetzung gebaut, daß der freie Wille Ursache sei von jeder Wirkung: erst daher haben wir das Gefühl der Kausalität. Also darin liegt auch das Gefühl, daß jede Ursache nicht Wirkung ist, sondern immer erst Ursache – wenn der[Pg 250] Wille die Ursache ist. „Unsre Willensakte sind nicht notwendig“ – das liegt im Begriff „Wille“. Notwendig ist die Wirkung nach der Ursache – so fühlen wir. Es ist eine Hypothese, daß auch unser Wollen in jedem Falle ein Müssen sei.
449.
Unfreiheit oder Freiheit des Willens? – Es gibt keinen „Willen“: das ist nur eine vereinfachende Konzeption des Verstandes, wie „Materie“.
Alle Handlungen müssen erst mechanisch als möglich vorbereitet sein, bevor sie gewollt werden. Oder: der „Zweck“ tritt im Gehirn zumeist erst auf, wenn alles vorbereitet ist zu seiner Ausführung. Der Zweck ein „innerer“ „Reiz“ – nicht mehr.
450.
Wir haben von alters her den Wert einer Handlung, eines Charakters, eines Daseins in die Absicht gelegt, in den Zweck, um dessentwillen getan, gehandelt, gelebt worden ist: diese uralte Idiosynkrasie des Geschmacks nimmt endlich eine gefährliche Wendung, – gesetzt nämlich, daß die Absichts- und Zwecklosigkeit des Geschehens immer mehr in den Vordergrund des Bewußtseins tritt. Damit scheint eine allgemeine Entwertung sich vorzubereiten: „Alles hat keinen Sinn“, – diese melancholische Sentenz heißt „aller Sinn liegt in der Absicht, und gesetzt, daß die Absicht ganz und gar fehlt, so fehlt auch ganz und gar der Sinn“. Man war jener Schätzung gemäß genötigt gewesen, den Wert des Lebens in ein „Leben nach dem Tode“ zu verlegen, oder in die fortschreitende Entwicklung der Ideen oder der Menschheit oder des Volkes oder über den Menschen weg; aber damit war man in den Zweck – progressus in infinitum gekommen: man hatte endlich nötig, sich einen Platz in dem „Weltprozeß“ auszumachen (mit der dysdämonistischen Perspektive vielleicht, daß es der Prozeß ins Nichts sei).
Dem gegenüber bedarf der „Zweck“ einer strengeren Kritik: man muß einsehen, daß eine Handlung niemals[Pg 251] verursacht wird durch einen Zweck; daß Zweck und Mittel Auslegungen sind, wobei gewisse Punkte eines Geschehens unterstrichen und herausgewählt werden, auf Unkosten anderer, und zwar der meisten; daß jedesmal, wenn etwas auf einen Zweck hin getan wird, etwas Grundverschiedenes und andres geschieht; daß in bezug auf jede Zweckhandlung es so steht, wie mit der angeblichen Zweckmäßigkeit der Hitze, welche die Sonne ausstrahlt: die übergroße Masse ist verschwendet; ein kaum in Rechnung kommender Teil hat „Zweck“, hat „Sinn“ –; daß ein „Zweck“ mit seinen „Mitteln“ eine unbeschreiblich unbestimmte Zeichnung ist, welche als Vorschrift, als „Wille“ zwar kommandieren kann, aber ein System von gehorchenden und eingeschulten Werkzeugen voraussetzt, welche an Stelle des Unbestimmten lauter feste Größen setzen (das heißt, wir imaginieren ein System von zweck- und mittelsetzenden klügeren, aber engeren Intellekten, um unserm einzig bekannten „Zweck“ die Rolle der „Ursache einer Handlung“ zumessen zu können, wozu wir eigentlich kein Recht haben: es hieße, um ein Problem zu lösen, die Lösung des Problems in eine unserer Beobachtung unzugängliche Welt hineinstellen –).
Zuletzt: warum könnte nicht „ein Zweck“ eine Begleiterscheinung sein, in der Reihe von Veränderungen wirkender Kräfte, welche die zweckmäßige Handlung hervorrufen – ein in das Bewußtsein vorausgeworfenes blasses Zeichenbild, das uns zur Orientierung dient dessen, was geschieht, als ein Symptom selbst vom Geschehen, nicht als dessen Ursache? – Aber damit haben wir den Willen selbst kritisiert: ist es nicht eine Illusion, das, was im Bewußtsein als Willensakt auftaucht, als Ursache zu nehmen? Sind nicht alle Bewußtseinserscheinungen nur Enderscheinungen, letzte Glieder einer Kette, aber scheinbar in ihrem Hintereinander innerhalb einer Bewußtseinsfläche sich bedingend? Dies könnte eine Illusion sein. –
451.
Die nächste Vorgeschichte einer Handlung bezieht sich auf diese: aber weiter zurück liegt eine Vorgeschichte, die[Pg 252] weiter hinaus deutet: die einzelne Handlung ist zugleich ein Glied einer viel umfänglicheren späteren Tatsache. Die kürzeren und die längeren Prozesse sind nicht getrennt –
452.
Theorie des Zufalls. Die Seele ein auslesendes und sich nährendes Wesen äußerst klug und schöpferisch fortwährend (diese schaffende Kraft gewöhnlich übersehen! nur als „passiv“ begriffen).
Ich erkannte die aktive Kraft, das Schaffende inmitten des Zufälligen: – Zufall ist selber nur das Aufeinanderstoßen der schaffenden Impulse.
453.
Die überschüssige Kraft in der Geistigkeit, sich selbst neue Ziele stellend; durchaus nicht bloß als befehlend und führend für die niedere Welt oder für die Erhaltung des Organismus, des „Individuums“.
Wir sind mehr als das Individuum: wir sind die ganze Kette noch, mit den Aufgaben aller Zukünfte der Kette.
454.
Der bisherige Mensch – gleichsam ein Embryo des Menschen der Zukunft; – alle gestaltenden Kräfte, die auf diesen hinzielen, sind in ihm: und weil sie ungeheuer sind, so entsteht für das jetzige Individuum, je mehr es zukunftsbestimmend ist, Leiden. Dies ist die tiefste Auffassung des Leidens: die gestaltenden Kräfte stoßen sich. – Die Vereinzelung des Individuums darf nicht täuschen – in Wahrheit fließt etwas fort unter den Individuen. Daß es sich einzeln fühlt, ist der mächtigste Stachel im Prozesse selber nach fernsten Zielen hin: sein Suchen für sein Glück ist das Mittel, welches die gestaltenden Kräfte andrerseits zusammenhält und mäßigt, daß sie sich nicht selber zerstören.
[Pg 253]
IV. Die Gesellschaft – ein Machtwille.
1. Der Mensch als geselliges Wesen.
455.
Das „Ich“ unterjocht und tötet: es arbeitet wie eine organische Zelle: es raubt und ist gewalttätig. Es will sich regenerieren – Schwangerschaft. Es will seinen Gott gebären und alle Menschheit ihm zu Füßen sehen.
456.
Das Individuum ist etwas ganz Neues und Neuschaffendes, etwas Absolutes, alle Handlungen ganz sein eigen.
Die Werte für seine Handlungen entnimmt der Einzelne zuletzt doch sich selber: weil er auch die überlieferten Worte sich ganz individuell deuten muß. Die Auslegung der Formel ist mindestens persönlich, wenn er auch keine Formel schafft: als Ausleger ist er immer noch schaffend.
457.
Jedes Lebendige greift so weit um sich mit seiner Kraft, als es kann und unterwirft sich das Schwächere: so hat es seinen Genuß an sich. Die zunehmende „Vermenschlichung“ in dieser Tendenz besteht darin, daß immer feiner empfunden wird, wie schwer der andere wirklich einzuverleiben ist: wie die grobe Schädigung zwar unsre Macht über ihn zeigt, zugleich aber seinen Willen uns noch mehr entfremdet, – also ihn weniger unterwerfbar macht.
458.
Der Individualismus ist eine bescheidene und noch unbewußte Art des „Willens zur Macht“; hier scheint es dem Einzelnen schon genug, freizukommen von einer Übermacht der Gesellschaft (sei es des Staates oder der Kirche). Er setzt sich nicht als Person in Gegensatz, sondern bloß als Einzelner; er vertritt alle Einzelnen gegen die Gesamtheit. Das heißt: er setzt sich instinktiv gleich an[Pg 254] mit jedem Einzelnen; was er erkämpft, das erkämpft er nicht sich als Person, sondern sich als Vertreter Einzelner gegen die Gesamtheit.
Der Sozialismus ist bloß ein Agitationsmittel des Individualismus: er begreift, daß man sich, um etwas zu erreichen, zu einer Gesamtaktion organisieren muß, zu einer „Macht“. Aber was er will, ist nicht die Sozietät als Zweck des Einzelnen, sondern die Sozietät als Mittel zur Ermöglichung vieler Einzelnen: – das ist der Instinkt der Sozialisten, über den sie sich häufig betrügen (– abgesehen, daß sie, um sich durchzusetzen, häufig betrügen müssen). Die altruistische Moralpredigt im Dienste des Individualegoismus: eine der gewöhnlichsten Falschheiten des neunzehnten Jahrhunderts.
Der Anarchismus ist wiederum bloß ein Agitationsmittel des Sozialismus; mit ihm erregt er Furcht, mit der Furcht beginnt er zu faszinieren und zu terrorisieren: vor allem – er zieht die Mutigen, die Gewagten auf seine Seite, selbst noch im Geistigsten.
Trotz alledem: der Individualismus ist die bescheidenste Stufe des Willens zur Macht.
Hat man eine gewisse Unabhängigkeit erreicht, so will man mehr: es tritt die Sonderung heraus nach dem Grade der Kraft: der Einzelne setzt sich nicht ohne weiteres mehr gleich, sondern er sucht nach seinesgleichen, – er hebt andere von sich ab. Auf den Individualismus folgt die Glieder- und Organbildung: die verwandten Tendenzen sich zusammenstellend und sich als Macht betätigend: zwischen diesen Machtzentren Reibung, Krieg, Erkenntnis beiderseitiger Kräfte, Ausgleichung, Annäherung, Festsetzung von Austausch der Leistungen. Am Schluß: eine Rangordnung.
Rekapitulation:
1. Die Individuen machen sich frei;
2. sie treten in Kampf, sie kommen über „Gleichheit der Rechte“ überein (– „Gerechtigkeit“ als Ziel –);
[Pg 255]
3. ist das erreicht, so treten die tatsächlichen Ungleichheiten der Kraft in eine vergrößerte Wirkung (weil im großen ganzen der Friede herrscht und viele kleine Kraftquanta schon Differenzen ausmachen, solche, die früher fast gleich null waren). Jetzt organisieren sich die Einzelnen zu Gruppen; die Gruppen streben nach Vorrechten und nach Übergewicht. Der Kampf, in milderer Form, tobt von neuem.
Man will Freiheit, solange man noch nicht die Macht hat. Hat man sie, will man Übermacht; erringt man sie nicht (ist man noch zu schwach zu ihr), will man „Gerechtigkeit“, das heißt gleiche Macht.
459.
Welcher Grad von Widerstand beständig überwunden werden muß, um obenauf zu bleiben, das ist das Maß der Freiheit, sei es für Einzelne, sei es für Gesellschaften: Freiheit nämlich als positive Macht, als Wille zur Macht angesetzt. Die höchste Form der Individualfreiheit, der Souveränität wüchse demnach mit großer Wahrscheinlichkeit nicht fünf Schritt weit von ihrem Gegensatze auf, dort wo die Gefahr der Sklaverei gleich hundert Damoklesschwertern über dem Dasein hängt. Man gehe daraufhin durch die Geschichte: die Zeiten, wo das „Individuum“ bis zu jener Vollkommenheit reif, das heißt frei wird, wo der klassische Typus des souveränen Menschen erreicht ist: o nein! das waren niemals humane Zeiten!
Man muß keine Wahl haben: entweder obenauf – oder unten, wie ein Wurm, verhöhnt, vernichtet, zertreten. Man muß Tyrannen gegen sich haben, um Tyrann, das heißt frei zu werden. Es ist kein kleiner Vorteil, hundert Damoklesschwerter über sich zu haben: damit lernt man tanzen, damit kommt man zur „Freiheit der Bewegung“.
460.
Unsre neue „Freiheit“. – Welches Freiheitsgefühl liegt darin, zu empfinden, wie wir befreiten Geister empfinden, daß wir nicht in ein System von „Zwecken“ eingespannt[Pg 256] sind! Insgleichen, daß der Begriff „Lohn“ und „Strafe“ nicht im Wesen des Daseins seinen Sitz hat! Insgleichen, daß die gute und die böse Handlung nicht an sich, sondern nur in der Perspektive der Erhaltungstendenzen gewisser Arten von menschlichen Gemeinschaften aus gut und böse zu nennen ist! Insgleichen, daß unsre Abrechnungen über Lust und Schmerz keine kosmische, geschweige denn eine metaphysische Bedeutung haben! (– jener Pessimismus, der Pessimismus des Herrn von Hartmann, der Lust und Unlust des Daseins selbst auf die Wagschale zu setzen sich anheischig macht, mit seiner willkürlichen Einsperrung in das vorkopernikanische Gefängnis und Gesichtsfeld, würde etwas Rückständiges und Rückfälliges sein, falls er nicht nur ein schlechter Witz eines Berliners ist.)
461.
Die „wachsende Autonomie des Individuums“: davon reden diese Pariser Philosophen, wie Fouillée: sie sollten doch nur die race moutonnière ansehen, die sie selber sind!.... Macht doch die Augen auf, ihr Herren Zukunftssoziologen! Das Individuum ist stark geworden unter umgekehrten Bedingungen: ihr beschreibt die äußerste Schwächung und Verkümmerung des Menschen, ihr wollt sie selbst und braucht den ganzen Lügenapparat des alten Ideals dazu! ihr seid derart, daß ihr eure Herdentierbedürfnisse wirklich als Ideal empfindet!
Der vollkommene Mangel an psychologischer Rechtschaffenheit!
462.
Scheinbar entgegengesetzt die zwei Züge, welche die modernen Europäer kennzeichnen: das Individualistische und die Forderung gleicher Rechte: das verstehe ich endlich. Nämlich, das Individuum ist eine äußerst verwundbare Eitelkeit: – diese fordert, bei ihrem Bewußtsein, wie schnell sie leidet, daß jeder andere ihm gleichgestellt gelte, daß er nur inter pares sei. Damit ist eine gesellschaftliche Rasse charakterisiert, in welcher tatsächlich die Be[Pg 257]gabungen und Kräfte nicht erheblich auseinandergehen. Der Stolz, welcher Einsamkeit und wenige Schätzer will, ist ganz außer Verständnis; die ganz „großen“ Erfolge gibt es nur durch Massen, ja man begreift es kaum noch, daß ein Massenerfolg immer eigentlich ein kleiner Erfolg ist: weil pulchrum est paucorum hominum.
Alle Moralen wissen nichts von „Rangordnung“ der Menschen; die Rechtslehrer nichts vom Gemeindegewissen. Das Individualprinzip lehnt die ganz großen Menschen ab und verlangt unter ungefähr gleichen das feinste Auge und die schnellste Herauserkennung eines Talentes; und weil jeder etwas von Talenten hat, in solchen späten und zivilisierten Kulturen – also erwarten kann, sein Teil Ehre zurückzubekommen –, deshalb findet heute ein Herausstreichen der kleinen Verdienste statt wie niemals noch: es gibt dem Zeitalter einen Anstrich von grenzenloser Billigkeit. Seine Unbilligkeit besteht in einer Wut ohne Grenzen nicht gegen die Tyrannen und Volksschmeichler, auch in den Künsten, sondern gegen die vornehmen Menschen, welche das Lob der Vielen verachten. Die Forderung gleicher Rechte (zum Beispiel über alles und jeden zu Gericht sitzen zu dürfen) ist antiaristokratisch.
Ebenso fremd ist ihm das verschwundene Individuum, das Untertauchen in einen großen Typus, das Nicht-Person-sein-wollen: worin die Auszeichnung und der Eifer vieler hohen Menschen früher bestand (die größten Dichter darunter); oder „Stadt-sein“ wie in Griechenland; Jesuitismus, preußisches Offizierkorps und Beamtentum; oder Schüler-sein und Fortsetzer großer Meister: wozu ungesellschaftliche Zustände und der Mangel der kleinen Eitelkeit nötig ist.
463.
Morphologie der Selbstgefühle.
Erster Gesichtspunkt: inwiefern die Mitgefühls- und Gemeinschaftsgefühle die niedrigere, die vorbereitende Stufe sind, zur Zeit, wo das Personalselbstgefühl, die[Pg 258] Initiative der Wertsetzung im einzelnen noch gar nicht möglich ist.
Zweiter Gesichtspunkt: inwiefern die Höhe des Kollektivselbstgefühls, der Stolz auf die Distanz des Clans, das Sich-ungleich-fühlen, die Abneigung gegen Vermittlung, Gleichberechtigung, Versöhnung eine Schule des Individualselbstgefühls ist: namentlich insofern sie den Einzelnen zwingt, den Stolz des Ganzen zu repräsentieren: – er muß reden und handeln mit einer extremen Achtung vor sich, insofern er die Gemeinschaft in Person darstellt. Insgleichen: wenn das Individuum sich als Werkzeug und Sprachrohr der Gottheit fühlt.
Dritter Gesichtspunkt: inwiefern diese Formen der Entselbstung tatsächlich der Person eine ungeheure Wichtigkeit geben: insofern höhere Gewalten sich ihrer bedienen: religiöse Scheu vor sich selbst Zustand des Propheten, Dichters.
Vierter Gesichtspunkt: inwiefern die Verantwortlichkeit für das Ganze dem Einzelnen einen weiten Blick, eine strenge und furchtbare Hand, eine Besonnenheit und Kälte, eine Großartigkeit der Haltung und Gebärde anerzieht und erlaubt, welche er nicht um seiner selbst willen sich zugestehen würde.
In summa: die Kollektivselbstgefühle sind die große Vorschule der Personalsouveränität. Der vornehme Stand ist der, welcher die Erbschaft dieser Übung macht.
464.
Die maskierten Arten des Willens zur Macht:
1. Verlangen nach Freiheit, Unabhängigkeit, auch nach Gleichgewicht, Frieden, Koordination. Auch der Einsiedler, die „Geistesfreiheit“. In niedrigster Form: Wille überhaupt, dazusein, „Selbsterhaltungstrieb“.
2. Die Einordnung, um im größeren Ganzen dessen Willen zur Macht zu befriedigen: die Unterwerfung, das Sich-unentbehrlich-machen, -nützlich-machen bei dem, der die[Pg 259] Gewalt hat; die Liebe, als ein Schleichweg zum Herzen des Mächtigeren, – um über ihn zu herrschen.
3. Das Pflichtgefühl, das Gewissen, der imaginäre Trost, zu einem höheren Rang zu gehören als die tatsächlich Gewalthabenden; die Anerkennung einer Rangordnung, die das Richten erlaubt, auch über die Mächtigeren; die Selbstverurteilung; die Erfindung neuer Werttafeln (Juden: klassisches Beispiel).
465.
Zum „Macchiavellismus“ der Macht.
Der Wille zur Macht erscheint
a) bei den Unterdrückten, bei Sklaven jeder Art als Wille zur „Freiheit“: bloß das Loskommen scheint das Ziel (moralisch-religiös: „nur seinem eignen Gewissen verantwortlich“; „evangelische Freiheit“ usw.);
b) bei einer stärkeren und zur Macht heranwachsenden Art als Wille zur Übermacht; wenn zunächst erfolglos, dann sich einschränkend auf den Willen zur „Gerechtigkeit“, das heißt zu dem gleichen Maß von Rechten, wie die herrschende Art sie hat;
c) bei den Stärksten, Reichsten, Unabhängigsten, Mutigsten als „Liebe zur Menschheit“, zum „Volk“, zum Evangelium, zur Wahrheit, Gott; als Mitleid; „Selbstopferung“ usw.; als Überwältigen, Mit-sich-fortreißen, In-seinen-Dienst-nehmen, als instinktives Sich-in-Eins-rechnen mit einem großen Quantum Macht, dem man Richtung zu geben vermag: der Held, der Prophet, der Cäsar, der Heiland, der Hirt; (– auch die Geschlechtsliebe gehört hierher: sie will die Überwältigung, das In-Besitz-nehmen, und sie erscheint als Sich-hingeben. Im Grunde ist es nur die Liebe zu seinem „Werkzeug“, zu seinem „Pferd“, – seine Überzeugung davon, daß ihm das und das zugehört, als einem, der imstande ist, es zu benutzen).
„Freiheit“, „Gerechtigkeit“ und „Liebe“!!! –
[Pg 260]
466.
Berichtigung des Begriffs „Egoismus“. – Hat man begriffen, inwiefern „Individuum“ ein Irrtum ist, sondern jedes Einzelwesen eben der ganze Prozeß in gerader Linie ist (nicht bloß „vererbt“, sondern er selbst –), so hat das Einzelwesen eine ungeheuer große Bedeutung. Der Instinkt redet darin ganz richtig. Wo dieser Instinkt nachläßt, – wo das Individuum sich einen Wert erst im Dienst für andere sucht, kann man sicher auf Ermüdung und Entartung schließen. Der Altruismus der Gesinnung, gründlich und ohne Tartüfferie, ist ein Instinkt dafür, sich wenigstens einen zweiten Wert zu schaffen, im Dienste anderer Egoismen. Meistens aber ist er nur scheinbar: ein Umweg zur Erhaltung des eigenen Lebensgefühls, Wertgefühls. –
467.
Die Kunstgriffe, um Handlungen, Maßregeln, Affekte zu ermöglichen, welche, individuell gemessen, nicht mehr „statthaft“, – auch nicht mehr „schmackhaft“ sind:
die Kunst „macht sie uns schmackhaft“, die uns in solche „entfremdete“ Welten eintreten läßt;
der Historiker zeigt ihre Art Recht und Vernunft; die Reisen; der Exotismus; die Psychologie; Strafrecht; Irrenhaus; Verbrecher; Soziologie;
die „Unpersönlichkeit“ (so daß wir als Media eines Kollektivwesens uns diese Affekte und Handlungen gestatten – Richterkollegien, Jury, Bürger, Soldat, Minister, Fürst, Sozietät, „Kritiker“ –) gibt uns das Gefühl, als ob wir ein Opfer brächten....
468.
Dem bösen Menschen das gute Gewissen zurückgeben – ist das mein unwillkürliches Bemühen gewesen? und zwar dem bösen Menschen, insofern er der starke Mensch ist? (Das Urteil Dostoiewskys über die Verbrecher der Gefängnisse ist hierbei anzuführen.)
[Pg 261]
469.
Wir lernen in unsrer zivilisierten Welt fast nur den verkümmerten Verbrecher kennen, erdrückt unter dem Fluch und der Verachtung der Gesellschaft, sich selbst mißtrauend, oftmals seine Tat verkleinernd und verleumdend, einen mißglückten Typus von Verbrecher; und wir widerstreben der Vorstellung, daß alle großen Menschen Verbrecher waren (nur im großen Stile und nicht im erbärmlichen), daß das Verbrechen zur Größe gehört (– so nämlich geredet aus dem Bewußtsein der Nierenprüfer und aller derer, die am tiefsten in große Seelen hinuntergestiegen sind –). Die „Vogelfreiheit“ von dem Herkommen, dem Gewissen, der Pflicht – jeder große Mensch kennt diese seine Gefahr. Aber er will sie auch: er will das große Ziel und darum auch dessen Mittel.
470.
Das Verbrechen gehört unter den Begriff „Aufstand wider die gesellschaftliche Ordnung“. Man „bestraft“ einen Aufständischen nicht: man unterdrückt ihn. Ein Aufständischer kann ein erbärmlicher und verächtlicher Mensch sein: an sich ist an einem Aufstande nichts zu verachten, – und in Hinsicht auf unsere Art Gesellschaft aufständisch zu sein, erniedrigt an sich noch nicht den Wert eines Menschen. Es gibt Fälle, wo man einen solchen Aufständischen darum selbst zu ehren hätte, weil er an unsrer Gesellschaft etwas empfindet, gegen das der Krieg not tut: – wo er uns aus dem Schlummer weckt.
Damit, daß der Verbrecher etwas Einzelnes tut an einem Einzelnen, ist nicht widerlegt, daß sein ganzer Instinkt gegen die ganze Ordnung im Kriegszustand ist: die Tat als bloßes Symptom.
Man soll den Begriff „Strafe“ reduzieren auf den Begriff: Niederwerfung eines Aufstandes, Sicherheitsmaßregel gegen den Niedergeworfenen (ganze oder halbe Gefangenschaft). Aber man soll nicht Verachtung durch die Strafe ausdrücken: ein Verbrecher ist jedenfalls ein Mensch,[Pg 262] der sein Leben, seine Ehre, seine Freiheit riskiert, – ein Mann des Muts. Man soll insgleichen die Strafe nicht als Buße nehmen; oder als eine Abzahlung, wie als ob es ein Tauschverhältnis gebe zwischen Schuld und Strafe, – die Strafe reinigt nicht, denn das Verbrechen beschmutzt nicht.
Man soll dem Verbrecher die Möglichkeit nicht abschließen, seinen Frieden mit der Gesellschaft zu machen: gesetzt, daß er nicht zur Rasse des Verbrechertums gehört. In letzterem Falle soll man ihm den Krieg machen, noch bevor er etwas Feindseliges getan hat (erste Operation, sobald man ihn in der Gewalt hat: ihn kastrieren).
Man soll dem Verbrecher nicht seine schlechten Manieren noch den niedrigen Stand seiner Intelligenz zum Nachteil anrechnen. Nichts ist gewöhnlicher, als daß er sich selbst mißversteht (namentlich ist sein revoltierter Instinkt, die Ranküne des déclassé oft nicht sich zum Bewußtsein gelangt, faute de lecture), daß er unter dem Eindruck der Furcht, des Mißerfolgs seine Tat verleumdet und verunehrt: von jenen Fällen noch ganz abgesehen, wo, psychologisch nachgerechnet, der Verbrecher einem unverstandnen Triebe nachgibt und seiner Tat durch eine Nebenhandlung ein falsches Motiv unterschiebt (etwa durch eine Beraubung, während es ihm am Blute lag).
Man soll sich hüten, den Wert eines Menschen nach einer einzelnen Tat zu behandeln. Davor hat Napoleon gewarnt. Namentlich sind die Hautrelieftaten ganz besonders insignifikant. Wenn unsereiner kein Verbrechen, zum Beispiel keinen Mord, auf dem Gewissen hat – woran liegt es? Daß uns ein paar begünstigende Umstände dafür gefehlt haben. Und täten wir es, was wäre damit an unserm Werte bezeichnet? An sich würde man uns verachten, wenn man uns nicht die Kraft zutraute, unter Umständen einen Menschen zu töten. Fast in allen Verbrechen drücken sich zugleich Eigenschaften aus, welche an einem Manne nicht fehlen sollen. Nicht mit Unrecht hat Dostoiewsky von den Insassen jener sibirischen Zuchthäuser gesagt, sie bildeten den stärksten und wertvollsten Bestandteil des russi[Pg 263]schen Volkes. Wenn bei uns der Verbrecher eine schlecht ernährte und verkümmerte Pflanze ist, so gereicht dies unseren gesellschaftlichen Verhältnissen zur Unehre; in der Zeit der Renaissance gedieh der Verbrecher und erwarb sich seine eigne Art von Tugend, – Tugend im Renaissancestile freilich, virtù, moralinfreie Tugend.
Man vermag nur solche Menschen in die Höhe zu bringen, die man nicht mit Verachtung behandelt; die moralische Verachtung ist eine größere Entwürdigung und Schädigung als irgendein Verbrechen.
471.
Das Beschimpfende ist erst so in die Strafe gekommen, daß gewisse Bußen an verächtliche Menschen (Sklaven zum Beispiel) geknüpft wurden. Die, welche am meisten bestraft wurden, waren verächtliche Menschen, und schließlich lag im Strafen etwas Beschimpfendes.
472.
Im alten Strafrecht war ein religiöser Begriff mächtig: der der sühnenden Kraft der Strafe. Die Strafe reinigt: in der modernen Welt befleckt sie. Die Strafe ist eine Abzahlung: man ist wirklich das los, für was man so viel hat leiden wollen. Gesetzt, daß an diese Kraft der Strafe geglaubt wird, so gibt es hinterdrein eine Erleichterung und ein Aufatmen, das wirklich einer neuen Gesundheit, einer Wiederherstellung nahekommt. Man hat nicht nur seinen Frieden wieder mit der Gesellschaft gemacht, man ist vor sich selbst auch wieder achtungswürdig geworden, – „rein“.... Heute isoliert die Strafe noch mehr als das Vergehen; das Verhängnis hinter einem Vergehen ist dergestalt gewachsen, daß es unheilbar geworden ist. Man kommt als Feind der Gesellschaft aus der Strafe heraus.... Von jetzt ab gibt es einen Feind mehr.
Das jus talionis kann diktiert sein durch den Geist der Vergeltung (das heißt durch eine Art Mäßigung des Racheinstinktes); aber bei Manu zum Beispiel ist es das[Pg 264] Bedürfnis, ein Äquivalent zu haben, um zu sühnen, um religiös wieder „frei“ zu sein.
473.
Mein leidlich radikales Fragezeichen bei allen neueren Strafgesetzgebungen ist dieses: daß die Strafen proportional wehe tun sollen gemäß der Größe des Verbrechens – und so wollt ihr's ja alle im Grunde! – nun, so müßten sie jedem Verbrecher proportional seiner Empfindlichkeit für Schmerz zugemessen werden: – das heißt, es dürfte eine vorherige Bestimmung der Strafe für ein Vergehen, es dürfte einen Strafkodex gar nicht geben? Aber in Anbetracht, daß es nicht leicht gelingen möchte, bei einem Verbrecher die Gradskala seiner Lust und Unlust festzustellen, so würde man in praxi wohl auf das Strafen verzichten müssen? Welche Einbuße! Nicht wahr? Folglich – –
474.
Ja die Philosophie des Rechts! Das ist eine Wissenschaft, welche, wie alle moralische Wissenschaft, noch nicht einmal in der Windel liegt!
Man verkennt zum Beispiel immer noch, auch unter frei sich dünkenden Juristen, die älteste und wertvollste Bedeutung der Strafe – man kennt sie gar nicht: und solange die Rechtswissenschaft sich nicht auf einen neuen Boden stellt, nämlich auf die Historien- und die Völkervergleichung, wird es bei dem unnützen Kampfe von grundfalschen Abstraktionen verbleiben, welche heute sich als „Philosophie des Rechtes“ vorstellen, und die sämtlich vom gegenwärtigen Menschen abgezogen sind. Dieser gegenwärtige Mensch ist aber ein so verwickeltes Geflecht, auch in bezug auf seine rechtlichen Wertschätzungen, daß er die verschiedensten Ausdeutungen erlaubt.
475.
Ein alter Chinese sagte, er habe gehört, wenn Reiche zugrunde gehen sollen, so hätten sie viele Gesetze.
[Pg 265]
476.
„Lohn und Strafe“. – Das lebt miteinander, das verfällt miteinander. Heute will man nicht belohnt sein, man will niemanden anerkennen, der straft.... Man hat den Kriegsfuß hergestellt: man will etwas, man hat Gegner dabei, man erreicht es vielleicht am vernünftigsten, wenn man sich verträgt, – wenn man einen Vertrag macht.
Eine moderne Gesellschaft, bei der jeder Einzelne seinen „Vertrag“ gemacht hat: – der Verbrecher ist ein Vertragsbrüchiger.... Das wäre ein klarer Begriff. Aber dann könnte man nicht Anarchisten und prinzipielle Gegner einer Gesellschaftsform innerhalb derselben dulden....
477.
Die Gegenseitigkeit, die Hinterabsicht auf Bezahltwerden-wollen: eine der verfänglichsten Formen der Werterniedrigung des Menschen. Sie bringt jene „Gleichheit“ mit sich, welche die Kluft der Distanz als unmoralisch abwertet....
478.
Die Zeiten, wo man mit Lohn und Strafe den Menschen lenkt, haben eine niedere, noch primitive Art Mensch im Auge: das ist wie bei Kindern....
Inmitten unsrer späten Kultur ist die Fatalität und die Degenereszenz etwas, das vollkommen den Sinn von Lohn und Strafe aufhebt.... Es setzt junge, starke, kräftige Rassen voraus, dieses wirkliche Bestimmen der Handlung durch Lohn- und Strafaussicht. In alten Rassen sind die Impulse so unwiderstehlich, daß eine bloße Vorstellung ganz ohnmächtig ist; – nicht Widerstand leisten können, wo ein Reiz gegeben ist, sondern ihm folgen müssen: diese extreme Irritabilität der décadents macht solche Straf- und Besserungssysteme vollkommen sinnlos.
Der Begriff „Besserung“ ruht auf der Voraussetzung eines normalen und starken Menschen, dessen Einzelhandlung irgendwie wieder ausgeglichen werden soll, um ihn[Pg 266] nicht für die Gemeinde zu verlieren, um ihn nicht als Feind zu haben.
2. Der Staat.
479.
Grundsatz: nur Einzelne fühlen sich verantwortlich. Die Vielheiten sind erfunden, um Dinge zu tun, zu denen der Einzelne nicht den Mut hat. Eben deshalb sind alle Gemeinwesen, Gesellschaften hundertmal aufrichtiger und belehrender über das Wesen des Menschen als das Individuum, welches zu schwach ist, um den Mut zu seinen Begierden zu haben....
Der ganze „Altruismus“ ergibt sich als Privatmannklugheit: die Gesellschaften sind nicht „altruistisch“ gegen einander.... Das Gebot der Nächstenliebe ist noch niemals zu einem Gebot der Nachbarliebe erweitert worden. Vielmehr gilt da noch, was bei Manu steht: „Alle uns angrenzenden Reiche, ebenso deren Verbündete, müssen wir als uns feindlich denken. Aus demselben Grunde hinwiederum müssen uns deren Nachbarn als uns freundlich gesinnt gelten.“
Das Studium der Gesellschaft ist deshalb so unschätzbar, weil der Mensch als Gesellschaft viel naiver ist als der Mensch als „Einheit“. Die „Gesellschaft“ hat die Tugend nie anders gesehen, denn als Mittel der Stärke, der Macht, der Ordnung.
Wie einfältig und würdig sagt es Manu: „Aus eigner Kraft würde die Tugend sich schwerlich behaupten können. Im Grunde ist es nur die Furcht vor Strafe, was die Menschen in Schranken hält und jeden im ruhigen Besitz des Seinen läßt.“
480.
Ihr habt alle nicht den Mut, einen Menschen zu töten oder auch nur zu peitschen oder auch nur zu –, aber die ungeheure Maschine von Staat überwältigt den Einzelnen, so daß er die Verantwortlichkeit für das, was er tut, ablehnt (Gehorsam, Eid usw.).
[Pg 267]
– Alles, was ein Mensch im Dienste des Staates tut, geht wider seine Natur.
– insgleichen alles, was er in Hinsicht auf den zukünftigen Dienst im Staate lernt, geht wider seine Natur.
Das wird erreicht durch die Arbeitsteilung (so daß niemand die ganze Verantwortlichkeit mehr hat):
der Gesetzgeber – und der, der das Gesetz ausführt;
der Disziplinlehrer – und die, welche in der Disziplin hart und streng geworden sind.
481.
Der Staat oder die organisierte Unmoralität, – inwendig: als Polizei, Strafrecht, Stände, Handel, Familie; auswendig: als Wille zur Macht, zum Kriege, zur Eroberung, zur Rache.
Wie wird es erreicht, daß er eine große Menge Dinge tut, zu denen der Einzelne sich nie verstehen würde? – Durch Zerteilung der Verantwortlichkeit, des Befehlens und der Ausführung. Durch Zwischenlegung der Tugenden des Gehorsams, der Pflicht, der Vaterlands- und Fürstenliebe. Durch Aufrechterhaltung des Stolzes, der Strenge, der Stärke, des Hasses, der Rache, – kurz aller typischen Züge, welche dem Herdentypus widersprechen.
482.
Versuch meinerseits, die absolute Vernünftigkeit des gesellschaftlichen Urteilens und Wertschätzens zu begreifen (natürlich frei von dem Willen, dabei moralische Resultate herauszurechnen).
: den Grad von psychologischer Falschheit und Undurchsichtigkeit, um die zur Erhaltung und Machtsteigerung wesentlichen Affekte zu heiligen (um sich für sie das gute Gewissen zu schaffen).
: den Grad von Dummheit, damit eine gemeinsame Regulierung und Wertung möglich bleibt (dazu Erziehung, Überwachung der Bildungselemente, Dressur).
: den Grad von Inquisition, Mißtrauen und Unduldsamkeit, um die Ausnahmen als Verbrecher zu be[Pg 268]handeln und zu unterdrücken, – um ihnen selbst das schlechte Gewissen zu geben, so daß diese innerlich an ihrer Ausnahmehaftigkeit krank sind.
483.
Damit etwas bestehen soll, das länger ist als ein Einzelner, damit also ein Werk bestehen bleibt, das vielleicht ein Einzelner geschaffen hat: dazu muß dem Einzelnen alle mögliche Art von Beschränkung, von Einseitigkeit usw. auferlegt werden. Mit welchem Mittel? Die Liebe, Verehrung, Dankbarkeit gegen die Person, die das Werk schuf, ist eine Erleichterung: oder daß unsere Vorfahren es erkämpft haben: oder daß meine Nachkommen nur so garantiert sind, wenn ich jenes Werk (zum Beispiel die πόλις) garantiere. Moral ist wesentlich das Mittel, über die Einzelnen hinweg, oder vielmehr durch eine Versklavung der Einzelnen etwas zur Dauer zu bringen. Es versteht sich, daß die Perspektive von unten nach oben ganz andere Ausdrücke geben wird als die von oben nach unten.
Ein Machtkomplex: wie wird er erhalten? Dadurch, daß viele Geschlechter sich ihm opfern.
484.
Das Kontinuum: „Ehe, Eigentum, Sprache, Tradition, Stamm, Familie, Volk, Staat“ sind Kontinuen niederer und höherer Ordnung. Die Ökonomik derselben besteht in dem Überschusse der Vorteile der ununterbrochenen Arbeit, sowie der Vervielfachung über die Nachteile: die größeren Kosten der Auswechslung der Teile oder der Dauerbarmachung derselben. (Vervielfältigung der wirkenden Teile, welche doch vielfach unbeschäftigt bleiben, also größere Anschaffungskosten und nicht unbedeutende Kosten der Erhaltung.) Der Vorteil besteht darin, daß die Unterbrechungen vermieden und die aus ihnen entspringenden Verluste gespart werden. Nichts ist kostspieliger als ein Anfang.
„Je größer die Daseinsvorteile, desto größer auch die Erhaltungs- und Schaffungskosten (Nahrung und Fortpflan[Pg 269]zung); desto größer auch die Gefahren und die Wahrscheinlichkeit, vor der erreichten Höhe zugrunde zu gehen.“
485.
Kritik der „Gerechtigkeit“ und „Gleichheit vor dem Gesetz“: was eigentlich damit weggeschafft werden soll? Die Spannung, die Feindschaft, der Haß. – Aber ein Irrtum ist es, daß dergestalt „das Glück“ gemehrt wird: die Korsen zum Beispiel genießen mehr Glück als die Kontinentalen.
486.
Die verfaulten herrschenden Stände haben das Bild des Herrschenden verdorben. Der „Staat“, als Gericht übend, ist eine Feigheit, weil der große Mensch fehlt, an dem gemessen werden kann. Zuletzt wird die Unsicherheit so groß, daß die Menschen vor jeder Willenskraft, die befiehlt, in den Staub fallen.
487.
Man hat kein Recht, weder auf Dasein, noch auf Arbeit, noch gar auf „Glück“: es steht mit dem einzelnen Menschen nicht anders als mit dem niedrigsten Wurm.
488.
„Die Erlösung von aller Schuld.“
Man spricht von der „tiefen Ungerechtigkeit“ des sozialen Pakts: wie als ob die Tatsache, daß dieser unter günstigen, jener unter ungünstigen Verhältnissen geboren wird, von vornherein eine Ungerechtigkeit sei; oder gar schon, daß dieser mit diesen Eigenschaften, jener mit jenen geboren wird. Von seiten der Aufrichtigsten unter diesen Gegnern der Gesellschaft wird dekretiert: „Wir selber sind mit allen unseren schlechten, krankhaften, verbrecherischen Eigenschaften, die wir eingestehen, nur die unvermeidlichen Folgen einer sekulären Unterdrückung der Schwachen durch die Starken“; sie schieben ihren Charakter den herrschenden Ständen ins Gewissen. Und man droht, man zürnt, man verflucht; man wird tugendhaft vor Entrüstung –, man[Pg 270] will nicht umsonst ein schlechter Mensch, eine Kanaille geworden sein.
Diese Attitüde, eine Erfindung unsrer letzten Jahrzehnte, heißt sich, soviel ich höre, auch Pessimismus, und zwar Entrüstungspessimismus. Hier wird der Anspruch gemacht, die Geschichte zu richten, sie ihrer Fatalität zu entkleiden, eine Verantwortlichkeit hinter ihr, Schuldige in ihr zu finden. Denn darum handelt es sich: man braucht Schuldige. Die Schlechtweggekommenen, die décadents jeder Art, sind in Revolte über sich und brauchen Opfer, um nicht an sich selbst ihren Vernichtungsdurst zu löschen (– was an sich vielleicht die Vernunft für sich hätte). Dazu haben sie einen Schein von Recht nötig, das heißt eine Theorie, auf welche hin sie die Tatsache ihrer Existenz, ihres So-und-so-seins auf irgendeinen Sündenbock abwälzen können. Dieser Sündenbock kann Gott sein – es fehlt in Rußland nicht an solchen Atheisten aus Ressentiment –, oder die gesellschaftliche Ordnung, oder die Erziehung und der Unterricht, oder die Juden, oder die Vornehmen, oder überhaupt Gutweggekommene irgendwelcher Art. „Es ist ein Verbrechen, unter günstigen Bedingungen geboren zu werden: denn damit hat man die andern enterbt, beiseite gedrückt, zum Laster, selbst zur Arbeit verdammt.... Was kann ich dafür, miserabel zu sein! Aber irgendwer muß etwas dafür können, sonst wäre es nicht auszuhalten!“.... Kurz, der Entrüstungspessimismus erfindet Verantwortlichkeiten, um sich ein angenehmes Gefühl zu schaffen – Rache.... „Süßer als Honig“ nennt sie schon der alte Homer. –
Daß eine solche Theorie nicht mehr Verständnis, will sagen Verachtung, findet, das macht das Stück Christentum, das uns allen noch im Blute steckt: so daß wir tolerant gegen Dinge sind, bloß weil sie von fern etwas christlich riechen.... Die Sozialisten appellieren an die christlichen Instinkte; das ist noch ihre feinste Klugheit.... Vom Christentum her sind wir an den abergläubischen Begriff der „Seele“ gewöhnt, an die „unsterbliche Seele“, an die[Pg 271] Seelen-Monade, die eigentlich ganz wo anders zu Hause ist und nur zufällig in diese oder jene Umstände, ins „Irdische“ gleichsam hineingefallen ist, „Fleisch“ geworden ist: doch ohne daß ihr Wesen dadurch berührt, geschweige denn bedingt wäre. Die gesellschaftlichen, verwandtschaftlichen, historischen Verhältnisse sind für die Seele nur Gelegenheiten, Verlegenheiten vielleicht; jedenfalls ist sie nicht deren Werk. Mit dieser Vorstellung ist das Individuum transzendent gemacht; es darf auf sie hin sich eine unsinnige Wichtigkeit beilegen.
In der Tat hat erst das Christentum das Individuum herausgefordert, sich zum Richter über alles und jedes aufzuwerfen; der Größenwahn ist ihm beinahe zur Pflicht gemacht: es hat ja ewige Rechte gegen alles Zeitliche und Bedingte geltend zu machen! Was Staat! Was Gesellschaft! Was historische Gesetze! Was Physiologie! Hier redet ein Jenseits des Werdens, ein Unwandelbares in aller Historie, hier redet etwas Unsterbliches, etwas Göttliches: eine Seele!
Ein anderer christlicher, nicht weniger verrückter Begriff hat sich noch weit tiefer ins Fleisch der Modernität vererbt: der Begriff von der „Gleichheit der Seelen vor Gott“. In ihm ist das Prototyp aller Theorien der gleichen Rechte gegeben: man hat die Menschheit den Satz von der Gleichheit erst religiös stammeln gelehrt, man hat ihr später eine Moral daraus gemacht: was Wunder, daß der Mensch damit endet, ihn ernst zu nehmen, ihn praktisch zu nehmen! – will sagen politisch, demokratisch, sozialistisch, entrüstungspessimistisch.
Überall, wo Verantwortlichkeiten gesucht worden sind, ist es der Instinkt der Rache gewesen, der da suchte. Dieser Instinkt der Rache wurde in Jahrtausenden dermaßen über die Menschheit Herr, daß die ganze Metaphysik, Psychologie, Geschichtsvorstellung, vor allem aber die Moral mit ihm abgezeichnet ist. Soweit auch nur der Mensch gedacht hat, so weit hat er den Bazillus der Rache in die[Pg 272] Dinge geschleppt. Er hat Gott selbst damit krank gemacht, er hat das Dasein überhaupt um seine Unschuld gebracht: nämlich dadurch, daß er jedes So-und-so-sein auf Willen, auf Absichten, auf Akte der Verantwortlichkeit zurückführte. Die ganze Lehre vom Willen, diese verhängnisvollste Fälschung in der bisherigen Psychologie, wurde wesentlich erfunden zum Zweck der Strafe. Es war die gesellschaftliche Nützlichkeit der Strafe, die diesem Begriff seine Würde, seine Macht, seine Wahrheit verbürgte. Die Urheber jener Psychologie – der Willenspsychologie – hat man in den Ständen zu suchen, welche das Strafrecht in den Händen hatten, voran in dem der Priester an der Spitze der ältesten Gemeinwesen: diese wollten sich ein Recht schaffen, Rache zu nehmen, – sie wollten Gott ein Recht zur Rache schaffen. Zu diesem Zwecke wurde der Mensch „frei“ gedacht; zu diesem Zwecke mußte jede Handlung als gewollt, mußte der Ursprung jeder Handlung als im Bewußtsein liegend gedacht werden. Aber mit diesen Sätzen ist die alte Psychologie widerlegt.
Heute, wo Europa in die umgekehrte Bewegung eingetreten scheint, wo wir Halkyonier zumal mit aller Kraft den Schuldbegriff und Strafbegriff aus der Welt wieder zurückzuziehen, herauszunehmen, auszulöschen suchen, wo unser größter Ernst darauf aus ist, die Psychologie, die Moral, die Geschichte, die Natur, die gesellschaftlichen Institutionen und Sanktionen, Gott selbst von diesem Schmutz zu reinigen, – in wem müssen wir unsere natürlichsten Antagonisten sehen? Eben in jenen Aposteln der Rache und des Ressentiments, in jenen Entrüstungspessimisten par excellence, welche eine Mission daraus machen, ihren Schmutz unter dem Namen „Entrüstung“ zu heiligen.... Wir andern, die wir dem Werden seine Unschuld zurückzugewinnen wünschen, möchten die Missionare eines reinlicheren Gedankens sein: daß niemand dem Menschen seine Eigenschaften gegeben hat, weder Gott, noch die Gesellschaft, noch seine Eltern und Vorfahren, noch er selbst, – daß niemand schuld an ihm ist.... Es fehlt ein Wesen, das dafür[Pg 273] verantwortlich gemacht werden könnte, daß jemand überhaupt da ist, daß jemand so und so ist, daß jemand unter diesen Umständen, in dieser Umgebung geboren ist. – Es ist ein großes Labsal, daß solch ein Wesen fehlt.... Wir sind nicht das Resultat einer ewigen Absicht, eines Willens, eines Wunsches: mit uns wird nicht der Versuch gemacht, ein „Ideal von Vollkommenheit“ oder ein „Ideal von Glück“ oder ein „Ideal von Tugend“ zu erreichen, – wir sind ebensowenig der Fehlgriff Gottes, vor dem ihm selber angst werden müßte (mit welchem Gedanken bekanntlich das Alte Testament beginnt). Es fehlt jeder Ort, jeder Zweck, jeder Sinn, wohin wir unser Sein, unser So-und-so-sein abwälzen könnten. Vor allem: niemand könnte es: man kann das Ganze nicht richten, messen, vergleichen oder gar verneinen! Warum nicht? – Aus fünf Gründen, allesamt selbst bescheidenen Intelligenzen zugänglich: zum Beispiel, weil es nichts gibt außer dem Ganzen.... Und nochmals gesagt, das ist ein großes Labsal, darin liegt die Unschuld alles Daseins.
489.
Wie mir die Sozialisten lächerlich sind mit ihrem albernen Optimismus vom „guten Menschen“, der hinter dem Busche wartet, wenn man nur erst die bisherige „Ordnung“ abgeschafft hat und alle „natürlichen Triebe“ losläßt.
Und die Gegenpartei ist ebenso lächerlich, weil sie die Gewalttat in dem Gesetz, die Härte und den Egoismus in jeder Art Autorität nicht zugesteht. „‚Ich und meine Art‘ will herrschen und übrigbleiben: wer entartet, wird ausgestoßen oder vernichtet“ – ist Grundgefühl jeder alten Gesetzgebung.
Man haßt die Vorstellung einer höheren Art Menschen mehr als die Monarchen. Antiaristokratisch: das nimmt den Monarchenhaß nur als Maske –
490.
Ich bin abgeneigt 1. dem Sozialismus, weil er ganz naiv vom „Guten, Wahren, Schönen“ und von „gleichen Rech[Pg 274]ten“ träumt (– auch der Anarchismus will, nur auf brutalere Weise, das gleiche Ideal);
2. dem Parlamentarismus und Zeitungswesen, weil das die Mittel sind, wodurch das Herdentier sich zum Herrn macht.
491.
Die europäische Demokratie ist zum kleinsten Teil eine Entfesselung von Kräften. Vor allem ist sie eine Entfesselung von Faulheiten, von Müdigkeiten, von Schwächen.
492.
„Der Wille zur Macht“ wird in demokratischen Zeitaltern dermaßen gehaßt, daß deren ganze Psychologie auf seine Verkleinerung und Verleumdung gerichtet scheint. Der Typus des großen Ehrgeizigen: das soll Napoleon sein! Und Cäsar! Und Alexander! – Als ob das nicht gerade die größten Verächter der Ehre wären!....
Und Helvétius entwickelt uns, daß man nach Macht strebt, um die Genüsse zu haben, welche dem Mächtigen zu Gebote stehen: – er versteht dieses Streben nach Macht als Willen zum Genuß! als Hedonismus!
493.
Der moderne Sozialismus will die weltliche Nebenform des Jesuitismus schaffen: Jeder absolutes Werkzeug. Aber der Zweck, das Wozu? ist nicht aufgefunden bisher.
494.
Je nachdem ein Volk fühlt: „bei den Wenigen ist das Recht, die Einsicht, die Gabe der Führung usw.“ oder „bei den Vielen“ – gibt es ein oligarchisches Regiment oder ein demokratisches.
Das Königtum repräsentiert den Glauben an einen ganz Überlegenen, einen Führer, Retter, Halbgott.
Die Aristokratie repräsentiert den Glauben an eine Elite-Menschheit und höhere Kaste.
Die Demokratie repräsentiert den Unglauben an große Menschen und an Elite-Gesellschaft: „Jeder ist jedem[Pg 275] gleich“. „Im Grunde sind wir allesamt eigennütziges Vieh und Pöbel.“
495.
Aus der Zukunft des Arbeiters. – Arbeiter sollten wie Soldaten empfinden lernen. Ein Honorar, ein Gehalt, aber keine Bezahlung!
Kein Verhältnis zwischen Abzahlung und Leistung! Sondern das Individuum, je nach seiner Art, so stellen, daß es das Höchste leisten kann, was in seinem Bereich liegt.
496.
Die Arbeiter sollen einmal leben wie jetzt die Bürger; – aber über ihnen, sich durch Bedürfnislosigkeit auszeichnend, die höhere Kaste: also ärmer und einfacher, doch im Besitz der Macht.
Für die niederen Menschen gelten die umgekehrten Wertschätzungen; es kommt darauf an, in sie die „Tugenden“ zu pflanzen. Die absoluten Befehle; furchtbare Zwingmeister; sie dem leichten Leben entreißen. Die übrigen dürfen gehorchen: und ihre Eitelkeit verlangt, daß sie nicht abhängig von großen Menschen, sondern von „Prinzipien“ erscheinen.
497.
Meine „Zukunft“: – eine stramme Polytechnikerbildung. Militärdienst: so daß durchschnittlich jeder Mann der höheren Stände Offizier ist, er sei sonst, wer er sei.
498.
Ein wenig reine Luft! Dieser absurde Zustand Europas soll nicht mehr lange dauern! Gibt es irgendeinen Gedanken hinter diesem Hornvieh-Nationalismus? Welchen Wert könnte es haben, jetzt, wo alles auf größere und gemeinsame Interessen hinweist, diese ruppigen Selbstgefühle aufzustacheln? Und das in einem Zustande, wo die geistige Unselbständigkeit und Entnationalisierung in die Augen springt und in einem gegenseitigen Sich-Verschmelzen und -Befruchten der eigentliche Wert und Sinn der jetzigen Kultur liegt!.... Und das „neue Reich“, wieder auf den[Pg 276] verbrauchtesten und bestverachteten Gedanken gegründet: die Gleichheit der Rechte und der Stimmen.
Das Ringen um einen Vorrang innerhalb eines Zustandes, der nichts taugt; diese Kultur der Großstädte, der Zeitungen, des Fiebers und der „Zwecklosigkeit“ –!
Die wirtschaftliche Einigung Europas kommt mit Notwendigkeit – und ebenso, als Reaktion, die Friedenspartei....
Eine Partei des Friedens, ohne Sentimentalität, welche sich und ihren Kindern verbietet, Krieg zu führen; verbietet, sich der Gerichte zu bedienen; welche den Kampf, den Widerspruch, die Verfolgung gegen sich heraufbeschwört; eine Partei der Unterdrückten, wenigstens für eine Zeit; alsbald die große Partei. Gegnerisch gegen die Rach- und Nachgefühle.
Eine Kriegspartei, mit der gleichen Grundsätzlichkeit und Strenge gegen sich, in umgekehrter Richtung vorgehend –
499.
Die Aufrechterhaltung des Militärstaates ist das allerletzte Mittel, die große Tradition sei es aufzunehmen, sei es festzuhalten hinsichtlich des obersten Typus Mensch, des starken Typus. Und alle Begriffe, die die Feindschaft und Rangdistanz der Staaten verewigen, dürfen daraufhin sanktioniert erscheinen (zum Beispiel Nationalismus, Schutzzoll).
500.
Moral wesentlich als Wehr, als Verteidigungsmittel; insofern ein Zeichen des unausgewachsenen Menschen (verpanzert; stoisch).
Der ausgewachsene Mensch hat vor allem Waffen: er ist angreifend.
Kriegswerkzeuge zu Friedenswerkzeugen umgewandelt (aus Schuppen und Platten Federn und Haare).
501.
Grundfehler: die Ziele in die Herde und nicht in einzelne Individuen zu legen! Die Herde ist Mittel, nicht[Pg 277] mehr! Aber jetzt versucht man, die Herde als Individuum zu verstehen und ihr einen höheren Rang als dem Einzelnen zuzuschreiben, – tiefstes Mißverständnis!!! Insgleichen das, was herdenhaft macht, die Mitgefühle, als die wertvollere Seite unsrer Natur zu charakterisieren!
V. Kunst – ein Machtwille.
502.
„Schönheit“ ist deshalb für den Künstler etwas außer aller Rangordnung, weil in der Schönheit Gegensätze gebändigt sind, das höchste Zeichen von Macht, nämlich über Entgegengesetztes; außerdem ohne Spannung: – daß keine Gewalt mehr not tut, daß alles so leicht folgt, gehorcht, und zum Gehorsam die liebenswürdigste Miene macht – das ergötzt den Machtwillen des Künstlers.
503.
Die Kunst in der „Geburt der Tragödie“.
I.
Die Konzeption des Werkes, auf welche man in dem Hintergrunde dieses Buches stößt, ist absonderlich düster und unangenehm: unter den bisher bekannt gewordnen Typen des Pessimismus scheint keiner diesen Grad von Bösartigkeit erreicht zu haben. Hier fehlt der Gegensatz einer wahren und einer scheinbaren Welt: es gibt nur eine Welt, und diese ist falsch, grausam, widersprüchlich, verführerisch, ohne Sinn.... Eine so beschaffene Welt ist die wahre Welt. Wir haben Lüge nötig, um über diese Realität, diese „Wahrheit“ zum Sieg zu kommen, das heißt, um zu leben.... Daß die Lüge nötig ist, um zu leben, das gehört selbst noch mit zu diesem furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins.
Die Metaphysik, die Moral, die Religion, die Wissenschaft – sie werden in diesem Buche nur als verschiedne Formen der Lüge in Betracht gezogen: mit ihrer Hilfe wird ans Leben geglaubt. „Das Leben soll Vertrauen[Pg 278] einflößen“: die Aufgabe, so gestellt, ist ungeheuer. Um sie zu lösen, muß der Mensch schon von Natur Lügner sein, er muß mehr als alles andere Künstler sein. Und er ist es auch: Metaphysik, Religion, Moral, Wissenschaft – alles nur Ausgeburten seines Willens zur Kunst, zur Lüge, zur Flucht vor der „Wahrheit“, zur Verneinung der „Wahrheit“. Das Vermögen selbst, dank dem er die Realität durch die Lüge vergewaltigt, dieses Künstlervermögen des Menschen par excellence – er hat es noch mit allem, was ist, gemein. Er selbst ist ja ein Stück Wirklichkeit, Wahrheit, Natur: wie sollte er nicht auch ein Stück Genie der Lüge sein!
Daß der Charakter des Daseins verkannt werde – und höchste Geheimabsicht hinter allem, was Tugend, Wissenschaft, Frömmigkeit, Künstlertum ist. Vieles niemals sehen, vieles falsch sehen, vieles hinzusehen: o wie klug man noch ist, in Zuständen, wo man am fernsten davon ist, sich für klug zu halten! Die Liebe, die Begeisterung, „Gott“ – lauter Feinheiten des letzten Selbstbetrugs, lauter Verführungen zum Leben, lauter Glaube an das Leben! In Augenblicken, wo der Mensch zum Betrognen ward, wo er sich überlistet hat, wo er ans Leben glaubt: o wie schwillt es da in ihm auf! Welches Entzücken! Welches Gefühl von Macht! Wieviel Künstlertriumph im Gefühl der Macht!.... Der Mensch ward wieder einmal Herr über den „Stoff“, – Herr über die Wahrheit!.... Und wann immer der Mensch sich freut, er ist immer der gleiche in seiner Freude: er freut sich als Künstler, er genießt sich als Macht, er genießt die Lüge als seine Macht....
II.
Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens.
Die Kunst als einzig überlegene Gegenkraft gegen allen Willen zur Verneinung des Lebens, als das Antichristliche, Antibuddhistische, Antinihilistische par excellence.
[Pg 279]
Die Kunst als die Erlösung des Erkennenden, – dessen, der den furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins sieht, sehen will, des Tragisch-Erkennenden.
Die Kunst als die Erlösung des Handelnden, – dessen, der den furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins nicht nur sieht, sondern lebt, leben will, des tragisch-kriegerischen Menschen, des Helden.
Die Kunst als die Erlösung des Leidenden, – als Weg zu Zuständen, wo das Leiden gewollt, verklärt, vergöttlicht wird, wo das Leiden eine Form der großen Entzückung ist.
III.
Man sieht, daß in diesem Buche der Pessimismus, sagen wir deutlicher der Nihilismus, als die „Wahrheit“ gilt. Aber die Wahrheit gilt nicht als oberstes Wertmaß, noch weniger als oberste Macht. Der Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung, zum Werden und Wechseln (zur objektivierten Täuschung) gilt hier als tiefer, ursprünglicher, „metaphysischer“ als der Wille zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, zum Schein: – letzterer ist selbst bloß eine Form des Willens zur Illusion. Ebenso gilt die Lust als ursprünglicher als der Schmerz: der Schmerz erst als bedingt, als eine Folgeerscheinung des Willens zur Lust (des Willens zum Werden, Wachsen, Gestalten, das heißt zum Schaffen: im Schaffen ist aber das Zerstören eingerechnet). Es wird ein höchster Zustand von Bejahung des Daseins konzipiert, aus dem auch der höchste Schmerz nicht abgerechnet werden kann: der tragisch-dionysische Zustand.
IV.
Dies Buch ist dergestalt sogar antipessimistisch: nämlich in dem Sinne, daß es etwas lehrt, das stärker ist als der Pessimismus, das „göttlicher“ ist als die Wahrheit: die Kunst. Niemand würde, wie es scheint, einer radikalen Verneinung des Lebens, einem wirklichen Neintun noch mehr als einem Neinsagen zum Leben ernstlicher das Wort reden als der Verfasser dieses Buches. Nur weiß er – er[Pg 280] hat es erlebt, er hat vielleicht nichts anderes erlebt! – daß die Kunst mehr wert ist als die Wahrheit.
In der Vorrede bereits, mit der Richard Wagner wie zu einem Zwiegespräche eingeladen wird, erscheint dies Glaubensbekenntnis, dies Artistenevangelium: „die Kunst als die eigentliche Aufgabe des Lebens, die Kunst als dessen metaphysische Tätigkeit....“
504.
Das Phänomen „Künstler“ ist noch am leichtesten durchsichtig: – von da aus hinzublicken auf die Grundinstinkte der Macht usw.! Auch der Religion und Moral!
„Das Spiel“, das Unnützliche – als Ideal des mit Kraft Überhäuften, als „kindlich“. Die „Kindlichkeit“ Gottes, παῖς παίζων.
505.
Unsre Religion, Moral und Philosophie sind décadence-Formen des Menschen.
– Die Gegenbewegung: die Kunst.
506.
In der Hauptsache gebe ich den Künstlern mehr recht als allen Philosophen bisher: sie verloren die große Spur nicht, auf der das Leben geht, sie liebten die Dinge „dieser Welt“, – sie liebten ihre Sinne. „Entsinnlichung“ zu erstreben: das scheint mir ein Mißverständnis oder eine Krankheit oder eine Kur, wo sie nicht eine bloße Heuchelei oder Selbstbetrügerei ist. Ich wünsche mir selber und allen denen, welche ohne die Ängste eines Puritanergewissens leben – leben dürfen, eine immer größere Vergeistigung und Vervielfältigung ihrer Sinne; ja wir wollen den Sinnen dankbar sein für ihre Feinheit, Fülle und Kraft und ihnen das Beste von Geist, was wir haben, dagegen bieten. Was gehen uns die priesterlichen und metaphysischen Verketzerungen der Sinne an! Wir haben diese Verketzerung nicht mehr nötig: es ist ein Merkmal der Wohlgeratenheit, wenn einer gleich Goethe mit immer größerer Lust und[Pg 281] Herzlichkeit an „den Dingen der Welt“ hängt: – dergestalt nämlich hält er die große Auffassung des Menschen fest, daß der Mensch der Verklärer des Daseins wird, wenn er sich selbst verklären lernt.
507.
Biologischer Wert des Schönen und des Häßlichen. – Was uns instinktiv widersteht, ästhetisch, ist aus allerlängster Erfahrung dem Menschen als schädlich, gefährlich, Mißtrauen verdienend bewiesen: der plötzlich redende ästhetische Instinkt (im Ekel zum Beispiel) enthält ein Urteil. Insofern steht das Schöne innerhalb der allgemeinen Kategorie der biologischen Werte des Nützlichen, Wohltätigen, Leben-steigernden: doch so, daß eine Menge Reize, die ganz von fern an nützliche Dinge und Zustände erinnern und anknüpfen, uns das Gefühl des Schönen, das heißt der Vermehrung von Machtgefühl, geben (– nicht also bloß Dinge, sondern auch die Begleitempfindungen solcher Dinge oder ihre Symbole).
Hiermit ist das Schöne und Häßliche als bedingt erkannt; nämlich in Hinsicht auf unsre untersten Erhaltungswerte. Davon abgesehen ein Schönes und ein Häßliches ansetzen wollen, ist sinnlos. Das Schöne existiert so wenig als das Gute, das Wahre. Im Einzelnen handelt es sich wieder um die Erhaltungsbedingungen einer bestimmten Art von Mensch: so wird der Herdenmensch bei anderen Dingen das Wertgefühl des Schönen haben, als der Ausnahme- und Übermensch.
Es ist die Vordergrundsoptik, welche nur die nächsten Folgen in Betracht zieht, aus der der Wert des Schönen (auch des Guten, auch des Wahren) stammt.
Alle Instinkturteile sind kurzsichtig in Hinsicht auf die Kette der Folgen: sie raten an, was zunächst zu tun ist. Der Verstand ist wesentlich ein Hemmungsapparat gegen das Sofort-Reagieren auf das Instinkturteil: er hält auf, er überlegt weiter, er sieht die Folgenkette ferner und länger.
Die Schönheits- und Häßlichkeitsurteile sind kurzsichtig (– sie haben immer den Verstand gegen sich –):[Pg 282] aber im höchsten Grade überredend; sie appellieren an unsre Instinkte, dort, wo sie am schnellsten sich entscheiden und ihr Ja und Nein sagen, bevor noch der Verstand zu Worte kommt.
Die gewohntesten Schönheitsbejahungen regen sich gegenseitig auf und an; wenn der ästhetische Trieb einmal in Arbeit ist, kristallisiert sich um „das einzelne Schöne“ noch eine ganze Fülle anderer und anderswoher stammender Vollkommenheiten. Es ist nicht möglich, objektiv zu bleiben, respektive die interpretierende, hinzugebende, ausfüllende, dichtende Kraft auszuhängen (– letztere ist jene Verkettung der Schönheitsbejahungen selber). Der Anblick eines „schönen Weibes“....
Also 1. das Schönheitsurteil ist kurzsichtig, es sieht nur die nächsten Folgen;
2. es überhäuft den Gegenstand, der es erregt, mit einem Zauber, der durch die Assoziation verschiedener Schönheitsurteile bedingt ist, – der aber dem Wesen jenes Gegenstandes ganz fremd ist. Ein Ding als schön empfinden heißt: es notwendig falsch empfinden – (weshalb, beiläufig gesagt, die Liebesheirat die gesellschaftlich unvernünftigste Art der Heirat ist).
508.
Der tragische Künstler. – Es ist die Frage der Kraft (eines Einzelnen oder eines Volkes), ob und wo das Urteil „schön“ angesetzt wird. Das Gefühl der Fülle, der aufgestauten Kraft (aus dem es erlaubt ist, vieles mutig und wohlgemut entgegenzunehmen, vor dem der Schwächling schaudert) – das Machtgefühl spricht das Urteil „schön“ noch über Dinge und Zustände aus, welche der Instinkt der Ohnmacht nur als hassenswert, als „häßlich“ abschätzen kann. Die Witterung dafür, womit wir ungefähr fertig werden würden, wenn es leibhaft entgegenträte als Gefahr, Problem, Versuchung, – diese Witterung bestimmt auch noch unser ästhetisches Ja. („Das ist schön“ ist eine Bejahung).
[Pg 283]
Daraus ergibt sich, ins Große gerechnet, daß die Vorliebe für fragwürdige und furchtbare Dinge ein Symptom für Stärke ist: während der Geschmack am Hübschen und Zierlichen den Schwachen, den Delikaten zugehört. Die Lust an der Tragödie kennzeichnet starke Zeitalter und Charaktere: ihr non plus ultra ist vielleicht die divina commedia. Es sind die heroischen Geister, welche zu sich selbst in der tragischen Grausamkeit Ja sagen: sie sind hart genug, um das Leiden als Lust zu empfinden.
Gesetzt dagegen, daß die Schwachen von einer Kunst Genuß begehren, welche für sie nicht erdacht ist, was werden sie tun, um die Tragödie sich schmackhaft zu machen? Sie werden ihre eignen Wertgefühle in sie hinein interpretieren: zum Beispiel den „Triumph der sittlichen Weltordnung“ oder die Lehre vom „Unwert des Daseins“ oder die Aufforderung zur „Resignation“ (– oder auch halb medizinische, halb moralische Affektausladungen à la Aristoteles). Endlich: die Kunst des Furchtbaren, insofern sie die Nerven aufregt, kann als Stimulans bei den Schwachen und Erschöpften in Schätzung kommen: das ist heute zum Beispiel der Grund für die Schätzung der Wagnerschen Kunst. Es ist ein Zeichen von Wohl- und Machtgefühl, wie weit einer den Dingen ihren furchtbaren und fragwürdigen Charakter zugestehen darf; und ob er überhaupt „Lösungen“ am Schluß braucht.
Diese Art Künstlerpessimismus ist genau das Gegenstück zum moralisch-religiösen Pessimismus, welcher an der „Verderbnis“ des Menschen, am Rätsel des Daseins leidet: dieser will durchaus eine Lösung, wenigstens eine Hoffnung auf Lösung. Die Leidenden, Verzweifelten, An-sich-Mißtrauischen, die Kranken mit einem Wort, haben zu allen Zeiten die entzückenden Visionen nötig gehabt, um es auszuhalten (der Begriff „Seligkeit“ ist dieses Ursprungs). Ein verwandter Fall: die Künstler der décadence, welche im Grunde nihilistisch zum Leben stehen, flüchten in die Schönheit der Form, – in die ausgewählten Dinge, wo die Natur vollkommen ward, wo sie[Pg 284] indifferent groß und schön ist.... (– Die „Liebe zum Schönen“ kann somit etwas anderes als das Vermögen sein, ein Schönes zu sehen, das Schöne zu schaffen: sie kann gerade der Ausdruck von Unvermögen dazu sein.)
Die überwältigenden Künstler, welche einen Konsonanzton aus jedem Konflikte erklingen lassen, sind die, welche ihre eigene Mächtigkeit und Selbsterlösung noch den Dingen zugute kommen lassen: sie sprechen ihre innerste Erfahrung in der Symbolik jedes Kunstwerkes aus, – ihr Schaffen ist Dankbarkeit für ihr Sein.
Die Tiefe des tragischen Künstlers liegt darin, daß sein ästhetischer Instinkt die ferneren Folgen übersieht, daß er nicht kurzsichtig beim Nächsten stehen bleibt, daß er die Ökonomie im großen bejaht, welche das Furchtbare, Böse, Fragwürdige rechtfertigt, und nicht nur – rechtfertigt.
509.
Wenn meine Leser darüber zur Genüge eingeweiht sind, daß auch „der Gute“ im großen Gesamtschauspiel des Lebens eine Form der Erschöpfung darstellt: so werden sie der Konsequenz des Christentums die Ehre geben, welche den Guten als den Häßlichen konzipierte. Das Christentum hatte damit recht.
An einem Philosophen ist es eine Nichtswürdigkeit, zu sagen, „das Gute und das Schöne sind eins“; fügt er gar noch hinzu, „auch das Wahre“, so soll man ihn prügeln. Die Wahrheit ist häßlich.
Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen.
510.
Was ist tragisch? – Ich habe zu wiederholten Malen den Finger auf das große Mißverständnis des Aristoteles gelegt, als er in zwei deprimierenden Affekten, im Schrecken und im Mitleiden, die tragischen Affekte zu erkennen glaubte. Hätte er recht, so wäre die Tragödie eine lebensgefährliche Kunst: man müßte vor ihr wie vor etwas[Pg 285] Gemeinschädlichem und Anrüchigem warnen. Die Kunst, sonst das große Stimulans des Lebens, ein Rausch am Leben, ein Wille zum Leben, würde hier, im Dienste einer Abwärtsbewegung, gleichsam als Dienerin des Pessimismus gesundheitsschädlich (– denn daß man durch Erregung dieser Affekte sich von ihnen „purgiert“, wie Aristoteles zu glauben scheint, ist einfach nicht wahr). Etwas, das habituell Schrecken oder Mitleid erregt, desorganisiert, schwächt, entmutigt: – und gesetzt, Schopenhauer behielte recht, daß man der Tragödie die Resignation zu entnehmen habe (das heißt eine sanfte Verzichtleistung auf Glück, auf Hoffnung, auf Willen zum Leben), so wäre hiermit eine Kunst konzipiert, in der die Kunst sich selbst verneint. Tragödie bedeutete dann einen Auflösungsprozeß: der Instinkt des Lebens sich im Instinkt der Kunst selbst zerstörend. Christentum, Nihilismus, tragische Kunst, physiologische décadence: das hielte sich an den Händen, das käme zur selben Stunde zum Übergewicht, das triebe sich gegenseitig vorwärts – abwärts.... Tragödie wäre ein Symptom des Verfalls.
Man kann diese Theorie in der kaltblütigsten Weise widerlegen: nämlich, indem man vermöge des Dynamometers die Wirkung einer tragischen Emotion mißt. Und man bekommt als Ergebnis, was zuletzt nur die absolute Verlogenheit eines Systematikers verkennen kann: – daß die Tragödie ein tonicum ist. Wenn Schopenhauer hier nicht begreifen wollte, wenn er die Gesamtdepression als tragischen Zustand ansetzt, wenn er den Griechen (– die zu seinem Verdruß nicht „resignierten“....) zu verstehen gab, sie hätten sich nicht auf der Höhe der Weltanschauung befunden: so ist das parti pris, Logik des Systems, Falschmünzerei des Systematikers: eine jener schlimmen Falschmünzereien, welche Schopenhauern Schritt für Schritt seine ganze Psychologie verdorben hat (: er, der das Genie, die Kunst selbst, die Moral, die heidnische Religion, die Schönheit, die Erkenntnis und ungefähr alles willkürlich-gewaltsam mißverstanden hat).
[Pg 286]
511.
Das Kunstwerk, wo es ohne Künstler erscheint, zum Beispiel als Leib, als Organisation (preußisches Offizierkorps, Jesuitenorden). Inwiefern der Künstler nur eine Vorstufe ist.
Die Welt als ein sich selbst gebärendes Kunstwerk – –
512.
Der Nihilismus der Artisten. – Die Natur grausam durch ihre Heiterkeit; zynisch mit ihren Sonnenaufgängen. Wir sind feindselig gegen Rührungen. Wir flüchten dorthin, wo die Natur unsre Sinne und unsre Einbildungskraft bewegt; wo wir nichts zu lieben haben, wo wir nicht an die moralischen Scheinbarkeiten und Delikatessen dieser nordischen Natur erinnert werden; – und so auch in den Künsten. Wir ziehen vor, was nicht mehr uns an „Gut und Böse“ erinnert. Unsre moralistische Reizbarkeit und Schmerzfähigkeit ist wie erlöst in einer furchtbaren und glücklichen Natur, im Fatalismus der Sinne und der Kräfte. Das Leben ohne Güte.
Die Wohltat besteht im Anblick der großartigen Indifferenz der Natur gegen Gut und Böse.
Keine Gerechtigkeit in der Geschichte, keine Güte in der Natur: deshalb geht der Pessimist, falls er Artist ist, dorthin in historicis, wo die Absenz der Gerechtigkeit selber noch mit großartiger Naivität sich zeigt, wo gerade die Vollkommenheit zum Ausdruck kommt –, und insgleichen in der Natur dorthin, wo der böse und indifferente Charakter sich nicht verhehlt, wo sie den Charakter der Vollkommenheit darstellt.... Der nihilistische Künstler verrät sich im Wollen und Bevorzugen der zynischen Geschichte, der zynischen Natur.
513.
Ich setze hier eine Reihe psychologischer Zustände als Zeichen vollen und blühenden Lebens hin, welche man heute gewohnt ist, als krankhaft zu beurteilen. Nun haben wir[Pg 287] inzwischen verlernt, zwischen gesund und krank von einem Gegensatze zu reden: es handelt sich um Grade, – meine Behauptung in diesem Falle ist, daß, was heute „gesund“ genannt wird, ein niedrigeres Niveau von dem darstellt, was unter günstigen Verhältnissen gesund wäre –, daß wir relativ krank sind.... Der Künstler gehört zu einer noch stärkeren Rasse. Was uns schon schädlich, was bei uns krankhaft wäre, ist bei ihm Natur – – Aber man wendet uns ein, daß gerade die Verarmung der Maschine die extravagante Verständniskraft über jedwede Suggestion ermögliche: Zeugnis unsre hysterischen Weiblein.
Die Überfülle an Säften und Kräften kann so gut Symptome der partiellen Unfreiheit, von Sinneshalluzinationen, von Suggestionsraffinements mit sich bringen wie eine Verarmung an Leben –, der Reiz ist anders bedingt, die Wirkung bleibt sich gleich.... Vor allem ist die Nachwirkung nicht dieselbe; die extreme Erschlaffung aller morbiden Naturen nach ihren Nervenexzentrizitäten hat nichts mit den Zuständen des Künstlers gemein: der seine guten Zeiten nicht abzubüßen hat.... Er ist reich genug dazu: er kann verschwenden, ohne arm zu werden.
Wie man heute „Genie“ als eine Form der Neurose beurteilen dürfte, so vielleicht auch die künstlerische Suggestivkraft, – und unsre Artisten sind in der Tat den hysterischen Weiblein nur zu verwandt!!! Das aber spricht gegen „heute“, und nicht gegen die „Künstler“.
Die unkünstlerischen Zustände: die der Objektivität, der Spiegelung, des ausgehängten Willens.... (das skandalöse Mißverständnis Schopenhauers, der die Kunst als Brücke zur Verneinung des Lebens nimmt).... Die unkünstlerischen Zustände: der Verarmenden, Abziehenden, Abblassenden, unter deren Blick das Leben leidet: – der Christ.
514.
Der moderne Künstler, in seiner Physiologie dem Hysterismus nächstverwandt, ist auch als Charakter auf diese Krankhaftigkeit hin abgezeichnet. Der Hysteriker ist falsch,[Pg 288] – er lügt aus Lust an der Lüge, er ist bewunderungswürdig in jeder Kunst der Verstellung –, es sei denn, daß seine krankhafte Eitelkeit ihm einen Streich spielt. Diese Eitelkeit ist ein fortwährendes Fieber, welches Betäubungsmittel nötig hat und vor keinem Selbstbetrug, vor keiner Farce zurückschreckt, die eine augenblickliche Linderung verspricht. (Unfähigkeit zum Stolz und beständig Rache für eine tief eingenistete Selbstverachtung nötig zu haben – das ist beinahe die Definition dieser Art von Eitelkeit.)
Die absurde Erregbarkeit seines Systems, die aus allen Erlebnissen Krisen macht und das „Dramatische“ in die geringsten Zufälle des Lebens einschleppt, nimmt ihm alles Berechenbare: er ist keine Person mehr, höchstens ein Rendezvous von Personen, von denen bald diese, bald jene mit unverschämter Sicherheit herausschießt. Eben darum ist er groß als Schauspieler: alle diese armen Willenlosen, welche die Ärzte in der Nähe studieren, setzen in Erstaunen durch ihre Virtuosität der Mimik, der Transfiguration, des Eintretens in fast jeden verlangten Charakter.
515.
Künstler sind nicht die Menschen der großen Leidenschaft, was sie uns und sich auch vorreden mögen. Und das aus zwei Gründen: es fehlt ihnen die Scham vor sich selber (sie sehen sich zu, indem sie leben; sie lauern sich auf, sie sind zu neugierig), und es fehlt ihnen auch die Scham vor der großen Leidenschaft (sie beuten sie als Artisten aus). Zweitens aber ihr Vampyr, ihr Talent, mißgönnt ihnen meist solche Verschwendung von Kraft, welche Leidenschaft heißt. – Mit einem Talent ist man auch das Opfer seines Talents: man lebt unter dem Vampyrismus seines Talents.
Man wird nicht dadurch mit seiner Leidenschaft fertig, daß man sie darstellt: vielmehr, man ist mit ihr fertig, wenn man sie darstellt. (Goethe lehrt es anders; aber es scheint, daß er hier sich selbst mißverstehen wollte, – aus delicatezza.)
[Pg 289]
516.
Verglichen mit dem Künstler, ist das Erscheinen des wissenschaftlichen Menschen in der Tat ein Zeichen einer gewissen Eindämmung und Niveauerniedrigung des Lebens (– aber auch einer Verstärkung, Strenge, Härte, Willenskraft).
Inwiefern die Falschheit, die Gleichgültigkeit gegen Wahr und Nützlich beim Künstler Zeichen von Jugend, von „Kinderei“ sein mögen.... Ihre habituelle Art, ihre Unvernünftigkeit, ihre Ignoranz über sich, ihre Gleichgültigkeit gegen „ewige Werte“, ihr Ernst im „Spiele“, – ihr Mangel an Würde; Hanswurst und Gott benachbart; der Heilige und die Kanaille.... Das Nachmachen als Instinkt, kommandierend. – Aufgangskünstler – Niedergangskünstler: ob sie nicht allen Phasen zugehören?.... Ja!
517.
Würde irgendein Ring in der ganzen Kette von Kunst und Wissenschaft fehlen, wenn das Weib, wenn das Werk des Weibes darin fehlte? Geben wir die Ausnahme zu – sie beweist die Regel – das Weib bringt es in allem zur Vollkommenheit, was nicht ein Werk ist, in Brief, in Memoiren, selbst in der delikatesten Handarbeit, die es gibt, kurz, in allem, was nicht ein Metier ist, genau deshalb, weil es darin sich selbst vollendet, weil es damit seinem einzigen Kunstantrieb gehorcht, den es besitzt, – es will gefallen... Aber was hat das Weib mit der leidenschaftlichen Indifferenz des echten Künstlers zu schaffen, der einem Klang, einem Hauch, einem Hopsasa mehr Wichtigkeit zugesteht als sich selbst? der mit allen fünf Fingern nach seinem Geheimsten und Innersten greift? der keinem Dinge einen Wert zugesteht, es sei denn, daß es Form zu werden weiß (– daß es sich preisgibt, daß es sich öffentlich macht –). Die Kunst, so wie der Künstler sie übt – begreift ihr's denn nicht, was sie ist: ein Attentat auf alle pudeurs?.... Erst mit diesem Jahrhundert hat das Weib jene Schwenkung[Pg 290] zur Literatur gewagt (– vers la canaille plumière écrivassière, mit dem alten Mirabeau zu reden): es schriftstellert, es künstlert, es verliert an Instinkt. Wozu doch? wenn man fragen darf?
518.
Man ist um den Preis Künstler, daß man das, was alle Nichtkünstler „Form“ nennen, als Inhalt, als „die Sache selbst“ empfindet. Damit gehört man freilich in eine verkehrte Welt: denn nunmehr wird einem der Inhalt zu etwas bloß Formalem, – unser Leben eingerechnet.
519.
Zur Charakteristik des nationalen Genius in Hinsicht auf Fremdes und Entlehntes. –
Der englische Genius vergröbert und vernatürlicht alles, was er empfängt;
der französische verdünnt, vereinfacht, logisiert, putzt auf;
der deutsche vermischt, vermittelt, verwickelt, vermoralisiert;
der italienische hat bei weitem den freiesten und feinsten Gebrauch vom Entlehnten gemacht und hundertmal mehr hineingesteckt als herausgezogen: als der reichste Genius, der am meisten zu verschenken hatte.
520.
Wenn man unter Genie eines Künstlers die höchste Freiheit unter dem Gesetz, die göttliche Leichtigkeit, Leichtfertigkeit im schwersten versteht, so hat Offenbach noch mehr Anrecht auf den Namen „Genie“ als Wagner. Wagner ist schwer, schwerfällig: nichts ist ihm fremder als Augenblicke übermütigster Vollkommenheit, wie sie dieser Hanswurst Offenbach fünf-, sechsmal fast in jeder seiner bouffonneries erreicht. Aber vielleicht darf man unter Genie etwas anderes verstehen. –
521.
Pessimismus in der Kunst? – Der Künstler liebt allmählich die Mittel um ihrer selber willen, in denen sich der[Pg 291] Rauschzustand zu erkennen gibt: die extreme Feinheit und Pracht der Farbe, die Deutlichkeit der Linie, die Nuance des Tons: das Distinkte, wo sonst, im Normalen, alle Distinktion fehlt. Alle distinkten Sachen, alle Nuancen, insofern sie an die extremen Kraftsteigerungen erinnern, welche der Rausch erzeugt, wecken rückwärts dieses Gefühl des Rausches; – die Wirkung der Kunstwerke ist die Erregung des kunstschaffenden Zustands, des Rausches.
Das Wesentliche an der Kunst bleibt ihre Daseinsvollendung, ihr Hervorbringen der Vollkommenheit und Fülle; Kunst ist wesentlich Bejahung, Segnung, Vergöttlichung des Daseins.... Was bedeutet eine pessimistische Kunst? Ist das nicht eine contradictio? – Ja. – Schopenhauer irrt, wenn er gewisse Werke der Kunst in den Dienst des Pessimismus stellt. Die Tragödie lehrt nicht „Resignation“.... Die furchtbaren und fragwürdigen Dinge darstellen, ist selbst schon ein Instinkt der Macht und Herrlichkeit am Künstler: er fürchtet sie nicht.... Es gibt keine pessimistische Kunst.... Die Kunst bejaht. Hiob bejaht. – Aber Zola? Aber die Goncourts? – Die Dinge sind häßlich, die sie zeigen: aber daß sie dieselben zeigen, ist aus Lust an diesem Häßlichen.... Hilft nichts! ihr betrügt euch, wenn ihr's anders behauptet. – Wie erlösend ist Dostoiewsky!
522.
Es sind die Ausnahmezustände, die den Künstler bedingen: alle, die mit krankhaften Erscheinungen tief verwandt und verwachsen sind: so daß es nicht möglich scheint, Künstler zu sein und nicht krank zu sein.
Die physiologischen Zustände, welche im Künstler gleichsam zur „Person“ gezüchtet sind und die an sich in irgendwelchem Grade dem Menschen überhaupt anhaften:
1. der Rausch: das erhöhte Machtgefühl; die innere Nötigung, aus den Dingen einen Reflex der eignen Fülle und Vollkommenheit zu machen;
2. die extreme Schärfe gewisser Sinne: so daß sie eine[Pg 292] ganz andre Zeichensprache verstehen – und schaffen, – dieselbe, die mit manchen Nervenkrankheiten verbunden erscheint –; die extreme Beweglichkeit, aus der eine extreme Mitteilsamkeit wird; das Redenwollen alles dessen, was Zeichen zu geben weiß –; ein Bedürfnis, sich gleichsam loszuwerden durch Zeichen und Gebärden; Fähigkeit, von sich durch hundert Sprachmittel zu reden, – ein explosiver Zustand. Man muß sich diesen Zustand zunächst als Zwang und Drang denken, durch alle Art Muskelarbeit und Beweglichkeit die Exuberanz der inneren Spannung loszuwerden: sodann als unfreiwillige Koordination dieser Bewegung zu den inneren Vorgängen (Bildern, Gedanken, Begierden), – als eine Art Automatismus des ganzen Muskelsystems unter dem Impuls von innen wirkender starker Reize –; Unfähigkeit, die Reaktion zu verhindern; der Hemmungsapparat gleichsam ausgehängt. Jede innere Bewegung (Gefühl, Gedanke, Affekt) ist begleitet von Vaskularveränderungen und folglich von Veränderungen der Farbe, der Temperatur, der Sekretion. Die suggestive Kraft der Musik, ihre „suggestion mentale“; –
3. das Nachmachen-müssen: eine extreme Irritabilität, bei der sich ein gegebenes Vorbild kontagiös mitteilt, – ein Zustand wird nach Zeichen schon erraten und dargestellt.... Ein Bild, innerlich auftauchend, wirkt schon als Bewegung der Glieder –, eine gewisse Willensaushängung.... (Schopenhauer!!!!) Eine Art Taubsein, Blindsein nach außen hin, – das Reich der zugelassenen Reize ist scharf umgrenzt.
Dies unterscheidet den Künstler vom Laien (dem künstlerisch Empfänglichen): letzterer hat im Aufnehmen seinen Höhepunkt von Reizbarkeit; ersterer im Geben, – dergestalt, daß ein Antagonismus dieser beiden Begabungen nicht nur natürlich, sondern wünschenswert ist. Jeder dieser Zustände hat eine umgekehrte Optik, – vom Künstler verlangen, daß er sich die Optik des Zuhörers (Kritiker –) einübe, heißt verlangen, daß er sich und seine schöpferische Kraft verarme.... Es ist hier wie bei der Differenz der[Pg 293] Geschlechter: man soll vom Künstler, der gibt, nicht verlangen, daß er Weib wird, – daß er „empfängt“.
Unsere Ästhetik war insofern bisher eine Weibsästhetik, als nur die Empfänglichen für Kunst ihre Erfahrungen „was ist schön?“ formuliert haben. In der ganzen Philosophie bis heute fehlt der Künstler.... Das ist, wie das Vorhergehende andeutete, ein notwendiger Fehler: denn der Künstler, der anfinge, sich zu begreifen, würde sich damit vergreifen, – er hat nicht zurückzusehen, er hat überhaupt nicht zu sehen, er hat zu geben. – Es ehrt einen Künstler, der Kritik unfähig zu sein, – andernfalls ist er halb und halb, ist er „modern“.
523.
Das Rauschgefühl, tatsächlich einem Mehr von Kraft entsprechend: am stärksten in der Paarungszeit der Geschlechter: neue Organe, neue Fertigkeiten, Farben, Formen; – die „Verschönerung“ ist eine Folge der erhöhten Kraft. Verschönerung als Ausdruck eines siegreichen Willens, einer gesteigerten Koordination, einer Harmonisierung aller starken Begehrungen, eines unfehlbar perpendikulären Schwergewichts. Die logische und geometrische Vereinfachung ist eine Folge der Krafterhöhung: umgekehrt erhöht wieder das Wahrnehmen solcher Vereinfachung das Kraftgefühl.... Spitze der Entwicklung: der große Stil.
Die Häßlichkeit bedeutet décadence eines Typus, Widerspruch und mangelnde Koordination der inneren Begehrungen, – bedeutet einen Niedergang an organisierender Kraft, an „Willen“, psychologisch geredet.
Der Lustzustand, den man Rausch nennt, ist exakt ein hohes Machtgefühl.... Die Raum- und Zeitempfindungen sind verändert: ungeheure Fernen werden überschaut und gleichsam erst wahrnehmbar; die Ausdehnung des Blicks über größere Mengen und Weiten; die Verfeinerung des Organs für die Wahrnehmung vieles Kleinsten und Flüchtigsten; die Divination, die Kraft des Verstehens auf die leiseste Hilfe hin, auf jede Suggestion hin: die „intelligente“[Pg 294] Sinnlichkeit –; die Stärke als Herrschaftsgefühl in den Muskeln, als Geschmeidigkeit und Lust an der Bewegung, als Tanz, als Leichtigkeit und Presto; die Stärke als Lust am Beweis der Stärke, als Bravourstück, Abenteuer, Furchtlosigkeit, Gleichgültigkeit gegen Leben und Tod.... Alle diese Höhenmomente des Lebens regen sich gegenseitig an; die Bilder- und Vorstellungswelt des einen genügt als Suggestion für den andern: – dergestalt sind schließlich Zustände ineinander verwachsen, die vielleicht Grund hätten, sich fremd zu bleiben. Zum Beispiel: das religiöse Rauschgefühl und die Geschlechtserregung (– zwei tiefe Gefühle, nachgerade fast verwunderlich koordiniert. Was gefällt allen frommen Frauen, alten? jungen? Antwort: ein Heiliger mit schönen Beinen, noch jung, noch Idiot). Die Grausamkeit in der Tragödie und das Mitleid (– ebenfalls normal koordiniert....). Frühling, Tanz, Musik: – alles Wettbewerb der Geschlechter, – und auch noch jene Faustische „Unendlichkeit im Busen“.
Die Künstler, wenn sie etwas taugen, sind (auch leiblich) stark angelegt, überschüssig, Krafttiere, sensuell; ohne eine gewisse Überheizung des geschlechtlichen Systems ist kein Raffael zu denken.... Musik machen ist auch noch eine Art Kindermachen; Keuschheit ist bloß die Ökonomie eines Künstlers, – und jedenfalls hört auch bei Künstlern die Fruchtbarkeit mit der Zeugungskraft auf.... Die Künstler sollen nichts so sehen, wie es ist, sondern voller, sondern einfacher, sondern stärker: dazu muß ihnen eine Art Jugend und Frühling, eine Art habitueller Rausch im Leben eigen sein.
524.
Die Zustände, in denen wir eine Verklärung und Fülle in die Dinge legen und an ihnen dichten, bis sie unsre eigne Fülle und Lebenslust zurückspiegeln: der Geschlechtstrieb; der Rausch; die Mahlzeit; der Frühling; der Sieg über den Feind, der Hohn; das Bravourstück; die Grausamkeit; die Ekstase des religiösen Gefühls. Drei Elemente vornehmlich: der Geschlechtstrieb, der Rausch, die Grau[Pg 295]samkeit, – alle zur ältesten Festfreude des Menschen gehörend, alle insgleichen im anfänglichen „Künstler“ überwiegend.
Umgekehrt: treten uns Dinge entgegen, welche diese Verklärung und Fülle zeigen, so antwortet das animalische Dasein mit einer Erregung jener Sphären, wo alle jene Lustzustände ihren Sitz haben: – und eine Mischung dieser sehr zarten Nuancen von animalischen Wohlgefühlen und Begierden ist der ästhetische Zustand. Letzterer tritt nur bei solchen Naturen ein, welche jener abgebenden und überströmenden Fülle des leiblichen vigor überhaupt fähig sind; in ihm ist immer das primum mobile. Der Nüchterne, der Müde, der Erschöpfte, der Vertrocknende (zum Beispiel ein Gelehrter) kann absolut nichts von der Kunst empfangen, weil er die künstlerische Urkraft, die Nötigung des Reichtums nicht hat: wer nicht geben kann, empfängt auch nichts.
„Vollkommenheit“: – in jenen Zuständen (bei der Geschlechtsliebe insonderheit) verrät sich naiv, was der tiefste Instinkt als das Höhere, Wünschbarere, Wertvollere überhaupt anerkennt, die Aufwärtsbewegung seines Typus; insgleichen nach welchem Status er eigentlich strebt. Die Vollkommenheit: das ist die außerordentliche Erweiterung seines Machtgefühls, der Reichtum, das notwendige Überschäumen über alle Ränder....
525.
Die Sinnlichkeit in ihren Verkleidungen: 1. als Idealismus „Plato“), der Jugend eigen, dieselbe Art von Hohlspiegelbild schaffend, wie die Geliebte im speziellen erscheint, eine Inkrustation, Vergrößerung, Verklärung, Unendlichkeit um jedes Ding legend – : 2. in der Religion der Liebe: „ein schöner, junger Mann, ein schönes Weib“, irgendwie göttlich, ein Bräutigam, eine Braut der Seele – : 3. in der Kunst, als „schmückende“ Gewalt: wie der Mann das Weib sieht, indem er ihr gleichsam alles zum Präsent macht, was es von Vorzügen gibt, so legt die Sinnlichkeit des[Pg 296] Künstlers in ein Objekt, was er sonst noch ehrt und hochhält – dergestalt vollendet er ein Objekt („idealisiert“ es). Das Weib, unter dem Bewußtsein, was der Mann in bezug auf das Weib empfindet, kommt dessen Bemühen nach Idealisierung entgegen, indem es sich schmückt, schön geht, tanzt, zarte Gedanken äußert: insgleichen übt sie Scham, Zurückhaltung, Distanz – mit dem Instinkt dafür, daß damit das idealisierende Vermögen des Mannes wächst. (– Bei der ungeheuren Feinheit des weiblichen Instinkts bleibt die Scham keineswegs bewußte Heuchelei: sie errät, daß gerade die naive wirkliche Schamhaftigkeit den Mann am meisten verführt und zur Überschätzung drängt. Darum ist das Weib naiv – aus Feinheit des Instinkts, welcher ihr die Nützlichkeit des Unschuldigseins anrät. Ein willentliches die-Augen-über-sich-geschlossen-halten.... Überall, wo die Verstellung stärker wirkt, wenn sie unbewußt ist, wird sie unbewußt.)
526.
Was der Rausch alles vermag, der „Liebe“ heißt, und der noch etwas anderes ist als Liebe! – Doch darüber hat jedermann seine Wissenschaft. Die Muskelkraft eines Mädchens wächst, sobald nur ein Mann in seine Nähe kommt; es gibt Instrumente, dies zu messen. Bei einer noch näheren Beziehung der Geschlechter, wie sie zum Beispiel der Tanz und andere gesellschaftliche Gepflogenheiten mit sich bringen, nimmt diese Kraft dergestalt zu, um zu wirklichen Kraftstücken zu befähigen: man traut endlich seinen Augen nicht – und seiner Uhr! Hier ist allerdings einzurechnen, daß der Tanz an sich schon, gleich jeder sehr geschwinden Bewegung, eine Art Rausch für das gesamte Gefäß-, Nerven- und Muskelsystem mit sich bringt. Man hat in diesem Falle mit den kombinierten Wirkungen eines doppelten Rausches zu rechnen. – Und wie weise es mitunter ist, einen kleinen Stich zu haben!.... Es gibt Realitäten, die man nie sich eingestehen darf; dafür ist man Weib, dafür hat man alle weiblichen pudeurs.... Diese jungen Geschöpfe,[Pg 297] die dort tanzen, sind ersichtlich jenseits aller Realität: sie tanzen nur mit lauter handgreiflichen Idealen; sie sehen sogar, was mehr ist, noch Ideale um sich sitzen: die Mütter!.... Gelegenheit, Faust zu zitieren.... Sie sehen unvergleichlich besser aus, wenn sie dergestalt ihren kleinen Stich haben, diese hübschen Kreaturen, – o wie gut sie das auch wissen! sie werden sogar liebenswürdig, weil sie das wissen! – Zuletzt inspiriert sie auch noch ihr Putz; ihr Putz ist ihr dritter kleiner Rausch: sie glauben an ihren Schneider, wie sie an ihren Gott glauben: – und wer widerriete ihnen diesen Glauben! Dieser Glaube macht selig! Und die Selbstbewunderung ist gesund! – Selbstbewunderung schützt vor Erkältung. Hat sich je ein hübsches Weib erkältet, das sich gut bekleidet wußte? Nun und nimmermehr! Ich setze selbst den Fall, daß es kaum bekleidet war.
527.
Will man den erstaunlichsten Beweis dafür, wie weit die Transfigurationskraft des Rausches geht? – Die „Liebe“ ist dieser Beweis: Das, was Liebe heißt in allen Sprachen und Stummheiten der Welt. Der Rausch wird hier mit der Realität in einer Weise fertig, daß im Bewußtsein des Liebenden die Ursache ausgelöscht und etwas anderes sich an ihrer Stelle zu finden scheint, – ein Zittern und Aufglänzen aller Zauberspiegel der Circe.... Hier macht Mensch und Tier keinen Unterschied; noch weniger Geist, Güte, Rechtschaffenheit. Man wird fein genarrt, wenn man fein ist; man wird grob genarrt, wenn man grob ist: aber die Liebe, und selbst die Liebe zu Gott, die Heiligenliebe „erlöster Seelen“, bleibt in der Wurzel eins: ein Fieber, das Gründe hat, sich zu transfigurieren, ein Rausch, der gut tut, über sich zu lügen.... Und jedenfalls lügt man gut, wenn man liebt, vor sich und über sich: man scheint sich transfiguriert, stärker, reicher, vollkommener, man ist vollkommener.... Wir finden hier die Kunst als organische Funktion: wir finden sie eingelegt in den engelhaftesten Instinkt „Liebe“: wir finden sie als größtes Stimulans des Lebens, – Kunst[Pg 298] somit als sublim zweckmäßig auch noch darin, daß sie lügt.... Aber wir würden irren, bei ihrer Kraft, zu lügen, stehenzubleiben: sie tut mehr als bloß imaginieren: sie verschiebt selbst die Werte. Und nicht nur, daß sie das Gefühl der Werte verschiebt: der Liebende ist mehr wert, ist stärker. Bei den Tieren treibt dieser Zustand neue Waffen, Pigmente, Farben und Formen heraus: vor allem neue Bewegungen, neue Rhythmen, neue Locktöne und Verführungen. Beim Menschen ist es nicht anders. Sein Gesamthaushalt ist reicher als je, mächtiger, ganzer als im Nichtliebenden. Der Liebende wird Verschwender: er ist reich genug dazu. Er wagt jetzt, wird Abenteurer, wird ein Esel an Großmut und Unschuld; er glaubt wieder an Gott, er glaubt an die Tugend, weil er an die Liebe glaubt: und andererseits wachsen diesem Idioten des Glücks Flügel und neue Fähigkeiten, und selbst zur Kunst tut sich ihm die Tür auf. Rechnen wir aus der Lyrik in Ton und Wort die Suggestion jenes intestinalen Fiebers ab: was bleibt von der Lyrik und Musik übrig?.... L'art pour l'art vielleicht: das virtuose Gequak kaltgestellter Frösche, die in ihrem Sumpfe desperieren.... Den ganzen Rest schuf die Liebe....
528.
Alle Kunst wirkt als Suggestion auf die Muskeln und Sinne, welche ursprünglich beim naiven künstlerischen Menschen tätig sind: sie redet immer nur zu Künstlern, – sie redet zu dieser Art von feiner Beweglichkeit des Leibes. Der Begriff „Laie“ ist ein Fehlgriff. Der Taube ist keine Spezies des Guthörigen.
Alle Kunst wirkt tonisch, mehrt die Kraft, entzündet die Lust (das heißt das Gefühl der Kraft), regt alle die feineren Erinnerungen des Rausches an, – es gibt ein eigenes Gedächtnis, das in solche Zustände hinunterkommt: eine ferne und flüchtige Welt von Sensationen kehrt da zurück.
Das Häßliche, das heißt der Widerspruch zur Kunst, das, was ausgeschlossen wird von der Kunst, ihr Nein: – jedesmal, wenn der Niedergang, die Verarmung an Leben,[Pg 299] die Ohnmacht, die Auflösung, die Verwesung von fern nur angeregt wird, reagiert der ästhetische Mensch mit seinem Nein. Das Häßliche wirkt depressiv: es ist der Ausdruck einer Depression. Es nimmt Kraft, es verarmt, es drückt.. Das Häßliche suggeriert Häßliches; man kann an seinen Gesundheitszuständen erproben, wie unterschiedlich das Schlechtbefinden auch die Fähigkeit der Phantasie des Häßlichen steigert. Die Auswahl wird anders, von Sachen, Interessen, Fragen. Es gibt einen dem Häßlichen nächstverwandten Zustand auch im Logischen: – Schwere, Dumpfheit. Mechanisch fehlt dabei das Gleichgewicht: das Häßliche hinkt, das Häßliche stolpert: – Gegensatz einer göttlichen Leichtfertigkeit des Tanzenden.
Der ästhetische Zustand hat einen Überreichtum von Mitteilungsmitteln zugleich mit einer extremen Empfänglichkeit für Reize und Zeichen. Er ist der Höhepunkt der Mitteilsamkeit und Übertragbarkeit zwischen lebenden Wesen, – er ist die Quelle der Sprachen. Die Sprachen haben hier ihren Entstehungsherd: die Tonsprachen so gut als die Gebärden- und Blicksprachen. Das vollere Phänomen ist immer der Anfang: unsere Vermögen sind subtilisiert aus volleren Vermögen. Aber auch heute hört man noch mit den Muskeln, man liest selbst noch mit den Muskeln.
Jede reife Kunst hat eine Fülle Konvention zur Grundlage: insofern sie Sprache ist. Die Konvention ist die Bedingung der großen Kunst, nicht deren Verhinderung.... Jede Erhöhung des Lebens steigert die Mitteilungskraft, insgleichen die Verständniskraft des Menschen. Das Sichhineinleben in andere Seelen ist ursprünglich nichts Moralisches, sondern eine physiologische Reizbarkeit der Suggestion: die „Sympathie“ oder was man „Altruismus“ nennt, sind bloße Ausgestaltungen jenes zur Geistigkeit gerechneten psycho-motorischen Rapports (induction psycho-motrice meint Ch. Féré). Man teilt sich nie Gedanken mit: man teilt sich Bewegungen mit, mimische Zeichen, welche von uns auf Gedanken hin zurückgelesen werden.
[Pg 300]
529.
Die Kunst erinnert uns an Zustände des animalischen vigor; sie ist einmal ein Überschuß und Ausströmen von blühender Leiblichkeit in die Welt der Bilder und Wünsche; andrerseits eine Anreizung der animalischen Funktionen durch Bilder und Wünsche des gesteigerten Lebens; – eine Erhöhung des Lebensgefühls, ein Stimulans desselben.
Inwiefern kann auch das Häßliche noch diese Gewalt haben? Insofern es noch von der siegreichen Energie des Künstlers etwas mitteilt, der über dies Häßliche und Furchtbare Herr geworden ist; oder insofern es die Lust der Grausamkeit in uns leise anregt (unter Umständen selbst die Lust, uns wehe zu tun, die Selbstvergewaltigung: und damit das Gefühl der Macht über uns).
530.
Zur Genesis der Kunst. – Jenes Vollkommenmachen, Vollkommensehen, welches dem mit geschlechtlichen Kräften überladenen zerebralen System zu eigen ist (der Abend zusammen mit der Geliebten, die kleinsten Zufälligkeiten verklärt, das Leben eine Abfolge sublimer Dinge, „das Unglück des Unglücklich-Liebenden mehr wert als irgend etwas“): andrerseits wirkt jedes Vollkommene und Schöne als unbewußte Erinnerung jenes verliebten Zustandes und seiner Art, zu sehen – jede Vollkommenheit, die ganze Schönheit der Dinge erweckt durch contiguity die aphrodisische Seligkeit wieder. (Physiologisch: der schaffende Instinkt des Künstlers und die Verteilung des semen ins Blut....) Das Verlangen nach Kunst und Schönheit ist ein indirektes Verlangen nach den Entzückungen des Geschlechtstriebes, welche er dem Zerebrum mitteilt. Die vollkommen gewordne Welt, durch „Liebe“....
531.
Die Vermoralisierung der Künste. – Kunst als Freiheit von der moralischen Verengung und Winkeloptik; oder als Spott über sie. Die Flucht in die Natur, wo ihre[Pg 301] Schönheit mit der Furchtbarkeit sich paart. Konzeption des großen Menschen.
– Zerbrechliche, unnütze Luxusseelen, welche ein Hauch schon trübe macht, „die schönen Seelen“.
– Die verblichenen Ideale aufwecken in ihrer schonungslosen Härte und Brutalität, als die prachtvollsten Ungeheuer, die sie sind.
– Ein frohlockender Genuß an der psychologischen Einsicht in die Sinuosität und Schauspielerei wider Wissen bei allen vermoralisierten Künstlern.
– Die Falschheit der Kunst, – ihre Immoralität ans Licht ziehen.
– Die „idealisierenden Grundmächte“ (Sinnlichkeit, Rausch, überreiche Animalität) ans Licht ziehen.
532.
Im dionysischen Rausche ist die Geschlechtlichkeit und die Wollust; sie fehlt nicht im apollinischen. Es muß noch eine Tempoverschiedenheit in beiden Zuständen geben.... Die extreme Ruhe gewisser Rauschempfindungen (strenger: die Verlangsamung des Zeit- und Raumgefühls) spiegelt sich gern in der Vision der ruhigsten Gebärden und Seelenarten. Der klassische Stil stellt wesentlich diese Ruhe, Vereinfachung, Abkürzung, Konzentration dar, – das höchste Gefühl der Macht ist konzentriert im klassischen Typus. Schwer reagieren: ein großes Bewußtsein: kein Gefühl von Kampf.
533.
Apollinisch – dionysisch. – Es gibt zwei Zustände, in denen die Kunst selbst wie eine Naturgewalt im Menschen auftritt, über ihn verfügend, ob er will oder nicht: einmal als Zwang zur Vision, andrerseits als Zwang zum Orgiasmus. Beide Zustände sind auch im normalen Leben vorgespiegelt, nur schwächer: im Traum und im Rausch.
Aber derselbe Gegensatz besteht noch zwischen Traum und Rausch: beide entfesseln in uns künstlerische Gewalten, jede aber verschieden: der Traum die des Sehens, Verknüpfens,[Pg 302] Dichtens; der Rausch die der Gebärde, der Leidenschaft, des Gesangs, des Tanzes.
534.
Der Sinn und die Lust an der Nuance (– die eigentliche Modernität), an dem, was nicht generell ist, läuft dem Triebe entgegen, welcher seine Lust und Kraft im Erfassen des Typischen hat: gleich dem griechischen Geschmack der besten Zeit. Ein Überwältigen der Fülle des Lebendigen ist darin, das Maß wird Herr, jene Ruhe der starken Seele liegt zugrunde, welche sich langsam bewegt und einen Widerwillen vor dem Allzulebendigen hat. Der allgemeine Fall, das Gesetz wird verehrt und herausgehoben; die Ausnahme wird umgekehrt beiseite gestellt, die Nuance weggewischt. Das Feste, Mächtige, Solide, das Leben, das breit und gewaltig ruht und seine Kraft birgt – das „gefällt“: das heißt, das korrespondiert mit dem, was man von sich hält.
535.
„Musik“ – und der große Stil. – Die Größe eines Künstlers bemißt sich nicht nach den „schönen Gefühlen“, die er erregt: das mögen die Weiblein glauben. Sondern nach dem Grade, in dem er sich dem großen Stile nähert, in dem er fähig ist des großen Stils. Dieser Stil hat das mit der großen Leidenschaft gemein, daß er es verschmäht, zu gefallen; daß er es vergißt, zu überreden; daß er befiehlt; daß er will.... Über das Chaos Herr werden, das man ist; sein Chaos zwingen, Form zu werden: logisch, einfach, unzweideutig, Mathematik, Gesetz werden – das ist hier die große Ambition. – Mit ihr stößt man zurück; nichts reizt mehr die Liebe zu solchen Gewaltmenschen, – eine Einöde legt sich um sie, ein Schweigen, eine Furcht wie vor einem großen Frevel.... Alle Künste kennen solche Ambitiöse des großen Stils: warum fehlen sie in der Musik? Noch niemals hat ein Musiker gebaut wie jener Baumeister, der den Palazzo Pitti schuf.... Hier liegt ein Problem. Gehört die Musik vielleicht in jene Kultur, wo das Reich aller Art Gewaltmenschen schon zu Ende ging? Wider[Pg 303]spräche zuletzt der Begriff großer Stil schon der Seele der Musik, – dem „Weibe“ in unsrer Musik?....
Ich berühre hier eine Kardinalfrage: wohin gehört unsre ganze Musik? Die Zeitalter des klassischen Geschmacks kennen nichts ihr Vergleichbares: sie ist aufgeblüht, als die Renaissancewelt ihren Abend erreichte, als die „Freiheit“ aus den Sitten und selbst aus den Menschen davon war: – gehört es zu ihrem Charakter, Gegenrenaissance zu sein? Ist sie die Schwester des Barockstils, da sie jedenfalls seine Zeitgenossin ist? Ist Musik, moderne Musik nicht schon décadence?....
Ich habe schon früher einmal den Finger auf diese Frage gelegt: ob unsre Musik nicht ein Stück Gegenrenaissance in der Kunst ist? ob sie nicht die Nächstverwandte des Barockstils ist? ob sie nicht im Widerspruch zu allem klassischen Geschmack gewachsen ist, so daß sich in ihr jede Ambition der Klassizität von selbst verböte?
Auf diese Wertfrage ersten Ranges würde die Antwort nicht zweifelhaft sein dürfen, wenn die Tatsache richtig abgeschätzt worden wäre, daß die Musik ihre höchste Reife und Fülle als Romantik erlangt –, noch einmal als Reaktionsbewegung gegen die Klassizität.
Mozart – eine zärtliche und verliebte Seele, aber ganz achtzehntes Jahrhundert, auch noch in seinem Ernste.... Beethoven der erste große Romantiker im Sinne des französischen Begriffs Romantik, wie Wagner der letzte große Romantiker ist.... beides instinktive Widersacher des klassischen Geschmacks, des strengen Stils, – um vom „großen“ hier nicht zu reden.
536.
Die Romantik: eine zweideutige Frage, wie alles Moderne.
Die ästhetischen Zustände zwiefach.
Die Vollen und Schenkenden im Gegensatz zu den Suchenden, Begehrenden.
[Pg 304]
537.
Ein Romantiker ist ein Künstler, den das große Mißvergnügen an sich schöpferisch macht – der von sich und seiner Mitwelt wegblickt, zurückblickt.
538.
Ist die Kunst eine Folge des Ungenügens am Wirklichen? Oder ein Ausdruck der Dankbarkeit über genossenes Glück? Im ersten Falle Romantik, im zweiten Glorienschein und Dithyrambus (kurz Apotheosenkunst): auch Raffael gehört hierhin, nur daß er jene Falschheit hatte, den Anschein der christlichen Weltauslegung zu vergöttern. Er war dankbar für das Dasein, wo es nicht spezifisch christlich sich zeigte.
Mit der moralischen Interpretation ist die Welt unerträglich. Das Christentum war der Versuch, die Welt damit zu „überwinden“: das heißt zu verneinen. In praxi lief ein solches Attentat des Wahnsinns – einer wahnsinnigen Selbstüberhebung des Menschen angesichts der Welt – auf Verdüsterung, Verkleinlichung, Verarmung des Menschen hinaus: die mittelmäßigste und unschädlichste Art, die herdenhafte Art Mensch, fand allein dabei ihre Rechnung, ihre Förderung, wenn man will.
Homer als Apotheosenkünstler; auch Rubens. Die Musik hat noch keinen gehabt.
Die Idealisierung des großen Frevlers (der Sinn für seine Größe) ist griechisch; das Herunterwürdigen, Verleumden, Verächtlichmachen des Sünders ist jüdisch-christlich.
539.
Was ist Romantik? – In Hinsicht auf alle ästhetischen Werte bediene ich mich jetzt dieser Grundunterscheidung: ich frage in jedem einzelnen Falle, „ist hier der Hunger oder der Überfluß schöpferisch geworden?“ Von vornherein möchte sich eine andre Unterscheidung besser zu empfehlen scheinen – sie ist bei weitem augenscheinlicher – nämlich die Unterscheidung, ob das Verlangen nach Starr[Pg 305]werden, Ewigwerden, nach „Sein“ die Ursache des Schaffens ist, oder aber das Verlangen nach Zerstörung, nach Wechsel, nach Werden. Aber beide Arten des Verlangens erweisen sich, tiefer angesehen, noch als zweideutig, und zwar deutbar eben nach jenem vorangestellten und mit Recht, wie mich dünkt, vorgezogenen Schema.
Das Verlangen nach Zerstörung, Wechsel, Werden kann der Ausdruck der übervollen, zukunftsschwangern Kraft sein (mein Terminus dafür ist, wie man weiß, das Wort „dionysisch“); es kann aber auch der Haß der Mißratnen, Entbehrenden, Schlechtweggekommenen sein, der zerstört, zerstören muß, weil ihn das Bestehende, ja alles Bestehen, alles Sein selbst empört und aufreizt.
„Verewigen“ andrerseits kann einmal aus Dankbarkeit und Liebe kommen: – eine Kunst dieses Ursprungs wird immer eine Apotheosenkunst sein, dithyrambisch vielleicht mit Rubens, selig mit Hafis, hell und gütig mit Goethe, und einen homerischen Glorienschein über alle Dinge breitend; – es kann aber auch jener tyrannische Wille eines Schwerleidenden sein, welcher das Persönlichste, Einzelnste, Engste, die eigentliche Idiosynkrasie seines Leidens noch zum verbindlichen Gesetz und Zwang stempeln möchte, und der an allen Dingen gleichsam Rache nimmt, dadurch, daß er ihnen sein Bild, das Bild seiner Tortur aufdrückt, einzwängt, einbrennt. Letzteres ist romantischer Pessimismus in der ausdrucksvollsten Form: sei es als Schopenhauersche Willensphilosophie, sei es als Wagnersche Musik.
540.
Ob nicht hinter dem Gegensatz von Klassisch und Romantisch der Gegensatz des Aktiven und Reaktiven verborgen liegt? –
541.
Um Klassiker zu sein, muß man alle starken, anscheinend widerspruchsvollen Gaben und Begierden haben: aber so, daß sie miteinander unter einem Joche gehen, zur rechten Zeit kommen, um ein Genus von Literatur oder Kunst[Pg 306] oder Politik auf seine Höhe und Spitze zu bringen (: nicht nachdem dies schon geschehen ist....): einen Gesamtzustand (sei es eines Volkes, sei es einer Kultur) in seiner tiefsten und innersten Seele widerspiegeln zu einer Zeit, wo er noch besteht und noch nicht überfärbt ist von der Nachahmung des Fremden (oder noch abhängig ist....); kein reaktiver, sondern ein schließender und vorwärts führender Geist sein, Ja sagend in allen Fällen, selbst mit seinem Haß.
„Es gehört dazu nicht der höchste persönliche Wert?“... Vielleicht zu erwägen, ob die moralischen Vorurteile hier nicht ihr Spiel spielen, und ob große moralische Höhe nicht vielleicht an sich ein Widerspruch gegen das Klassische ist?.... Ob nicht die moralischen Monstra notwendig Romantiker sein müssen in Wort und Tat?.... Ein solches Übergewicht einer Tugend über die andern (wie beim moralischen Monstrum) steht eben der klassischen Macht im Gleichgewicht feindlich entgegen: gesetzt, man hätte diese Höhe und wäre trotzdem Klassiker, so dürfte dreist geschlossen werden, man besitze auch die Immoralität auf gleicher Höhe: dies vielleicht der Fall Shakespeare (gesetzt, daß es wirklich Lord Bacon ist).
542.
Zukünftiges. – Gegen die Romantik der großen „Passion“. – Zu begreifen, wie zu jedem „klassischen“ Geschmack ein Quantum Kälte, Luzidität, Härte hinzugehört: Logik vor allem, Glück in der Geistigkeit, „drei Einheiten“, Konzentration, Haß gegen Gefühl, Gemüt, esprit, Haß gegen das Vielfache, Unsichere, Schweifende, Ahnende so gut als gegen das Kurze, Spitze, Hübsche, Gütige. Man soll nicht mit künstlerischen Formeln spielen: man soll das Leben umschaffen, daß es sich nachher formulieren muß.
Es ist eine heitere Komödie, über die erst jetzt wir lachen lernen, die wir jetzt erst sehen: daß die Zeitgenossen Herders, Winckelmanns, Goethes und Hegels in Anspruch nahmen, das klassische Ideal wieder entdeckt zu haben....[Pg 307] und zu gleicher Zeit Shakespeare. – Und dasselbe Geschlecht hatte sich von der klassischen Schule der Franzosen auf schnöde Art losgesagt! als ob nicht das Wesentliche so gut hier- wie dorther hätte gelernt werden können!.... Aber man wollte die „Natur“, die „Natürlichkeit“: o Stumpfsinn! Man glaubte, die Klassizität sei eine Art Natürlichkeit!
Ohne Vorurteil und Weichlichkeit zu Ende denken, auf welchem Boden ein klassischer Geschmack wachsen kann. Verhärtung, Vereinfachung, Verstärkung, Verböserung des Menschen: so gehört es zusammen. Die logisch-psychologische Vereinfachung. Die Verachtung des Details, des Komplexen, des Ungewissen.
Die Romantiker in Deutschland protestierten nicht gegen den Klassizismus, sondern gegen Vernunft, Aufklärung, Geschmack, achtzehntes Jahrhundert.
Die Sensibilität der romantisch-Wagnerschen Musik: Gegensatz der klassischen Sensibilität.
Der Wille zur Einheit (weil die Einheit tyrannisiert: nämlich die Zuhörer, Zuschauer), aber die Unfähigkeit, sich in der Hauptsache zu tyrannisieren: nämlich in Hinsicht auf das Werk selbst (auf Verzichtleisten, Kürzen, Klären, Vereinfachen). Die Überwältigung durch Massen (Wagner, Victor Hugo, Zola, Taine).
543.
Der Künstlerphilosoph. Höherer Begriff der Kunst. Ob der Mensch sich so fern stellen kann von den andern Menschen, um an ihnen zu gestalten? (– Vorübungen: 1. der Sich-selbst-Gestaltende, der Einsiedler; 2. der bisherige Künstler als der kleine Vollender an einem Stoffe.)
[Pg 308]
Viertes Buch. Zucht und Züchtung.
1. Rangordnung.
544.
Ich bin dazu gedrängt, im Zeitalter des suffrage universel, das heißt, wo jeder über jeden und jedes zu Gericht sitzen darf, die Rangordnung wiederherzustellen.
545.
Ich lehre: daß es höhere und niedere Menschen gibt, und daß ein Einzelner ganzen Jahrtausenden unter Umständen ihre Existenz rechtfertigen kann – das heißt ein voller, reicher, großer, ganzer Mensch in Hinsicht auf zahllose unvollständige Bruchstück-Menschen.
546.
Ich unterscheide einen Typus des aufsteigenden Lebens und einen andern des Verfalls, der Zersetzung, der Schwäche. Sollte man glauben, daß die Rangfrage zwischen beiden Typen überhaupt noch zu stellen ist?....
547.
Die Rangordnung der Menschenwerte. –
a) Man soll einen Menschen nicht nach einzelnen Werken abschätzen. Epidermalhandlungen. Nichts ist seltener als eine Personalhandlung. Ein Stand, ein Rang, eine Volksrasse, eine Umgebung, ein Zufall – alles drückt sich eher noch in einem Werke oder Tun aus als eine „Person“.
b) Man soll überhaupt nicht voraussetzen, daß viele Menschen „Personen“ sind. Und dann sind manche auch mehrere Personen, die meisten sind keine. Überall, wo die durchschnittlichen Eigenschaften überwiegen, auf die es ankommt, daß ein Typus fortbesteht, wäre Person-Sein eine Vergeudung, ein Luxus, hätte es gar keinen Sinn, nach einer „Person“ zu verlangen. Es sind Träger, Transmissionswerkzeuge.
[Pg 309]
c) Die „Person“ ein relativ isoliertes Faktum; in Hinsicht auf die weit größere Wichtigkeit des Fortflusses und der Durchschnittlichkeit, somit beinahe etwas Widernatürliches. Zur Entstehung der Person gehört eine zeitige Isolierung, ein Zwang zu einer Wehr- und Waffenexistenz, etwas wie Einmauerung, eine größere Kraft des Abschlusses; und vor allem eine viel geringere Impressionabilität, als sie der mittlere Mensch, dessen Menschlichkeit kontagiös ist, hat.
Erste Frage in betreff der Rangordnung: wie solitär oder wie herdenhaft jemand ist. (Im letztern Falle liegt sein Wert in den Eigenschaften, die den Bestand seiner Herde, seines Typus sichern; im andern Falle in dem, was ihn abhebt, isoliert, verteidigt und solitär ermöglicht.)
Folgerung: man soll den solitären Typus nicht abschätzen nach dem herdenhaften, und den herdenhaften nicht nach dem solitären.
Aus der Höhe betrachtet, sind beide notwendig; insgleichen ist ihr Antagonismus notwendig, – und nichts ist mehr zu verbannen als jene „Wünschbarkeit“, es möchte sich etwas Drittes aus beiden entwickeln („Tugend“ als Hermaphroditismus). Das ist so wenig „wünschbar“ als die Annäherung und Aussöhnung der Geschlechter. Das Typische fortentwickeln, die Kluft immer tiefer aufreißen....
Begriff der Entartung in beiden Fällen: wenn die Herde den Eigenschaften der solitären Wesen sich nähert und diese den Eigenschaften der Herde, – kurz, wenn sie sich annähern. Dieser Begriff der Entartung ist abseits von der moralischen Beurteilung.
548.
Vom Range. Die schreckliche Konsequenz der „Gleichheit“ – schließlich glaubt jeder das Recht zu haben zu jedem Problem. Es ist alle Rangordnung verlorengegangen.
549.
Vorteil eines Abseits von seiner Zeit. – Abseits gestellt gegen die beiden Bewegungen, die individualistische und die[Pg 310] kollektivistische Moral, – denn auch die erste kennt die Rangordnung nicht und will dem einen die gleiche Freiheit geben wie allen. Meine Gedanken drehen sich nicht um den Grad von Freiheit, der dem einen oder dem andern oder allen zu gönnen ist, sondern um den Grad von Macht, den einer oder der andere über andere oder alle üben soll, respektive inwiefern eine Opferung von Freiheit, eine Versklavung selbst, zur Hervorbringung eines höheren Typus die Basis gibt. In gröbster Form gedacht: wie könnte man die Entwicklung der Menschheit opfern, um einer höheren Art, als der Mensch ist, zum Dasein zu helfen? –
550.
Rangbestimmend, rangabhebend sind allein Machtquantitäten: und nichts sonst.
551.
Über den Rang entscheidet das Quantum Macht, das du bist; der Rest ist Feigheit.
552.
Der Wille zur Macht. – Wie die Menschen beschaffen sein müßten, welche diese Umwertung an sich vornehmen. Die Rangordnung als Machtordnung: Krieg und Gefahr die Voraussetzung, daß ein Rang seine Bedingungen festhält. Das grandiose Vorbild: der Mensch in der Natur – das schwächste, klügste Wesen sich zum Herrn machend, die dümmeren Gewalten sich unterjochend.
553.
Neue Rangordnung der Geister: nicht mehr die tragischen Naturen voran.
554.
Den Wert eines Menschen danach abschätzen, was er den Menschen nützt oder kostet oder schadet: das bedeutet ebensoviel und ebensowenig als ein Kunstwerk abschätzen je nach den Wirkungen, die es tut. Aber damit ist der Wert des Menschen im Vergleich mit anderen Menschen gar nicht berührt. Die „moralische Wertschätzung“,[Pg 311] soweit sie eine soziale ist, mißt durchaus den Menschen nach seinen Wirkungen. Ein Mensch mit seinem eigenen Geschmack auf der Zunge, umschlossen und versteckt durch seine Einsamkeit, unmitteilbar, unmitteilsam, – ein unausgerechneter Mensch, also ein Mensch einer höheren, jedenfalls anderen Spezies: wie wollt ihr den abwerten können, da ihr ihn nicht kennen könnt, nicht vergleichen könnt?
Die moralische Abwertung hat die größte Urteilsstumpfheit im Gefolge gehabt: der Wert eines Menschen an sich ist unterschätzt, fast übersehen, fast geleugnet. Rest der naiven Teleologie: der Wert des Menschen nur in Hinsicht auf die Menschen.
555.
Die Revolution ermöglichte Napoleon: das ist ihre Rechtfertigung. Um einen ähnlichen Preis würde man den anarchistischen Einsturz unsrer ganzen Zivilisation wünschen müssen. Napoleon ermöglichte den Nationalismus: das ist dessen Entschuldigung.
Der Wert eines Menschen (abgesehen, wie billig, von Moralität und Unmoralität: denn mit diesen Begriffen wird der Wert eines Menschen noch nicht einmal berührt) liegt nicht in seiner Nützlichkeit: denn er bestünde fort, selbst wenn es niemanden gäbe, dem er zu nützen wüßte. Und warum könnte nicht gerade der Mensch, von dem die verderblichsten Wirkungen ausgingen, die Spitze der ganzen Spezies Mensch sein: so hoch, so überlegen, daß an ihm alles vor Neid zugrunde ginge?
556.
Mißverständnis des Egoismus: von seiten der gemeinen Naturen, welche gar nichts von der Eroberungslust und Unersättlichkeit der großen Liebe wissen, ebenso von den ausströmenden Kraftgefühlen, welche überwältigen, zu sich zwingen, sich ans Herz legen wollen, – der Trieb des Künstlers nach seinem Material. Oft auch nur sucht der Tätigkeitssinn nach einem Terrain. – Im gewöhn[Pg 312]lichen „Egoismus“ will gerade das „Nicht-ego“, das tiefe Durchschnittswesen, der Gattungsmensch seine Erhaltung – das empört, falls es von den Seltneren, Feineren und weniger Durchschnittlichen wahrgenommen wird. Denn diese urteilen: „wir sind die Edleren! Es liegt mehr an unserer Erhaltung als an der jenes Viehs!“
557.
Gegen John Stuart Mill. – Ich perhorresziere seine Gemeinheit, welche sagt, „was dem einen recht ist, ist dem andern billig“; „was du nicht willst usw., das füg' auch keinem andern zu“; welche den ganzen menschlichen Verkehr auf Gegenseitigkeit der Leistung begründen will, so daß jede Handlung als eine Art Abzahlung erscheint für etwas, das uns erwiesen ist. Hier ist die Voraussetzung unvornehm im untersten Sinne: hier wird die Äquivalenz der Werte von Handlungen vorausgesetzt bei mir und dir; hier ist der persönlichste Wert einer Handlung einfach annulliert (das, was durch nichts ausgeglichen und bezahlt werden kann –). Die „Gegenseitigkeit“ ist eine große Gemeinheit; gerade daß etwas, das ich tue, nicht von einem andern getan werden dürfte und könnte, daß es keinen Ausgleich geben darf (– außer in der ausgewähltesten Sphäre der „meinesgleichen“, inter pares –), daß man in einem tieferen Sinne nie zurückgibt, weil man etwas Einmaliges ist und nur Einmaliges tut, – diese Grundüberzeugung enthält die Ursache der aristokratischen Absonderung von der Menge, weil die Menge an „Gleichheit“ und folglich Ausgleichbarkeit und „Gegenseitigkeit“ glaubt.
558.
Randbemerkung zu einer niaiserie anglaise. – „Was du nicht willst, das dir die Leute tun, das tue ihnen auch nicht.“ Das gilt als Weisheit; das gilt als Klugheit; das gilt als Grund der Moral, – als „güldener Spruch“. John Stuart Mill (und wer nicht unter Engländern?) glaubt daran!.... Aber der Spruch hält nicht[Pg 313] den leichtesten Angriff aus. Der Kalkul: „tue nichts, was dir selber nicht angetan werden soll“ verbietet Handlungen um ihrer schädlichen Folgen willen: der Hintergedanke ist, daß eine Handlung immer vergolten wird. Wie nun, wenn jemand, mit dem „Principe“ in der Hand, sagte: „gerade solche Handlungen muß man tun, damit andere uns nicht zuvorkommen, damit wir andere außer Stand setzen, sie uns anzutun“? – Andrerseits: denken wir uns einen Korsen, dem seine Ehre die vendetta gebietet. Auch er wünscht keine Flintenkugel in den Leib: aber die Aussicht auf eine solche, die Wahrscheinlichkeit einer Kugel hält ihn nicht ab, seiner Ehre zu genügen.... Und sind wir nicht in allen anständigen Handlungen eben absichtlich gleichgültig gegen das, was daraus für uns kommt? Eine Handlung zu vermeiden, die schädliche Folgen für uns hätte, – das wäre ein Verbot für anständige Handlungen überhaupt.
Dagegen ist der Spruch wertvoll, weil er einen Typus Mensch verrät: es ist der Instinkt der Herde, der sich mit ihm formuliert, – man ist gleich, man nimmt sich gleich: wie ich dir, so du mir. – Hier wird wirklich an eine Äquivalenz der Handlungen geglaubt, die, in allen realen Verhältnissen, einfach nicht vorkommt. Es kann nicht jede Handlung zurückgegeben werden: zwischen wirklichen „Individuen“ gibt es keine gleichen Handlungen, folglich auch keine „Vergeltung“.... Wenn ich etwas tue, so liegt mir der Gedanke vollkommen fern, daß überhaupt dergleichen irgendeinem Menschen möglich sei: es gehört mir.... Man kann mir nichts zurückzahlen, man würde immer eine „andere“ Handlung gegen mich begehen. –
559.
Ich zeige auf etwas Neues hin: gewiß, für ein solches demokratisches Wesen gibt es die Gefahr des Barbaren, aber man sucht sie nur in der Tiefe. Es gibt auch eine andere Art Barbaren, die kommen aus der Höhe: eine Art von erobernden und herrschenden Naturen, welche nach einem[Pg 314] Stoffe suchen, den sie gestalten können. Prometheus war ein solcher Barbar.
560.
Die typischen Selbstgestaltungen. Oder: die acht Hauptfragen.
1. Ob man sich vielfacher haben will oder einfacher?
2. Ob man glücklicher werden will oder gleichgültiger gegen Glück und Unglück?
3. Ob man zufriedner mit sich werden will oder anspruchsvoller und unerbittlicher?
4. Ob man weicher, nachgebender, menschlicher werden will oder „unmenschlicher“?
5. Ob man klüger werden will oder rücksichtsloser?
6. Ob man ein Ziel erreichen will oder allen Zielen ausweichen (wie es zum Beispiel der Philosoph tut, der in jedem Ziel eine Grenze, einen Winkel, ein Gefängnis, eine Dummheit riecht)?
7. Ob man geachteter werden will oder gefürchteter? Oder verachteter?
8. Ob man Tyrann oder Verführer oder Hirt oder Herdentier werden will?
561.
Die Rechte, die ein Mensch sich nimmt, stehen im Verhältnis zu den Pflichten, die er sich stellt, zu den Aufgaben, denen er sich gewachsen fühlt. Die allermeisten Menschen sind ohne Recht zum Dasein, sondern ein Unglück für die höheren.
562.
Die Lasterhaften und Zügellosen: ihr deprimierender Einfluß auf den Wert der Begierden. Es ist die schauerliche Barbarei der Sitte, welche, im Mittelalter vornehmlich, zu einem wahren „Bund der Tugend“ zwingt – nebst ebenso schauerlichen Übertreibungen über das, was den Wert des Menschen ausmacht. Die kämpfende „Zivilisation“ (Zähmung) braucht alle Art Eisen und Tortur, um sich gegen die Furchtbarkeit und Raubtiernatur aufrechtzuerhalten.
[Pg 315]
Hier ist eine Verwechslung ganz natürlich, obwohl vom schlimmsten Einfluß: Das, was Menschen der Macht und des Willens von sich verlangen können, gibt ein Maß auch für das, was sie sich zugestehen dürfen. Solche Naturen sind der Gegensatz der Lasterhaften und Zügellosen: obwohl sie unter Umständen Dinge tun, deretwegen ein geringerer Mensch des Lasters und der Unmäßigkeit überführt wäre.
Hier schadet der Begriff der „Gleichwertigkeit der Menschen vor Gott“ außerordentlich; man verbot Handlungen und Gesinnungen, welche an sich zu den Prärogativen der Starkgeratenen gehören, – wie als ob sie an sich des Menschen unwürdig wären. Man brachte die ganze Tendenz der starken Menschen in Verruf, indem man die Schutzmittel der Schwächsten (auch gegen sich Schwächsten) als Wertnorm aufstellte.
Die Verwechslung geht so weit, daß man geradezu die großen Virtuosen des Lebens (deren Selbstherrlichkeit den schärfsten Gegensatz zum Lasterhaften und Zügellosen abgibt) mit den schimpflichsten Namen brandmarkte. Noch jetzt glaubt man einen Cesare Borgia mißbilligen zu müssen; das ist einfach zum Lachen. Die Kirche hat deutsche Kaiser auf Grund ihrer Laster in Bann getan: als ob ein Mönch oder Priester über das mitreden dürfte, was ein Friedrich der Zweite von sich fordern darf. Ein Don Juan wird in die Hölle geschickt: das ist sehr naiv. Hat man bemerkt, daß im Himmel alle interessanten Menschen fehlen?.... Nur ein Wink für die Weiblein, wo sie ihr Heil am besten finden. – Denkt man ein wenig konsequent und außerdem mit einer vertieften Einsicht in das, was ein „großer Mensch“ ist, so unterliegt es keinem Zweifel, daß die Kirche alle „großen Menschen“ in die Hölle schickt –, sie kämpft gegen alle „Größe des Menschen“.
563.
Die mächtigsten und gefährlichsten Leidenschaften des Menschen, an denen er am leichtesten zugrunde geht, sind so[Pg 316] gründlich in Acht getan, daß damit die mächtigsten Menschen selber unmöglich geworden sind oder sich als böse, als „schädlich und unerlaubt“ fühlen mußten. Diese Einbuße ist groß, aber notwendig bisher gewesen: jetzt, wo eine Menge Gegenkräfte großgezüchtet sind durch zeitweilige Unterdrückung jener Leidenschaften (von Herrschsucht, Lust an der Verwandlung und Täuschung), ist deren Entfesselung wieder möglich: sie werden nicht mehr die alte Wildheit haben. Wir erlauben uns die zahme Barbarei: man sehe unsre Künstler und Staatsmänner an.
564.
Ich sehe durchaus nicht ab, wie einer es wieder gut machen kann, der versäumt hat, zur rechten Zeit in eine gute Schule zu gehen. Ein solcher kennt sich nicht; er geht durchs Leben, ohne gehen gelernt zu haben; der schlaffe Muskel verrät sich bei jedem Schritt noch. Mitunter ist das Leben so barmherzig, diese harte Schule nachzuholen: jahrelanges Siechtum vielleicht, das die äußerste Willenskraft und Selbstgenügsamkeit herausfordert; oder eine plötzlich hereinbrechende Notlage, zugleich noch für Weib und Kind, welche eine Tätigkeit erzwingt, die den erschlafften Fasern wieder Energie gibt und dem Willen zum Leben die Zähigkeit zurückgewinnt. Das Wünschenswerteste bleibt unter allen Umständen eine harte Disziplin zur rechten Zeit, das heißt in jenem Alter noch, wo es stolz macht, viel von sich verlangt zu sehen. Denn dies unterscheidet die harte Schule als gute Schule von jeder anderen: daß viel verlangt wird; daß streng verlangt wird; daß das Gute, das Ausgezeichnete selbst als normal verlangt wird; daß das Lob selten ist; daß die Indulgenz fehlt; daß der Tadel scharf, sachlich, ohne Rücksicht auf Talent und Herkunft laut wird. Eine solche Schule hat man in jedem Betracht nötig: das gilt vom Leiblichsten wie vom Geistigsten: es wäre verhängnisvoll, hier trennen zu wollen! Die gleiche Disziplin macht den Militär und den Gelehrten tüchtig: und, näher besehen, es gibt keinen tüchtigen Gelehrten, der nicht die[Pg 317] Instinkte eines tüchtigen Militärs im Leibe hat. Befehlen können und wieder auf eine stolze Weise gehorchen; in Reih und Glied stehen, aber fähig jederzeit, auch zu führen; die Gefahr dem Behagen vorziehen; das Erlaubte und Unerlaubte nicht in einer Krämerwage wiegen; dem Mesquinen, Schlauen, Parasitischen mehr feind sein als dem Bösen. – Was lernt man in einer harten Schule? Gehorchen und Befehlen.
565.
Das Verdienst leugnen: aber das tun, was über allem Loben, ja über allem Verstehen ist.
566.
Nützlich sind die Affekte allesamt, die einen direkt, die andern indirekt; in Hinsicht auf den Nutzen ist es schlechterdings unmöglich, irgendeine Wertabfolge festzusetzen, – so gewiß, ökonomisch gemessen, die Kräfte in der Natur allesamt gut, das heißt nützlich sind, so viel furchtbares und unwiderrufliches Verhängnis auch von ihnen ausgeht. Höchstens könnte man sagen, daß die mächtigsten Affekte die wertvollsten sind: insofern es keine größeren Kraftquellen gibt.
567.
Wieviel Vorteil opfert der Mensch, wie wenig „eigennützig“ ist er! Alle seine Affekte und Leidenschaften wollen ihr Recht haben – und wie fern vom klugen Nutzen des Eigennutzes ist der Affekt!
Man will nicht sein „Glück“; man muß Engländer sein, um glauben zu können, daß der Mensch immer seinen Vorteil sucht. Unsre Begierden wollen sich in langer Leidenschaft an den Dingen vergreifen –, ihre aufgestaute Kraft sucht die Widerstände.
568.
Die Erziehung zu jenen Herrschertugenden, welche auch über sein Wohlwollen und Mitleiden Herr werden: die großen Züchtertugenden („seinen Feinden vergeben“ ist dagegen Spielerei), den Affekt des Schaffenden auf die[Pg 318] Höhe bringen – nicht mehr Marmor behauen! – Die Ausnahme- und Machtstellung jener Wesen (verglichen mit der der bisherigen Fürsten): der römische Cäsar mit Christi Seele.
569.
Der höhere Mensch und der Herdenmensch. Wenn die großen Menschen fehlen, so macht man aus den vergangenen großen Menschen Halbgötter oder ganze Götter: das Ausbrechen von Religion beweist, daß der Mensch nicht mehr am Menschen Lust hat (– „und am Weibe auch nicht“ mit Hamlet). Oder: man bringt viele Menschen auf einen Haufen als Parlamente und wünscht, daß sie gleich tyrannisch wirken.
Das „Tyrannisierende“ ist die Tatsache großer Menschen: sie machen den Geringeren dumm.
570.
Der Hammer. Wie müssen Menschen beschaffen sein, die umgekehrt wertschätzen? – Menschen, die alle Eigenschaften der modernen Seele haben, aber stark genug sind, sie in lauter Gesundheit umzuwandeln? – Ihr Mittel zu ihrer Aufgabe.
571.
Der starke Mensch, mächtig in den Instinkten einer starken Gesundheit, verdaut seine Taten ganz ebenso, wie er die Mahlzeiten verdaut; er wird mit schwerer Kost selbst fertig: in der Hauptsache aber führt ihn ein unversehrter und strenger Instinkt, daß er nichts tut, was ihm widersteht, so wenig, als er etwas ißt, das ihm nicht schmeckt.
572.
Die wohlwollenden, hilfreichen, gütigen Gesinnungen sind schlechterdings nicht um des Nutzens willen, der von ihnen ausgeht, zu Ehren gekommen: sondern weil sie Zustände reicher Seelen sind, welche abgeben können und ihren Wert als Füllegefühl des Lebens tragen. Man sehe die Augen des Wohltäters an! Das ist das Gegenstück der[Pg 319] Selbstverneinung, des Hasses auf das moi, des „Pascalismus“.
573.
Zu den herrschaftlichen Typen. – Der „Hirt“ im Gegensatz zum „Herrn“ (– ersterer Mittel zur Erhaltung der Herde; letzterer Zweck, weshalb die Herde da ist).
574.
Hauptgesichtspunkt: daß man nicht die Aufgabe der höheren Spezies in der Leitung der niederen sieht (wie es zum Beispiel Comte macht –), sondern die niedere als Basis, auf der eine höhere Spezies ihrer eigenen Aufgabe lebt, – auf der sie erst stehen kann.
Die Bedingungen, unter denen eine starke und vornehme Spezies sich erhält (in Hinsicht auf geistige Zucht), sind die umgekehrten von denen, unter welchen die „industriellen Massen“, die Krämer à la Spencer stehen.
Das, was nur den stärksten und fruchtbarsten Naturen freisteht zur Ermöglichung ihrer Existenz – Muße, Abenteuer, Unglaube, Ausschweifung selbst –, das würde, wenn es den mittleren Nationen freistünde, diese notwendig zugrunde richten – und tut es auch. Hier ist die Arbeitsamkeit, die Regel, die Mäßigkeit, die feste „Überzeugung“ am Platze, – kurz die „Herdentugenden“: unter ihnen wird diese mittlere Art Mensch vollkommen.
575.
Daß man sein Leben, seine Gesundheit, seine Ehre aufs Spiel setzt, das ist die Folge des Übermutes und eines überströmenden, verschwenderischen Willens: nicht aus Menschenliebe, sondern weil jede große Gefahr unsre Neugierde in bezug auf das Maß unsrer Kraft, unsres Mutes herausfordert.
576.
„Sein Leben lassen für eine Sache“ – großer Effekt. Aber man läßt für vieles sein Leben: die Affekte samt und sonders wollen ihre Befriedigung. Ob es das Mitleid ist[Pg 320] oder der Zorn oder die Rache – daß das Leben daran gesetzt wird, verändert nichts am Werte. Wie viele haben ihr Leben für die hübschen Weiblein geopfert – und selbst, was schlimmer ist, ihre Gesundheit! Wenn man das Temperament hat, so wählt man instinktiv die gefährlichen Dinge: zum Beispiel die Abenteuer der Spekulation, wenn man Philosoph, oder der Immoralität, wenn man tugendhaft ist. Die eine Art Mensch will nichts riskieren, die andre will riskieren. Sind wir anderen Verächter des Lebens? Im Gegenteil, wir suchen instinktiv ein potenziertes Leben, das Leben in der Gefahr.... Damit, nochmals gesagt, wollen wir nicht tugendhafter sein als die anderen. Pascal zum Beispiel wollte nichts riskieren und blieb Christ: das war vielleicht tugendhaft. – Man opfert immer.
577.
„Seinem Gefühle folgen?“ – Daß man, einem generösen Gefühle nachgebend, sein Leben in Gefahr bringt, und unter dem Impuls eines Augenblicks: das ist wenig wert und charakterisiert nicht einmal. In der Fähigkeit dazu sind sich alle gleich – und in der Entschlossenheit dazu übertrifft der Verbrecher, Bandit und Korse einen honetten Menschen gewiß.
Die höhere Stufe ist, auch diesen Andrang bei sich zu überwinden und die heroische Tat nicht auf Impulse hin zu tun, – sondern kalt, raisonnable, ohne das stürmische Überwallen von Lustgefühlen dabei.... Dasselbe gilt vom Mitleid: es muß erst habituell durch die raison durchgesiebt sein; im anderen Falle ist es so gefährlich wie irgendein Affekt.
Die blinde Nachgiebigkeit gegen einen Affekt, sehr gleichgültig, ob es ein generöser und mitleidiger oder feindseliger ist, ist die Ursache der größten Übel.
Die Größe des Charakters besteht nicht darin, daß man diese Affekte nicht besitzt, – im Gegenteil, man hat sie im furchtbarsten Grade: aber daß man sie am Zügel führt.... und auch das noch ohne Lust an dieser Bändigung, sondern bloß, weil....
[Pg 321]
578.
Wo man die stärkeren Naturen zu suchen hat. – Das Zugrundegehen und Entarten der solitären Spezies ist viel größer und furchtbarer: sie haben die Instinkte der Herde, die Tradition der Werte gegen sich; ihre Werkzeuge zur Verteidigung, ihre Schutzinstinkte sind von vornherein nicht stark, nicht sicher genug, – es gehört viel Gunst des Zufalls dazu, daß sie gedeihen (– sie gedeihen in den niedrigsten und gesellschaftlich preisgegebensten Elementen am häufigsten; wenn man nach Person sucht, dort findet man sie um wieviel sicherer als in den mittleren Klassen!).
Der Stände- und Klassenkampf, der auf „Gleichheit der Rechte“ abzielt, – ist er ungefähr erledigt, so geht der Kampf los gegen die Solitärperson. (In einem gewissen Sinne kann dieselbe sich am leichtesten in einer demokratischen Gesellschaft erhalten und entwickeln: dann, wenn die gröberen Verteidigungsmittel nicht mehr nötig sind und eine gewisse Gewöhnung an Ordnung, Redlichkeit, Gerechtigkeit, Vertrauen zu den Durchschnittsbedingungen gehört.)
Die Stärksten müssen am festesten gebunden, beaufsichtigt, in Ketten gelegt und überwacht werden: so will es der Instinkt der Herde. Für sie ein Regime der Selbstüberwältigung, des asketischen Abseits oder der „Pflicht“ in abnützender Arbeit, bei der man nicht mehr zu sich selber kommt.
579.
Wogegen ich kämpfe: daß eine Ausnahmeart der Regel den Krieg macht, – statt zu begreifen, daß die Fortexistenz der Regel die Voraussetzung für den Wert der Ausnahme ist. Zum Beispiel die Frauenzimmer, welche, statt die Auszeichnung ihrer abnormen Bedürfnisse zur Gelehrsamkeit zu empfinden, die Stellung des Weibes überhaupt verrücken möchten.
580.
Der Haß gegen die Mittelmäßigkeit ist eines Philosophen unwürdig: es ist fast ein Fragezeichen an seinem „Recht[Pg 322] auf Philosophie“. Gerade deshalb, weil er die Ausnahme ist, hat er die Regel in Schutz zu nehmen, hat er allem Mittleren den guten Mut zu sich selber zu erhalten.
581.
Wie dürfte man den Mittelmäßigen ihre Mittelmäßigkeit verleiden! Ich tue, man sieht es, das Gegenteil: jeder Schritt weg von ihr führt – so lehre ich – ins Unmoralische.
582.
Die Verkleinerung des Menschen muß lange als einziges Ziel gelten: weil erst ein breites Fundament zu schaffen ist, damit eine stärkere Art Mensch darauf stehen kann. (: Inwiefern bisher jede verstärkte Art Mensch auf einem Niveau der niedrigeren stand – – –)
583.
Zeitweiliges Überwiegen der sozialen Wertgefühle begreiflich und nützlich: es handelt sich um die Herstellung eines Unterbaus, auf dem endlich eine stärkere Gattung möglich wird. – Maßstab der Stärke: unter den umgekehrten Wertschätzungen leben können und sie ewig wieder wollen. Staat und Gesellschaft als Unterbau: weltwirtschaftlicher Gesichtspunkt, Erziehung als Züchtung.
584.
Der Kampf gegen die großen Menschen, aus ökonomischen Gründen gerechtfertigt. Dieselben sind gefährlich, Zufälle, Ausnahmen, Unwetter, stark genug, um Langsam-Gebautes und -Gegründetes in Frage zu stellen. Das Explosive nicht nur unschädlich entladen, sondern womöglich seiner Entladung vorbeugen: Grundinstinkt aller zivilisierten Gesellschaft.
585.
Bis zu welchem Grade die Unfähigkeit eines pöbelhaften Agitators der Menge geht, sich den Begriff „höhere Natur“ klarzumachen, dafür gibt Buckle das beste Beispiel ab. Die Meinung, welche er so leidenschaftlich bekämpft –[Pg 323] daß „große Männer“, Einzelne, Fürsten, Staatsmänner, Genies, Feldherren die Hebel und Ursachen aller großen Bewegungen sind – wird von ihm instinktiv dahin mißverstanden, als ob mit ihr behauptet würde, das Wesentliche und Wertvolle an einem solchen „höheren Menschen“ liege eben in der Fähigkeit, Massen in Bewegung zu setzen: kurz, in ihrer Wirkung.... Aber die „höhere Natur“ des großen Mannes liegt im Anderssein, in der Unmitteilbarkeit, in der Rangdistanz, – nicht in irgendwelchen Wirkungen: und ob er auch den Erdball erschütterte. –
586.
Absurde und verächtliche Art des Idealismus, welche die Mediokrität nicht medioker haben will und, statt an einem Ausnahmesein einen Triumph zu fühlen, entrüstet ist über Feigheit, Falschheit, Kleinheit und Miserabilität. Man soll das nicht anders wollen! und die Kluft größer aufreißen! – Man soll die höhere Art zwingen, sich abzuscheiden durch die Opfer, die sie ihrem Sein zu bringen hat.
Hauptgesichtspunkt: Distanzen aufreißen, aber keine Gegensätze schaffen. Die Mittelgebilde ablösen und im Einfluß verringern: Hauptmittel, um Distanzen zu erhalten.
587.
Wir neuen Philosophen aber, wir beginnen nicht nur mit der Darstellung der tatsächlichen Rangordnung und Wertverschiedenheit der Menschen, sondern wir wollen auch gerade das Gegenteil einer Anähnlichung, einer Ausgleichung: wir lehren die Entfremdung in jedem Sinne, wir reißen Klüfte auf, wie es noch keine gegeben hat, wir wollen, daß der Mensch böser werde, als er je war. Einstweilen leben wir noch selber einander fremd und verborgen. Es wird uns aus vielen Gründen nötig sein, Einsiedler zu sein und selbst Masken vorzunehmen, – wir werden folglich schlecht zum Suchen von unsresgleichen taugen. Wir werden allein leben und wahrscheinlich die Martern aller[Pg 324] sieben Einsamkeiten kennen. Laufen wir uns aber über den Weg durch einen Zufall, so ist darauf zu wetten, daß wir uns verkennen oder wechselseitig betrügen.
588.
Der höhere philosophische Mensch, der um sich Einsamkeit hat, nicht weil er allein sein will, sondern weil er etwas ist, das nicht seinesgleichen findet: welche Gefahren und neuen Leiden sind ihm gerade heute aufgespart, wo man den Glauben an die Rangordnung verlernt hat und folglich diese Einsamkeit nicht zu ehren und nicht zu verstehen weiß! Ehemals heiligte sich der Weise beinahe durch ein solches Beiseitegehen für das Gewissen der Menge, – heute sieht sich der Einsiedler wie mit einer Wolke trüber Zweifel und Verdächtigungen umringt. Und nicht etwa nur von seiten der Neidischen und Erbärmlichen: er muß Verkennung, Vernachlässigung und Oberflächlichkeit noch an jedem Wohlwollen herausempfinden, das er erfährt, er kennt jene Heimtücke des beschränkten Mitleidens, welches sich selber gut und heilig fühlt, wenn es ihn, etwa durch bequemere Lagen, durch geordnetere, zuverlässigere Gesellschaft, vor sich selber zu „retten“ sucht, – ja er wird den unbewußten Zerstörungstrieb zu bewundern haben, mit dem alle Mittelmäßigen des Geistes gegen ihn tätig sind, und zwar im besten Glauben an ihr Recht dazu! Es ist für Menschen dieser unverständlichen Vereinsamung nötig, sich tüchtig und herzhaft auch in den Mantel der äußeren, der räumlichen Einsamkeit zu wickeln: das gehört zu ihrer Klugheit. Selbst List und Verkleidung werden heute not tun, damit ein solcher Mensch sich selber erhalte, sich selber oben erhalte, inmitten der niederziehenden gefährlichen Stromschnellen der Zeit. Jeder Versuch, es in der Gegenwart, mit der Gegenwart auszuhalten, jede Annäherung an diese Menschen und Ziele von heute muß er wie seine eigentliche Sünde abbüßen: und er mag die verborgene Weisheit seiner Natur anstaunen, welche ihn bei allen solchen Versuchen sofort durch Krankheit und schlimme Unfälle wieder zu sich selber zurückzieht.
[Pg 325]
589.
Es ist mir ein Trost, zu wissen, daß über dem Dampf und Schmutz der menschlichen Niederungen es eine höhere, hellere Menschheit gibt, die der Zahl nach eine sehr kleine sein wird (– denn alles, was hervorragt, ist seinem Wesen nach selten): man gehört zu ihr, nicht weil man begabter oder tugendhafter oder heroischer oder liebevoller wäre als die Menschen da unten, sondern – weil man kälter, heller, weitsichtiger, einsamer ist, weil man die Einsamkeit erträgt, vorzieht, fordert als Glück, Vorrecht, ja Bedingung des Daseins, weil man unter Wolken und Blitzen wie unter seinesgleichen lebt, aber ebenso unter Sonnenstrahlen, Tautropfen, Schneeflocken und allem, was notwendig aus der Höhe kommt und, wenn es sich bewegt, sich ewig nur in der Richtung von oben nach unten bewegt. Die Aspirationen nach der Höhe sind nicht die unsrigen. – Die Helden, Märtyrer, Genies und Begeisterten sind uns nicht still, geduldig, fein, kalt, langsam genug.
590.
Die schwierigste und höchste Gestalt des Menschen wird am seltensten gelingen: so zeigt die Geschichte der Philosophie eine Überfülle von Mißratenen, von Unglücksfällen und ein äußerst langsames Schreiten; ganze Jahrtausende fallen dazwischen und erdrücken, was erreicht war; der Zusammenhang hört immer wieder auf. Das ist eine schauerliche Geschichte – die Geschichte des höchsten Menschen, des Weisen. – Am meisten geschädigt ist gerade das Gedächtnis der Großen, denn die Halbgeratenen und Mißratenen verkennen sie und besiegen sie durch „Erfolge“. Jedesmal, wo „die Wirkung“ sich zeigt, tritt eine Masse Pöbel auf den Schauplatz; das Mitreden der Kleinen und der Armen im Geiste ist eine fürchterliche Ohrenmarter für den, der mit Schauder weiß, daß das Schicksal der Menschheit am Geraten ihres höchsten Typus liegt. – Ich habe von Kindesbeinen an über die Existenzbedingungen des Weisen nachgedacht und will meine frohe Überzeugung nicht[Pg 326] verschweigen, daß er jetzt in Europa wieder möglich wird – vielleicht nur für kurze Zeit.
591.
Rangordnung: Der die Werte bestimmt und den Willen von Jahrtausenden lenkt, dadurch, daß er die höchsten Naturen lenkt, ist der höchste Mensch.
592.
Jenseits der Herrschenden, losgelöst von allen Banden, leben die höchsten Menschen: und in den Herrschenden haben sie ihre Werkzeuge.
593.
Absolute Überzeugung: daß die Wertgefühle oben und unten verschieden sind; daß zahllose Erfahrungen den Unteren fehlen, daß von unten nach oben das Mißverständnis notwendig ist.
594.
Der Mensch hat, im Gegensatz zum Tier, eine Fülle gegensätzlicher Triebe und Impulse in sich groß gezüchtet: vermöge dieser Synthesis ist er der Herr der Erde. – Moralen sind der Ausdruck lokal beschränkter Rangordnungen in dieser vielfachen Welt der Triebe: so daß an ihren Widersprüchen der Mensch nicht zugrunde geht. Also ein Trieb als Herr, sein Gegentrieb geschwächt, verfeinert, als Impuls, der den Reiz für die Tätigkeit des Haupttriebes abgibt.
Der höchste Mensch würde die größte Vielheit der Triebe haben, und auch in der relativ größten Stärke, die sich noch ertragen läßt. In der Tat: wo die Pflanze Mensch sich stark zeigt, findet man die mächtig gegeneinander treibenden Instinkte (zum Beispiel Shakespeare), aber gebändigt.
595.
Ein großer Mensch, – ein Mensch, welchen die Natur in großem Stile aufgebaut und erfunden hat – was ist das? Erstens: er hat in seinem gesamten Tun eine lange[Pg 327] Logik, die ihrer Länge wegen schwer überschaubar, folglich irreführend ist, eine Fähigkeit, über große Flächen seines Lebens hin seinen Willen auszuspannen und alles kleine Zeug an sich zu verachten und wegzuwerfen, seien darunter auch die schönsten, „göttlichsten“ Dinge von der Welt. Zweitens: er ist kälter, härter, unbedenklicher und ohne Furcht vor der „Meinung“; es fehlen ihm die Tugenden, welche mit der „Achtung“ und dem Geachtetwerden zusammenhängen, überhaupt alles, was zur „Tugend der Herde“ gehört. Kann er nicht führen, so geht er allein; es kommt dann vor, daß er manches, was ihm auf dem Wege begegnet, angrunzt. Drittens: er will kein „teilnehmendes“ Herz, sondern Diener, Werkzeuge; er ist im Verkehr mit Menschen immer darauf aus, etwas aus ihnen zu machen. Er weiß sich unmitteilbar: er findet es geschmacklos, wenn er vertraulich wird; und er ist es gewöhnlich nicht, wenn man ihn dafür hält. Wenn er nicht zu sich redet, hat er seine Maske. Er lügt lieber, als daß er die Wahrheit redet: es kostet mehr Geist und Willen. Es ist eine Einsamkeit in ihm, als welche etwas Unerreichbares ist für Lob und Tadel, eine eigene Gerichtsbarkeit, welche keine Instanz über sich hat.
596.
Objektiv, hart, fest, streng bleiben im Durchsetzen eines Gedankens – das bringen die Künstler noch am besten zustande: wenn einer aber Menschen dazu nötig hat (wie Lehrer, Staatsmänner usw.), da geht die Ruhe und Kälte und Härte schnell davon. Man kann bei Naturen wie Cäsar und Napoleon etwas ahnen von einem „interesselosen“ Arbeiten an ihrem Marmor, mag dabei von Menschen geopfert werden, was nur möglich. Auf dieser Bahn liegt die Zukunft der höchsten Menschen: die größte Verantwortlichkeit tragen und nicht daran zerbrechen. – Bisher waren fast immer Inspirationstäuschungen nötig, um selbst den Glauben an sein Recht und seine Hand nicht zu verlieren.
[Pg 328]
597.
Die Revolution, Verwirrung und Not der Völker ist das Geringere in meiner Betrachtung, gegen die Not der großen Einzelnen in ihrer Entwicklung. Man muß sich nicht täuschen lassen: die vielen Nöte aller dieser Kleinen bilden zusammen keine Summe, außer im Gefühle von mächtigen Menschen. – An sich denken, in Augenblicken großer Gefahr: seinen Nutzen ziehen aus dem Nachteile vieler: – das kann bei einem sehr hohen Grade von Abweichung ein Zeichen großen Charakters sein, der über seine mitleidigen und gerechten Empfindungen Herr wird.
598.
Im großen Menschen sind die spezifischen Eigenschaften des Lebens – Unrecht, Lüge, Ausbeutung – am größten. Insofern sie aber überwältigend gewirkt haben, ist ihr Wesen am besten mißverstanden und ins Gute interpretiert worden. Typus Carlyle als Interpret.
599.
Ob man nicht ein Recht hat, alle großen Menschen unter die bösen zu rechnen? Im einzelnen ist es nicht rein aufzuzeigen. Oft ist ihnen ein meisterhaftes Versteckenspielen möglich gewesen, so daß sie die Gebärden und Äußerlichkeiten großer Tugenden annahmen. Oft verehrten sie die Tugenden ernsthaft und mit einer leidenschaftlichen Härte gegen sich selber, aber aus Grausamkeit, – dergleichen täuscht, aus der Ferne gesehen. Manche verstanden sich selber falsch; nicht selten fordert eine große Aufgabe große Qualitäten heraus, zum Beispiel die Gerechtigkeit. Das Wesentliche ist: die Größten haben vielleicht auch große Tugenden, aber gerade dann noch deren Gegensätze. Ich glaube, daß aus dem Vorhandensein der Gegensätze und aus deren Gefühl gerade der große Mensch, der Bogen mit der großen Spannung, entsteht.
600.
Menschen, die Schicksale sind, die, indem sie sich tragen, Schicksale tragen, die ganze Art der heroischen Lastträger:[Pg 329] o wie gern möchten sie einmal von sich selber ausruhen! wie dürsten sie nach starken Herzen und Nacken, um für Stunden wenigstens loszuwerden, was sie drückt! Und wie umsonst dürsten sie!.... Sie warten; sie sehen sich alles an, was vorübergeht: niemand kommt ihnen auch nur mit dem Tausendstel Leiden und Leidenschaft entgegen, niemand errät, inwiefern sie warten.... Endlich, endlich lernen sie ihre erste Lebensklugheit – nicht mehr zu warten; und dann alsbald auch ihre zweite: leutselig zu sein, bescheiden zu sein, von nun an jedermann zu ertragen, jederlei zu ertragen – kurz, noch ein wenig mehr zu ertragen, als sie bisher schon getragen haben.
601.
Seelengröße nicht zu trennen von geistiger Größe. Denn sie involviert Unabhängigkeit; aber ohne geistige Größe soll diese nicht erlaubt sein, sie richtet Unfug an, selbst noch durch Wohltunwollen und „Gerechtigkeit“üben. Die geringen Geister haben zu gehorchen, – können also nicht Größe haben.
602.
Die Notwendigkeit zu erweisen, daß zu einem immer ökonomischeren Verbrauch von Mensch und Menschheit, zu einer immer fester ineinander verschlungenen „Maschinerie“ der Interessen und Leistungen eine Gegenbewegung gehört. Ich bezeichne dieselbe als Ausscheidung eines Luxusüberschusses der Menschheit: in ihr soll eine stärkere Art, ein höherer Typus ans Licht treten, der andre Entstehungs- und andre Erhaltungsbedingungen hat als der Durchschnittsmensch. Mein Begriff, mein Gleichnis für diesen Typus ist, wie man weiß, das Wort „Übermensch“.
Auf jenem ersten Wege, der vollkommen jetzt überschaubar ist, entsteht die Anpassung, die Abflachung, das höhere Chinesentum, die Instinktbescheidenheit, die Zufriedenheit in der Verkleinerung des Menschen, – eine Art Stillstandsniveau des Menschen. Haben wir erst jene unvermeidlich bevorstehende Wirtschaftsgesamtverwaltung der[Pg 330] Erde, dann kann die Menschheit als Maschinerie in deren Diensten ihren besten Sinn finden: – als ein ungeheures Räderwerk von immer kleineren, immer feiner „anzupassenden“ Rädern; als ein immer wachsendes Überflüssigwerden aller dominierenden und kommandierenden Elemente; als ein Ganzes von ungeheurer Kraft, dessen einzelne Faktoren Minimalkräfte, Minimalwerte darstellen.
Im Gegensatz zu dieser Verkleinerung und Anpassung der Menschen an eine spezialisiertere Nützlichkeit bedarf es der umgekehrten Bewegung, – der Erzeugung des synthetischen, des summierenden, des rechtfertigenden Menschen, für den jene Machinalisierung der Menschheit eine Daseinsvorausbedingung ist, als ein Untergestell, auf dem er seine höhere Form, zu sein, sich erfinden kann.
Er braucht die Gegnerschaft der Menge, der „Nivellierten“, das Distanzgefühl im Vergleich zu ihnen; er steht auf ihnen, er lebt von ihnen. Diese höhere Form des Aristokratismus ist die der Zukunft. – Moralisch geredet, stellt jene Gesamtmaschinerie, die Solidarität aller Räder, ein Maximum in der Ausbeutung des Menschen dar: aber sie setzt solche voraus, deretwegen diese Ausbeutung Sinn hat. Im anderen Falle wäre sie tatsächlich bloß die Gesamtverringerung, Wertverringerung des Typus Mensch, – ein Rückgangsphänomen im größten Stile.
– Man sieht, was ich bekämpfe, ist der ökonomische Optimismus: wie als ob mit den wachsenden Unkosten aller auch der Nutzen aller notwendig wachsen müßte. Das Gegenteil scheint mir der Fall: die Unkosten aller summieren sich zu einem Gesamtverlust: der Mensch wird geringer: – so daß man nicht mehr weiß, wozu überhaupt dieser ungeheure Prozeß gedient hat. Ein Wozu? ein neues Wozu? – das ist es, was die Menschheit nötig hat.
603.
Zur Rangordnung. – Was ist am typischen Menschen mittelmäßig? Daß er nicht die Kehrseite der Dinge als notwendig versteht: daß er die Übelstände bekämpft,[Pg 331] wie als ob man ihrer entraten könne; daß er das eine nicht mit dem andern hinnehmen will, – daß er den typischen Charakter eines Dinges, eines Zustandes, einer Zeit, einer Person verwischen und auslöschen möchte, indem er nur einen Teil ihrer Eigenschaften gutheißt und die andern abschaffen möchte. Die „Wünschbarkeit“ der Mittelmäßigen ist das, was von uns andern bekämpft wird: das Ideal, gefaßt als etwas, an dem nichts Schädliches, Böses, Gefährliches, Fragwürdiges, Vernichtendes übrigbleiben soll. Unsere Einsicht ist die umgekehrte: daß mit jedem Wachstum des Menschen auch seine Kehrseite wachsen muß, daß der höchste Mensch, gesetzt, daß ein solcher Begriff erlaubt ist, der Mensch wäre, welcher den Gegensatzcharakter des Daseins am stärksten darstellte, als dessen Glorie und einzige Rechtfertigung.... Die gewöhnlichen Menschen dürfen nur ein ganz kleines Eckchen und Winkelchen dieses Naturcharakters darstellen: sie gehen alsbald zugrunde, wenn die Vielfachheit der Elemente und die Spannung der Gegensätze wächst, das heißt die Vorbedingung für die Größe des Menschen. Daß der Mensch besser und böser werden muß, das ist meine Formel für diese Unvermeidlichkeit....
Die meisten stellen den Menschen als Stücke und Einzelheiten dar: erst wenn man sie zusammenrechnet, so kommt ein Mensch heraus. Ganze Zeiten, ganze Völker haben in diesem Sinne etwas Bruchstückhaftes; es gehört vielleicht zur Ökonomie der Menschenentwicklung, daß der Mensch sich stückweise entwickelt. Deshalb soll man durchaus nicht verkennen, daß es sich trotzdem nur um das Zustandekommen des synthetischen Menschen handelt: daß die niedrigen Menschen, die ungeheure Mehrzahl, bloß Vorspiele und Einübungen sind, aus deren Zusammenspiel hier und da der ganze Mensch entsteht, der Meilensteinmensch, welcher anzeigt, wie weit bisher die Menschheit vorwärts gekommen. Sie geht nicht in einem Striche vorwärts; oft geht der schon erreichte Typus wieder verloren (– wir haben zum Beispiel mit aller Anspannung von drei Jahrhunderten noch nicht den Menschen der Renaissance wieder erreicht, und hinwie[Pg 332]derum blieb der Mensch der Renaissance hinter dem antiken Menschen zurück).
604.
Die „Reinigung des Geschmacks“ kann nur die Folge einer Verstärkung des Typus sein. Unsre Gesellschaft von heute repräsentiert nur die Bildung; der Gebildete fehlt. Der große synthetische Mensch fehlt: in dem die verschiedenen Kräfte zu einem Ziele unbedenklich ins Joch gespannt sind. Was wir haben, ist der vielfache Mensch, das interessanteste Chaos, das es vielleicht bisher gegeben hat: aber nicht das Chaos vor der Schöpfung der Welt, sondern hinter ihr: – Goethe als schönster Ausdruck des Typus (– ganz und gar kein Olympier!).
605.
Händel, Leibniz, Goethe, Bismarck – für die deutsche starke Art charakteristisch. Unbedenklich zwischen Gegensätzen lebend, voll jener geschmeidigen Stärke, welche sich vor Überzeugungen und Doktrinen hütet, indem sie eine gegen die andere benutzt und sich selber die Freiheit vorbehält.
606.
(Revue des deux mondes, 15. Februar 1887. Taine über Napoleon:) „Plötzlich entfaltet sich die faculté maîtresse: der Künstler, eingeschlossen in den Politiker, kommt heraus de sa gaine; er schafft dans l'idéal et l'impossible. Man erkennt ihn wieder als das, was er ist: der posthume Bruder des Dante und des Michelangelo: und in Wahrheit, in Hinsicht auf die festen Konturen seiner Vision, die Intensität, Kohärenz und innere Logik seines Traums, die Tiefe seiner Meditation, die übermenschliche Größe seiner Konzeption, ist er ihnen gleich et leur égal: son génie a la même taille et la même structure, il est un des trois sprits souverains de la renaissance italienne.“
Notabene – – Dante, Michelangelo, Napoleon.
607.
Einsicht, welche den „freien Geistern“ fehlt: dieselbe Disziplin, welche eine starke Natur noch verstärkt und zu[Pg 333] großen Unternehmungen befähigt, zerbricht und verkümmert die mittelmäßigen: – der Zweifel, – la largeur de cœur, – das Experiment.
608.
Eine volle und mächtige Seele wird nicht nur mit schmerzhaften, selbst furchtbaren Verlusten, Entbehrungen, Beraubungen, Verachtungen fertig: sie kommt aus solchen Höllen mit größerer Fülle und Mächtigkeit heraus: und, um das Wesentlichste zu sagen, mit einem neuen Wachstum in der Seligkeit der Liebe. Ich glaube, der, welcher etwas von den untersten Bedingungen jedes Wachstums in der Liebe erraten hat, wird Dante, als er über die Pforte seines Inferno schrieb: „auch mich schuf die ewige Liebe“, verstehen.
609.
Zur Größe gehört die Furchtbarkeit: man lasse sich nichts vormachen.
610.
Die Kriegerischen und die Friedlichen. – Bist du ein Mensch, der die Instinkte des Kriegers im Leibe hat? Und in diesem Falle bliebe noch eine zweite Frage: Bist du ein Angriffskrieger oder ein Widerstandskrieger von Instinkt? Der Rest von Menschen, alles, was nicht kriegerisch von Instinkt ist, will Frieden, will Eintracht, will „Freiheit“, will „gleiche Rechte“ – : das sind nur Namen und Stufen für ein und dasselbe. Dorthin gehen, wo man nicht nötig hat, sich zu wehren, – solche Menschen werden unzufrieden mit sich, wenn sie genötigt sind, Widerstand zu leisten: sie wollen Zustände schaffen, wo es überhaupt keinen Krieg mehr gibt. Schlimmstenfalls sich unterwerfen, gehorchen, einordnen: immer noch besser als Krieg führen, – so rät es zum Beispiel dem Christen sein Instinkt. Bei den geborenen Kriegern gibt es etwas wie Bewaffnung in Charakter, in Wahl der Zustände, in der Ausbildung jeder Eigenschaft: die „Waffe“ ist im ersten Typus, die Wehr im zweiten am besten entwickelt.
[Pg 334]
Die Unbewaffneten, die Unbewehrten: welche Hilfsmittel und Tugenden sie nötig haben, um es auszuhalten, – um selbst obzusiegen.
611.
Was wird aus dem Menschen, der keine Gründe mehr hat, sich zu wehren und anzugreifen? Was bleibt von seinen Affekten übrig, wenn die ihm abhanden kommen, in denen er seine Wehr und seine Waffe hat?
612.
Man muß von den Kriegen her lernen: 1. den Tod in die Nähe der Interessen zu bringen, für die man kämpft – das macht uns ehrwürdig; 2. man muß lernen, viele zum Opfer bringen und seine Sache wichtig genug nehmen, um die Menschen nicht zu schonen; 3. die starre Disziplin, und im Krieg Gewalt und List sich zugestehen.
613.
„Das Paradies ist unter dem Schatten der Schwerter“ – auch ein Symbolon und Kerbholzwort, an dem sich Seelen vornehmer und kriegerischer Abkunft verraten und erraten.
614.
Nicht „das Glück folgt der Tugend“, – sondern der Mächtigere bestimmt seinen glücklichen Zustand erst als Tugend.
Die bösen Handlungen gehören zu den Mächtigen und Tugendhaften: die schlechten, niedrigen zu den Unterworfenen.
Der mächtigste Mensch, der Schaffende, müßte der böseste sein, insofern er sein Ideal an allen Menschen durchsetzt gegen alle ihre Ideale und sie zu seinem Bilde umschafft. Böse heißt hier: hart, schmerzhaft, aufgezwungen.
Solche Menschen wie Napoleon müssen immer wiederkommen und den Glauben an die Selbstherrlichkeit des Einzelnen befestigen: er selber aber war durch die Mittel, die er anwenden mußte, korrumpiert worden und hatte[Pg 335] die Noblesse des Charakters verloren. Unter einer andern Art Menschen sich durchsetzend, hätte er andere Mittel anwenden können; und so wäre es nicht notwendig, daß ein Cäsar schlecht werden müßte.
615.
Der große Mensch ist notwendig Skeptiker (womit nicht gesagt ist, daß er es scheinen müßte), vorausgesetzt, daß dies die Größe ausmacht: etwas Großes wollen und die Mittel dazu. Die Freiheit von jeder Art Überzeugung gehört zur Stärke seines Willens. So ist es jenem „aufgeklärten Despotismus“ gemäß, den jede große Leidenschaft ausübt. Eine solche nimmt den Intellekt in ihren Dienst; sie hat den Mut auch zu unheiligen Mitteln; sie macht unbedenklich; sie gönnt sich Überzeugungen, sie braucht sie selbst, aber sie unterwirft sich ihnen nicht. Das Bedürfnis nach Glauben, nach irgend etwas Unbedingtem in Ja und Nein ist ein Beweis der Schwäche; alle Schwäche ist Willensschwäche. Der Mensch des Glaubens, der Gläubige ist notwendig eine kleine Art Mensch. Hieraus ergibt sich, daß „Freiheit des Geistes“, das heißt Unglaube als Instinkt, Vorbedingung der Größe ist.
616.
Es ist nur eine Sache der Kraft: alle krankhaften Züge des Jahrhunderts haben, aber ausgleichen in einer überreichen, plastischen, wiederherstellenden Kraft. Der starke Mensch.
617.
Der Begriff „starker und schwacher Mensch“ reduziert sich darauf, daß im ersten Falle viel Kraft vererbt ist – er ist eine Summe: im andern noch wenig – (– unzureichende Vererbung, Zersplitterung des Ererbten). Die Schwäche kann ein Anfangsphänomen sein: „noch wenig“; oder ein Endphänomen: „nicht mehr“.
Der Ansatzpunkt ist der, wo große Kraft ist, wo Kraft auszugeben ist. Die Masse, als die Summe der Schwa[Pg 336]chen, reagiert langsam; wehrt sich gegen vieles, für das sie zu schwach ist, – von dem sie keinen Nutzen haben kann; schafft nicht, geht nicht voran.
Dies gegen die Theorie, welche das starke Individuum leugnet und meint, „die Masse tut's“. Es ist die Differenz wie zwischen getrennten Geschlechtern: es können vier, fünf Generationen zwischen dem Tätigen und der Masse liegen – eine chronologische Differenz.
Die Werte der Schwachen sind obenan, weil die Starken sie übernommen haben, um damit zu leiten.
618.
Gesundheit und Krankhaftigkeit: man sei vorsichtig! Der Maßstab bleibt die Effloreszenz des Leibes, die Sprungkraft, Mut und Lustigkeit des Geistes – aber natürlich auch, wieviel von Krankhaftem er auf sich nehmen und überwinden kann, – gesund machen kann. Das, woran die zarteren Menschen zugrunde gehen würden, gehört zu den Stimulansmitteln der großen Gesundheit.
619.
Die Lehre μηδὲν ἄγαν wendet sich an Menschen mit überströmender Kraft, – nicht an die Mittelmäßigen. Die ἐγκράτεια und ἄσκησις ist nur eine Stufe der Höhe: höher steht die „goldene Natur“.
„Du sollst“ – unbedingter Gehorsam bei Stoikern, in den Orden des Christentums und der Araber, in der Philosophie Kants (es ist gleichgültig, ob einem Oberen oder einem Begriff).
Höher als „du sollst“ steht: „Ich will“ (die Heroen); höher als „ich will“ steht: „Ich bin“ (die Götter der Griechen).
Die barbarischen Götter drücken nichts von der Lust am Maß aus, – sind weder einfach, noch leicht, noch maßvoll.
620.
Wie sich die aristokratische Welt immer mehr selber schröpft und schwach macht! Vermöge ihrer noblen Instinkte[Pg 337] wirft sie ihre Vorrechte weg, und vermöge ihrer verfeinerten Überkultur interessiert sie sich für das Volk, die Schwachen, die Armen, die Poesie des Kleinen usw.
621.
Es gibt nur Geburtsadel, nur Geblütsadel. (Ich rede hier nicht vom Wörtchen „von“ und dem Gothaischen Kalender: Einschaltung für Esel.) Wo von „Aristokraten des Geistes“ geredet wird, da fehlt es zumeist nicht an Gründen, etwas zu verheimlichen; es ist bekanntermaßen ein Leibwort unter ehrgeizigen Juden. Geist allein nämlich adelt nicht; vielmehr bedarf es erst etwas, das den Geist adelt. – Wessen bedarf es denn dazu? Des Geblüts.
622.
Eine Kriegserklärung der höheren Menschen an die Masse ist nötig! Überall geht das Mittelmäßige zusammen, um sich zum Herrn zu machen! Alles, was verweichlicht, sanft macht, das „Volk“ zur Geltung bringt oder das „Weibliche“, wirkt zugunsten des suffrage universel, das heißt der Herrschaft der niederen Menschen. Aber wir wollen Repressalien üben und diese ganze Wirtschaft (die in Europa mit dem Christentum anhebt) ans Licht und vors Gericht bringen.
623.
Der neue Philosoph kann nur in Verbindung mit einer herrschenden Kaste entstehen als deren höchste Vergeistigung. Die große Politik, Erdregierung in der Nähe; vollständiger Mangel an Prinzipien dafür.
624.
Der eigentlich königliche Beruf des Philosophen (nach dem Ausdruck Alkuins des Angelsachsen): prava corrigere, et recta corroborare, et sancta sublimare.
625.
Les philosophes ne sont pas faits pour s'aimer. Les aigles ne volent point en compagnie. Il faut laisser cela[Pg 338] aux perdrix, aux étourneaux.... Planer au-dessus et avoir des griffes, voilà le lot des grands génies.
Galiani.
626.
Ich vergaß zu sagen, daß solche Philosophen heiter sind, und daß sie gern in dem Abgrund eines vollkommen hellen Himmels sitzen: – sie haben andere Mittel nötig, das Leben zu ertragen, als andere Menschen; denn sie leiden anders (nämlich ebensosehr an der Tiefe ihrer Menschenverachtung als an ihrer Menschenliebe). – Das leidendste Tier auf Erden erfand sich – das Lachen.
627.
Weshalb der Philosoph selten gerät. Zu seinen Bedingungen gehören Eigenschaften, die gewöhnlich einen Menschen zugrunde richten:
1. eine ungeheure Vielheit von Eigenschaften; er muß eine Abbreviatur des Menschen sein, aller seiner hohen und niedern Begierden: Gefahr der Gegensätze, auch des Ekels an sich;
2. er muß neugierig nach den verschiedensten Seiten sein: Gefahr der Zersplitterung;
3. er muß gerecht und billig im höchsten Sinne sein, aber tief auch in Liebe, Haß (und Ungerechtigkeit);
4. er muß nicht nur Zuschauer, sondern Gesetzgeber sein: Richter und Gerichteter (insofern er eine Abbreviatur der Welt ist);
5. äußerst vielartig, und doch fest und hart. Geschmeidig.
628.
Typus: Die wahre Güte, Vornehmheit, Größe der Seele, die aus dem Reichtum heraus: welche nicht gibt, um zu nehmen, – welche sich nicht damit erheben will, daß sie gütig ist; – die Verschwendung als Typus der wahren Güte, der Reichtum an Person als Voraussetzung.
629.
Was ist vornehm?
– Die Sorgfalt im Äußerlichsten, insofern diese Sorgfalt abgrenzt, fernhält, vor Verwechslung schützt.
[Pg 339]
– Der frivole Anschein in Wort, Kleidung, Haltung, mit dem eine stoische Härte und Selbstbezwingung sich vor aller unbescheidenen Neugierde schützt.
– Die langsame Gebärde, auch der langsame Blick. Es gibt nicht zu viel wertvolle Dinge: und diese kommen und wollen von selbst zu dem Wertvollen. Wir bewundern schwer.
– Das Ertragen der Armut und der Dürftigkeit, auch der Krankheit.
– Das Ausweichen vor kleinen Ehren, und Mißtrauen gegen jeden, welcher leicht lobt: denn der Lobende glaubt daran, daß er verstehe, was er lobe: verstehen aber – Balzac hat es verraten, dieser typisch Ehrgeizige – comprendre c'est égaler.
– Unser Zweifel an der Mitteilbarkeit des Herzens geht in die Tiefe; die Einsamkeit nicht als gewählt, sondern als gegeben.
– Die Überzeugung, daß man nur gegen seinesgleichen Pflichten hat, gegen die andern sich nach Gutdünken verhält: daß nur inter pares auf Gerechtigkeit zu hoffen (leider noch lange nicht zu rechnen) ist.
– Die Ironie gegen die „Begabten“, der Glaube an den Geburtsadel auch im Sittlichen.
– Immer sich als den fühlen, der Ehren zu vergeben hat: während nicht häufig sich jemand findet, der ihn ehren dürfte.
– Immer verkleidet: je höherer Art, um so mehr bedarf der Mensch des Inkognitos. Gott, wenn es einen gäbe, dürfte schon aus Anstandsgründen sich nur als Mensch in der Welt bezeigen.
– Die Fähigkeit zum otium, der unbedingten Überzeugung, daß ein Handwerk in jedem Sinne zwar nicht schändet, aber sicherlich entadelt. Nicht „Fleiß“ im bürgerlichen Sinne, wie hoch wir ihn auch zu ehren und zu Geltung zu bringen wissen, oder wie jene unersättlich gackernden Künstler, die es wie die Hühner machen, gackern und Eier legen und wieder gackern.
[Pg 340]
– Wir beschützen die Künstler und Dichter und wer irgend worin Meister ist: aber als Wesen, die höherer Art sind als diese, welche nur etwas können, als die bloß „produktiven Menschen“, verwechseln wir uns nicht mit ihnen.
– Die Lust an den Formen; das In-Schutz-nehmen alles Förmlichen, die Überzeugung, daß Höflichkeit eine der großen Tugenden ist; das Mißtrauen gegen alle Arten des Sich-gehen-lassens, eingerechnet alle Preß- und Denkfreiheit, weil unter ihnen der Geist bequem und tölpelhaft wird und die Glieder streckt.
– Das Wohlgefallen an den Frauen, als an einer vielleicht kleineren, aber feineren und leichteren Art von Wesen. Welches Glück, Wesen zu begegnen, die immer Tanz und Torheit und Putz im Kopfe haben! Sie sind das Entzücken aller sehr gespannten und tiefen Mannsseelen gewesen, deren Leben mit großer Verantwortlichkeit beschwert ist.
– Das Wohlgefallen an den Fürsten und Priestern, weil sie den Glauben an eine Verschiedenheit der menschlichen Werte selbst noch in der Abschätzung der Vergangenheit zum mindesten symbolisch und im ganzen und großen sogar tatsächlich aufrechterhalten.
– Das Schweigen-können: aber darüber kein Wort vor Hörern.
– Das Ertragen langer Feindschaften: der Mangel an der leichten Versöhnlichkeit.
– Der Ekel am Demagogischen, an der „Aufklärung“, an der „Gemütlichkeit“, an der pöbelhaften Vertraulichkeit.
– Das Sammeln kostbarer Dinge, die Bedürfnisse einer hohen und wählerischen Seele; nichts gemein haben wollen. Seine Bücher, seine Landschaften.
– Wir lehnen uns gegen schlimme und gute Erfahrungen auf und verallgemeinern nicht so schnell. Der einzelne Fall: wie ironisch sind wir gegen den einzelnen Fall, wenn er den schlechten Geschmack hat, sich als Regel zu gebärden!
[Pg 341]
– Wir lieben das Naive und die Naiven, aber als Zuschauer und höhere Wesen; wir finden Faust ebenso naiv als sein Gretchen.
– Wir schätzen die Guten gering, als Herdentiere: wir wissen, wie unter den schlimmsten, bösartigsten, härtesten Menschen oft ein unschätzbarer Goldtropfen von Güte sich verborgen hält, welcher alle bloße Gutartigkeit der Milchseelen überwiegt.
– Wir halten einen Menschen unserer Art nicht widerlegt durch seine Laster, noch durch seine Torheiten. Wir wissen, daß wir schwer erkennbar sind, und daß wir alle Gründe haben, uns Vordergründe zu geben.
630.
Dem Wohlgeratenen, der meinem Herzen wohltut, aus einem Holz geschnitzt, welches hart, zart und wohlriechend ist – an dem selbst die Nase noch ihre Freude hat –, sei dies Buch geweiht.
Ihm schmeckt, was ihm zuträglich ist;
sein Gefallen an etwas hört auf, wo das Maß des Zuträglichen überschritten wird;
er errät die Heilmittel gegen partielle Schädigungen; er hat Krankheiten als große Stimulantia seines Lebens;
er versteht seine schlimmen Zufälle auszunützen;
er wird stärker durch die Unglücksfälle, die ihn zu vernichten drohen;
er sammelt instinktiv aus allem, was er sieht, hört, erlebt, zugunsten seiner Hauptsache, – er folgt einem auswählenden Prinzip, – er läßt viel durchfallen;
er reagiert mit einer Langsamkeit, welche eine lange Vorsicht und ein gewollter Stolz angezüchtet haben, – er prüft den Reiz, woher er kommt, wohin er will, er unterwirft sich nicht;
er ist immer in seiner Gesellschaft, ob er mit Büchern, Menschen oder Landschaften verkehrt;
er ehrt, indem er wählt, indem er zuläßt, indem er vertraut.
[Pg 342]
631.
Was ist vornehm? – Daß man sich beständig zu repräsentieren hat. Daß man Lagen sucht, wo man beständig Gebärden nötig hat. Daß man das Glück der großen Zahl überläßt: Glück als Frieden der Seele, Tugend, Komfort, englisch-engelhaftes Krämertum à la Spencer. Daß man instinktiv für sich schwere Verantwortungen sucht. Daß man sich überall Feinde zu schaffen weiß, schlimmstenfalls noch aus sich selbst. Daß man der großen Zahl nicht durch Worte, sondern durch Handlungen beständig widerspricht.
632.
Kein Lob haben wollen: man tut, was einem nützlich ist oder was einem Vergnügen macht oder was man tun muß.
633.
Was ist Keuschheit am Mann? Daß sein Geschlechtsgeschmack vornehm geblieben ist; daß er in eroticis weder das Brutale, noch das Krankhafte, noch das Kluge mag.
634.
Der „Ehrbegriff“: beruhend auf dem Glauben an „gute Gesellschaft“, an ritterliche Hauptqualitäten, an die Verpflichtung, sich fortwährend zu repräsentieren. Wesentlich: daß man sein Leben nicht wichtig nimmt; daß man unbedingt auf respektvollste Manieren hält seitens aller, mit denen man sich berührt (zum mindesten soweit sie nicht zu „uns“ gehören); daß man weder vertraulich, noch gutmütig, noch lustig, noch bescheiden ist, außer inter pares; daß man sich immer repräsentiert.
635.
Der Sinn unsrer Gärten und Paläste (und insofern auch der Sinn alles Begehrens nach Reichtümern) ist: die Unordnung und Gemeinheit aus dem Auge sich zu schaffen und dem Adel der Seele eine Heimat zu bauen.
Die meisten freilich glauben, sie werden höhere Naturen, wenn jene schönen, ruhigen Gegenstände auf sie[Pg 343] eingewirkt haben: daher die Jagd nach Italien und Reisen usw., alles Lesen und Theaterbesuchen. Sie wollen sich formen lassen – das ist der Sinn ihrer Kulturarbeit! Aber die Starken, Mächtigen wollen formen und nichts Fremdes mehr um sich haben!
So gehen auch die Menschen in die große Natur, nicht, um sich zu finden, sondern um sich in ihr zu verlieren und zu vergessen. Das „Außer-sich-sein“ als Wunsch aller Schwachen und Mit-sich-Unzufriedenen.
636.
„Geradezu stoßen die Adler.“ – Die Vornehmheit der Seele ist nicht am wenigsten an der prachtvollen und stolzen Dummheit zu erkennen, mit der sie angreift, – „geradezu“.
637.
Krieg gegen die weichliche Auffassung der „Vornehmheit“! – ein Quantum Brutalität mehr ist nicht zu erlassen: so wenig als eine Nachbarschaft zum Verbrechen. Auch die „Selbstzufriedenheit“ ist nicht darin; man muß abenteuerlich auch zu sich stehen, versucherisch, verderberisch, – nichts von Schönseelensalbaderei –. Ich will einem robusteren Ideale Luft machen.
638.
Die zwei Wege. – Es kommt ein Zeitpunkt, wo der Mensch Kraft im Überfluß zu Diensten hat: die Wissenschaft ist darauf aus, diese Sklaverei der Natur herbeizuführen.
Dann bekommt der Mensch Muße: sich selbst auszubilden zu etwas Neuem, Höherem. Neue Aristokratie. Dann werden eine Menge Tugenden überlebt, die jetzt Existenzbedingungen waren. – Eigenschaften nicht mehr nötig haben, folglich sie verlieren. Wir haben die Tugenden nicht mehr nötig: folglich verlieren wir sie (– sowohl die Moral vom „Eins ist not“, vom Heil der Seele, wie der Unsterblichkeit: sie waren Mittel, um dem Menschen[Pg 344] eine ungeheure Selbstbezwingung zu ermöglichen, durch den Affekt einer ungeheuren Furcht : : :).
Die verschiedenen Arten Not, durch deren Zucht der Mensch geformt ist: Not lehrt arbeiten, denken, sich zügeln.
Die physiologische Reinigung und Verstärkung. Die neue Aristokratie hat einen Gegensatz nötig, gegen den sie ankämpft: sie muß eine furchtbare Dringlichkeit haben, sich zu erhalten.
Die zwei Zukünfte der Menschheit: 1. die Konsequenz der Vermittelmäßigung; 2. das bewußte Abheben, Sich-Gestalten.
Eine Lehre, die eine Kluft schafft: sie erhält die oberste und die niedrigste Art (sie zerstört die mittlere).
Die bisherigen Aristokraten, geistliche und weltliche, beweisen nichts gegen die Notwendigkeit einer neuen Aristokratie.
639.
Der Anblick des jetzigen Europäers gibt mir viele Hoffnung: es bildet sich da eine verwegene herrschende Rasse, auf der Breite einer äußerst intelligenten Herdenmasse. Es steht vor der Tür, daß die Bewegungen zur Bildung der letzteren nicht mehr allein im Vordergrund stehen.
640.
Gesamtanblick des zukünftigen Europäers: derselbe als das intelligenteste Sklaventier, sehr arbeitsam, im Grunde sehr bescheiden, bis zum Exzeß neugierig, vielfach, verzärtelt, willensschwach, – ein kosmopolitisches Affekt- und Intelligenzenchaos. Wie möchte sich aus ihm eine stärkere Art herausheben? Eine solche mit klassischem Geschmack? Der klassische Geschmack: das ist der Wille zur Vereinfachung, Verstärkung, zur Sichtbarkeit des Glücks, zur Furchtbarkeit, der Mut zur psychologischen Nacktheit (– Vereinfachung ist eine Konsequenz des Willens zur Verstärkung; das Sichtbar-werden-lassen des Glücks, insgleichen der Nacktheit, eine Konsequenz des Willens zur Furchtbarkeit....). [Pg 345] Um sich aus jenem Chaos zu dieser Gestaltung emporzukämpfen – dazu bedarf es einer Nötigung: man muß die Wahl haben, entweder zugrunde zu gehen oder sich durchzusetzen. Eine herrschaftliche Rasse kann nur aus furchtbaren und gewaltsamen Anfängen emporwachsen. Problem: wo sind die Barbaren des zwanzigsten Jahrhunderts? Offenbar werden sie erst nach ungeheuren sozialistischen Krisen sichtbar werden und sich konsolidieren, – es werden die Elemente sein, die der größten Härte gegen sich selber fähig sind und den längsten Willen garantieren können.
641.
Es naht sich, unabweislich, zögernd, furchtbar wie das Schicksal, die große Aufgabe und Frage: wie soll die Erde als Ganzes verwaltet werden? Und wozu soll „der Mensch“ als Ganzes – und nicht mehr ein Volk, eine Rasse – gezogen und gezüchtet werden?
Die gesetzgeberischen Moralen sind das Hauptmittel, mit denen man aus dem Menschen gestalten kann, was einem schöpferischen und tiefen Willen beliebt: vorausgesetzt, daß ein solcher Künstlerwille höchsten Ranges die Gewalt in den Händen hat und seinen schaffenden Willen über lange Zeiträume durchsetzen kann in Gestalt von Gesetzgebungen, Religionen und Sitten. Solchen Menschen des großen Schaffens, den eigentlich großen Menschen, wie ich es verstehe, wird man heute und wahrscheinlich für lange noch umsonst nachgehen: sie fehlen; bis man endlich, nach vieler Enttäuschung, zu begreifen anfangen muß, warum sie fehlen, und daß ihrer Entstehung und Entwicklung für jetzt und für lange nichts feindseliger im Wege steht als das, was man jetzt in Europa geradewegs „die Moral“ nennt: wie als ob es keine andere gäbe und geben dürfte, – jene vorhin bezeichnete Herdentiermoral, die mit allen Kräften das allgemeine grüne Weideglück auf Erden erstrebt, nämlich Sicherheit, Ungefährlichkeit, Behagen, Leichtigkeit des Lebens und zu guterletzt, „wenn alles gut geht“, sich auch noch aller Art Hirten und Leithämmel zu entschlagen hofft. Ihre beiden am reichlichsten gepredigten Lehren heißen: „Gleich[Pg 346]heit der Rechte“ und „Mitgefühl für alles Leidende“ – und das Leiden selber wird von ihnen als etwas genommen, das man schlechterdings abschaffen muß. Daß solche „Ideen“ immer noch modern sein können, gibt einen üblen Begriff von dieser Modernität. Wer aber gründlich darüber nachgedacht hat, wo und wie die Pflanze Mensch bisher am kräftigsten emporgewachsen ist, muß vermeinen, daß dies unter den umgekehrten Bedingungen geschehen ist: daß dazu die Gefährlichkeit seiner Lage ins Ungeheure wachsen, seine Erfindungs- und Verstellungskraft unter langem Druck und Zwang sich emporkämpfen, sein Lebenswille bis zu einem unbedingten Willen zur Macht und zur Übermacht gesteigert werden muß, und daß Gefahr, Härte, Gewaltsamkeit, Gefahr auf der Gasse wie im Herzen, Ungleichheit der Rechte, Verborgenheit, Stoizismus, Versucherkunst, Teufelei jeder Art, kurz, der Gegensatz aller Herdenwünschbarkeiten zur Erhöhung des Typus Mensch notwendig ist. Eine Moral mit solchen umgekehrten Absichten, welche den Menschen ins Hohe, statt ins Bequeme und Mittlere züchten will, eine Moral mit der Absicht, eine regierende Kaste zu züchten – die zukünftigen Herren der Erde – muß, um gelehrt werden zu können, sich in Anknüpfung an das bestehende Sittengesetz und unter dessen Worten und Anscheine einführen. Daß dazu aber viele Übergangs- und Täuschungsmittel zu erfinden sind, und daß, weil die Lebensdauer eines Menschen beinahe nichts bedeutet in Hinsicht auf die Durchführung so langwieriger Aufgaben und Absichten, vor allem erst eine neue Art angezüchtet werden muß, in der dem nämlichen Willen, dem nämlichen Instinkte Dauer durch viele Geschlechter verbürgt wird – eine neue Herrenart und -Kaste – dies begreift sich ebensogut als das lange und nicht leicht aussprechbare Und-so-weiter dieses Gedankens. Eine Umkehrung der Werte für eine bestimmte starke Art von Menschen höchster Geistigkeit und Willenskraft vorzubereiten und zu diesem Zweck bei ihnen eine Menge in Zaum gehaltener und verleumdeter Instinkte langsam und mit Vorsicht zu entfesseln: wer darüber nachdenkt, ge[Pg 347]hört zu uns, den freien Geistern – freilich wohl zu einer neueren Art von „freien Geistern“ als die bisherigen: denn diese wünschten ungefähr das Entgegengesetzte. Hierher gehören, wie mir scheint, vor allem die Pessimisten Europas, die Dichter und Denker eines empörten Idealismus, insofern ihre Unzufriedenheit mit dem gesamten Dasein sie auch zur Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen Menschen mindestens logisch nötigt; insgleichen gewisse unersättlich-ehrgeizige Künstler, welche unbedenklich und unbedingt für die Sonderrechte höherer Menschen und gegen das „Herdentier“ kämpfen und mit den Verführungsmitteln der Kunst bei ausgesuchteren Geistern alle Herdeninstinkte und Herdenvorsichten einschläfern; zu dritt endlich alle jene Kritiker und Historiker, von denen die glücklich begonnene Entdeckung der alten Welt – es ist das Werk des neuen Kolumbus, des deutschen Geistes – mutig fortgesetzt wird (– denn wir stehen immer noch in den Anfängen dieser Eroberung). In der alten Welt nämlich herrschte in der Tat eine andere, eine herrschaftlichere Moral als heute; und der antike Mensch, unter dem erziehenden Banne seiner Moral, war ein stärkerer und tieferer Mensch als der Mensch von heute, – er war bisher allein „der wohlgeratene Mensch“. Die Verführung aber, welche vom Altertum her auf wohlgeratene, das heißt auf starke und unternehmende Seelen ausgeübt wird, ist auch heute noch die feinste und wirksamste aller antidemokratischen und antichristlichen: wie sie es schon zur Zeit der Renaissance war.
2. Der züchtende Gedanke.
642.
Eine Frage kommt uns immer wieder, eine versucherische und schlimme Frage vielleicht: sie sei denen ins Ohr gesagt, welche ein Recht auf solche fragwürdige Fragen haben, den stärksten Seelen von heute, welche sich selbst auch am besten in der Gewalt haben: wäre es nicht an der Zeit, je mehr der Typus „Herdentier“ jetzt in Europa entwickelt wird, mit[Pg 348] einer grundsätzlichen künstlichen und bewußten Züchtung des entgegengesetzten Typus und seiner Tugenden den Versuch zu machen? Und wäre es für die demokratische Bewegung nicht selber erst eine Art Ziel, Erlösung und Rechtfertigung, wenn jemand käme, der sich ihrer bediente – dadurch, daß endlich sich zu ihrer neuen und sublimen Ausgestaltung der Sklaverei (– das muß die europäische Demokratie am Ende sein) jene höhere Art herrschaftlicher und cäsarischer Geister hinzufände, welche sich auf sie stellte, sich an ihr hielte, sich durch sie emporhübe? Zu neuen, bisher unmöglichen, zu ihren Fernsichten? Zu ihren Aufgaben?
643.
Ich glaube, ich habe einiges aus der Seele des höchsten Menschen erraten; – vielleicht geht jeder zugrunde, der ihn errät: aber wer ihn gesehen hat, muß helfen, ihn zu ermöglichen.
Grundgedanke: wir müssen die Zukunft als maßgebend nehmen für alle unsere Wertschätzung – und nicht hinter uns die Gesetze unseres Handelns suchen!
644.
Könnten wir die günstigsten Bedingungen voraussehen, unter denen Wesen entstehen von höchstem Werte! Es ist tausendmal zu kompliziert und die Wahrscheinlichkeit des Mißratens sehr groß: so begeistert es nicht, danach zu streben! – Skepsis. – Dagegen: Mut, Einsicht, Härte, Unabhängigkeit, Gefühl der Verantwortlichkeit können wir steigern, die Feinheit der Wage verfeinern und erwarten, daß günstige Zufälle zu Hilfe kommen. –
645.
Dieselben Bedingungen, welche die Entwicklung des Herdentieres vorwärtstreiben, treiben auch die Entwicklung des Führertiers.
646.
So viel habe ich begriffen: wenn man das Entstehen großer und seltener Menschen abhängig gemacht hätte von[Pg 349] der Zustimmung der vielen (einbegriffen, daß diese wüßten, welche Eigenschaften zur Größe gehören und insgleichen, auf wessen Unkosten alle Größe sich entwickelt) – nun, es hätte nie einen bedeutenden Menschen gegeben! –
Daß der Gang der Dinge unabhängig von der Zustimmung der allermeisten seinen Weg nimmt: daran liegt es, daß einiges Erstaunliche sich auf der Erde eingeschlichen hat.
647.
Nicht die Menschen „besser“ machen, nicht zu ihnen auf irgendeine Art Moral reden, als ob „Moralität an sich“ oder eine ideale Art Mensch überhaupt gegeben sei: sondern Zustände schaffen, unter denen stärkere Menschen nötig sind, welche ihrerseits eine Moral (deutlicher: eine leiblich-geistige Disziplin), welche stark macht, brauchen und folglich haben werden!
Sich nicht durch blaue Augen oder geschwellte Busen verführen lassen: die Größe der Seele hat nichts Romantisches an sich. Und leider gar nichts Liebenswürdiges!
648.
Wer darüber nachdenkt, auf welche Weise der Typus Mensch zu seiner größten Pracht und Mächtigkeit gesteigert werden kann, der wird zu allererst begreifen, daß er sich außerhalb der Moral stellen muß: denn die Moral war im wesentlichen auf das Entgegengesetzte aus, jene prachtvolle Entwicklung, wo sie im Zuge war, zu hemmen oder zu vernichten. Denn in der Tat konsumiert eine derartige Entwicklung eine solche ungeheure Quantität von Menschen in ihrem Dienst, daß eine umgekehrte Bewegung nur zu natürlich ist: die schwächeren, zarteren, mittleren Existenzen haben nötig, Partei zu machen gegen jene Glorie von Leben und Kraft, und dazu müssen sie von sich eine neue Schätzung bekommen, vermöge deren sie das Leben in dieser höchsten Fülle verurteilen und womöglich zerstören. Eine lebensfeindliche Tendenz ist daher der Moral zu eigen, insofern sie die Typen des Lebens überwältigen will.
[Pg 350]
649.
Mein Augenmerk darauf, an welchen Punkten der Geschichte die großen Menschen hervorspringen. Die Bedeutung langer despotischer Moralen: sie spannen den Bogen, wenn sie ihn nicht zerbrechen.
650.
Die Urwaldvegetation „Mensch“ erscheint immer, wo der Kampf um die Macht am längsten geführt worden ist. Die großen Menschen.
Urwaldtiere die Römer.
651.
Aus der Kriegsschule der Seele. (Den Tapfern, den Frohgemuten, den Enthaltsamen geweiht.)
Ich möchte die liebenswürdigen Tugenden nicht unterschätzen; aber die Größe der Seele verträgt sich nicht mit ihnen. Auch in den Künsten schließt der große Stil das Gefällige aus.
In Zeiten schmerzhafter Spannung und Verwundbarkeit wähle den Krieg: er härtet ab, er macht Muskel.
Die tief Verwundeten haben das olympische Lachen; man hat nur, was man nötig hat.
Es dauert zehn Jahre schon: kein Laut mehr erreicht mich – ein Land ohne Regen. Man muß viel Menschlichkeit übrig haben, um in der Dürre nicht zu verschmachten.
652.
Ersatz der Moral durch den Willen zu unserem Ziele, und folglich zu dessen Mitteln.
653.
Es bedarf einer Lehre, stark genug, um züchtend zu wirken: stärkend für die Starken, lähmend und zerbrechend für die Weltmüden.
Die Vernichtung der verfallenden Rassen. Verfall Europas. – Die Vernichtung der sklavenhaften Wertschätzungen. – Die Herrschaft über die Erde als Mittel zur Erzeugung[Pg 351] eines höheren Typus. – Die Vernichtung der Tartüfferie, welche „Moral“ heißt (das Christentum als eine hysterische Art von Ehrlichkeit hierin: Augustin). – Die Vernichtung des suffrage universel: das heißt des Systems, vermöge dessen die niedrigsten Naturen sich als Gesetz den höheren vorschreiben. – Die Vernichtung der Mittelmäßigkeit und ihrer Geltung. (Die Einseitigen, Einzelne – Völker; Fülle der Natur zu erstreben durch Paarung von Gegensätzen: Rassenmischungen dazu.) – Der neue Mut – keine apriorischen Wahrheiten (solche suchten die an Glauben Gewöhnten!), sondern freie Unterordnung unter einen herrschenden Gedanken, der seine Zeit hat, zum Beispiel Zeit als Eigenschaft des Raumes usw.
654.
– Und wie viele neue Götter sind noch möglich! Mir selber, in dem der religiöse, das heißt gottbildende, Instinkt mitunter zur Unzeit lebendig wird: wie anders, wie verschieden hat sich mir jedesmal das Göttliche offenbart!... So vieles Seltsame ging schon an mir vorüber in jenen zeitlosen Augenblicken, die ins Leben herein wie aus dem Monde fallen, wo man schlechterdings nicht mehr weiß, wie alt man schon ist und wie jung man noch sein wird.... Ich würde nicht zweifeln, daß es viele Arten Götter gibt.... Es fehlt nicht an solchen, aus denen man einen gewissen Halkyonismus und Leichtsinn nicht hinwegdenken darf.... Die leichten Füße gehören vielleicht selbst zum Begriff „Gott“.... Ist es nötig, auszuführen, daß ein Gott sich mit Vorliebe jenseits alles Biedermännischen und Vernunftgemäßen zu halten weiß? jenseits auch, unter uns gesagt, von Gut und Böse? Er hat die Aussicht frei, – mit Goethe zu reden. – Und um für diesen Fall die nicht genug zu schätzende Autorität Zarathustras anzurufen: Zarathustra geht so weit, von sich zu bezeugen, „ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde“....
Nochmals gesagt: wie viele neue Götter sind noch möglich! – Zarathustra selbst freilich ist bloß ein alter Atheist:[Pg 352] der glaubt weder an alte noch neue Götter. Zarathustra sagt, er würde –; aber Zarathustra wird nicht.... Man verstehe ihn recht.
Typus Gottes nach dem Typus der schöpferischen Geister, der „großen Menschen“.
655.
Und wie viele neue Ideale sind im Grunde noch möglich! – Hier ein kleines Ideal, das ich alle fünf Wochen einmal auf einem wilden und einsamen Spaziergang erhasche, im azurnen Augenblick eines frevelhaften Glücks. Sein Leben zwischen zarten und absurden Dingen verbringen; der Realität fremd; halb Künstler, halb Vogel und Metaphysikus; ohne Ja und Nein für die Realität, es sei denn, daß man sie ab und zu in der Art eines guten Tänzers mit den Fußspitzen anerkennt; immer von irgendeinem Sonnenstrahl des Glücks gekitzelt; ausgelassen und ermutigt selbst durch Trübsal – denn Trübsal erhält den Glücklichen –; einen kleinen Schwanz von Posse auch noch dem Heiligsten anhängend: – dies, wie sich von selbst versteht, das Ideal eines schweren, zentnerschweren Geistes, eines Geistes der Schwere.
656.
Der große Mensch fühlt seine Macht über ein Volk, sein zeitweiliges Zusammenfallen mit einem Volk oder einem Jahrtausend: – diese Vergrößerung im Gefühl von sich als causa und voluntas wird mißverstanden als „Altruismus“ – : es drängt ihn nach Mitteln der Mitteilung: alle großen Menschen sind erfinderisch in solchen Mitteln. Sie wollen sich hineingestalten in große Gemeinden, sie wollen eine Form dem Vielartigen, Ungeordneten geben, es reizt sie, das Chaos zu sehen.
Mißverständnis der Liebe. Es gibt eine sklavische Liebe, welche sich unterwirft und weggibt: welche idealisiert und sich täuscht, – es gibt eine göttliche Liebe, welche verachtet und liebt und das Geliebte umschafft, hinaufträgt.
[Pg 353]
Jene ungeheure Energie der Größe zu gewinnen, um durch Züchtung und andrerseits durch Vernichtung von Millionen Mißratener den zukünftigen Menschen zu gestalten und nicht zugrunde zu gehen an dem Leid, das man schafft und dessengleichen noch nie da war! –
657.
Eine Periode, wo die alte Maskerade und Moralaufputzung der Affekte Widerwillen macht: die nackte Natur; wo die Machtquantitäten als entscheidend einfach zugestanden werden (als rangbestimmend); wo der große Stil wieder auftritt als Folge der großen Leidenschaft.
658.
Die Lust tritt auf, wo Gefühl der Macht.
Das Glück: in dem herrschend gewordnen Bewußtsein der Macht und des Siegs.
Der Fortschritt: die Verstärkung des Typus, die Fähigkeit zum großen Wollen: alles andere ist Mißverständnis, Gefahr.
659.
Ich wollte, man finge damit an, sich selbst zu achten: alles andere folgt daraus. Freilich hört man eben damit für die andern auf: denn das gerade verzeihen sie am letzten. „Wie? Ein Mensch, der sich selbst achtet?“ –
Das ist etwas anderes als der blinde Trieb, sich selbst zu lieben: nichts ist gewöhnlicher in der Liebe der Geschlechter wie in der Zweiheit, welche „Ich“ genannt wird, als Verachtung gegen das, was man liebt: – der Fatalismus in der Liebe.
660.
Mein neuer Weg zum „Ja“. – Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Aufsuchen auch der verabscheuten und verruchten Seiten des Daseins. Aus der langen Erfahrung, welche mir eine solche Wanderung durch Eis und Wüste gab, lernte ich alles, was bisher philosophiert hat, anders ansehen: – die verbor[Pg 354]gene Geschichte der Philosophie, die Psychologie ihrer großen Namen kam für mich ans Licht. „Wieviel Wahrheit erträgt, wieviel Wahrheit wagt ein Geist?“ – dies wurde für mich der eigentliche Wertmesser. Der Irrtum ist eine Feigheit.... jede Errungenschaft der Erkenntnis folgt aus dem Mut, aus der Härte gegen sich, aus der Sauberkeit gegen sich.... Eine solche Experimentalphilosophie, wie ich sie lebe, nimmt versuchsweise selbst die Möglichkeit des grundsätzlichen Nihilismus vorweg: ohne daß damit gesagt wäre, daß sie bei einer Negation, beim Nein, bei einem Willen zum Nein stehen bliebe. Sie will vielmehr bis zum Umgekehrten hindurch – bis zu einem dionysischen Jasagen zur Welt, wie sie ist, ohne Abzug, Ausnahme und Auswahl –, sie will den ewigen Kreislauf: – dieselben Dinge, dieselbe Logik und Unlogik der Verknotung. Höchster Zustand, den ein Philosoph erreichen kann: dionysisch zum Dasein stehen – : meine Formel dafür ist amor fati.
Hierzu gehört, die bisher verneinten Seiten des Daseins nicht nur als notwendig zu begreifen, sondern als wünschenswert: und nicht nur als wünschenswert in Hinsicht auf die bisher bejahten Seiten (etwa als deren Komplemente oder Vorbedingungen), sondern um ihrer selber willen, als der mächtigeren, fruchtbareren, wahreren Seiten des Daseins, in denen sich sein Wille deutlicher ausspricht.
Insgleichen gehört hierzu, die bisher allein bejahte Seite des Daseins abzuschätzen; zu begreifen, woher diese Wertung stammt und wie wenig sie verbindlich für eine dionysische Wertabmessung des Daseins ist: ich zog heraus und begriff, was hier eigentlich Ja sagt (der Instinkt der Leidenden einmal, der Instinkt der Herde andrerseits, und jener dritte, der Instinkt der meisten gegen die Ausnahmen –).
Ich erriet damit, inwiefern eine stärkere Art Mensch notwendig nach einer anderen Seite hin sich die Erhöhung und Steigerung des Menschen ausdenken müßte: höhere Wesen, jenseits von Gut und Böse, jenseits von jenen Werten,[Pg 355] die den Ursprung aus der Sphäre des Leidens, der Herde und der meisten nicht verleugnen können, – ich suchte nach den Ansätzen dieser umgekehrten Idealbildung in der Geschichte (die Begriffe „heidnisch“, „klassisch“, „vornehm“ neu entdeckt und hingestellt –).
661.
Der menschliche Horizont. – Man kann die Philosophen auffassen als solche, welche die äußerste Anstrengung machen, zu erproben, wie weit sich der Mensch erheben könne, – besonders Plato: wie weit seine Kraft reicht. Aber sie tun es als Individuen; vielleicht war der Instinkt der Cäsaren, der Staatengründer usw. größer, welche daran denken, wie weit der Mensch getrieben werden könne in der Entwicklung und unter „günstigen Umständen“. Aber sie begriffen nicht genug, was günstige Umstände sind. Große Frage: wo bisher die Pflanze „Mensch“ am prachtvollsten gewachsen ist. Dazu ist das vergleichende Studium der Historie nötig.
662.
Grundgedanke: die neuen Werte müssen erst geschaffen werden – das bleibt uns nicht erspart! Der Philosoph muß uns ein Gesetzgeber sein. Neue Arten. (Wie bisher die höchsten Arten [zum Beispiel Griechen] gezüchtet wurden: diese Art „Zufall“ bewußt wollen.)
663.
Gesetzgeber der Zukunft. – Nachdem ich lange und umsonst mit dem Worte „Philosoph“ einen bestimmten Begriff zu verbinden suchte – denn ich fand viele entgegengesetzte Merkmale –, erkannte ich endlich, daß es zwei unterschiedliche Arten von Philosophen gibt:
1. solche, welche irgendeinen großen Tatbestand von Wertschätzungen (logisch oder moralisch) feststellen wollen;
2. solche, welche Gesetzgeber solcher Wertschätzungen sind.
Die Ersten suchen sich der vorhandenen oder vergangenen Welt zu bemächtigen, indem sie das mannigfach Geschehende[Pg 356] durch Zeichen zusammenfassen und abkürzen: ihnen liegt daran, das bisherige Geschehen übersichtlich, überdenkbar, faßbar, handlich zu machen, – sie dienen der Aufgabe des Menschen, alle vergangenen Dinge zum Nutzen seiner Zukunft zu verwenden.
Die Zweiten aber sind Befehlende; sie sagen: „So soll es sein!“ Sie bestimmen erst das „Wohin“ und „Wozu“, den Nutzen, was Nutzen der Menschen ist; sie verfügen über die Vorarbeit der wissenschaftlichen Menschen, und alles Wissen ist ihnen nur ein Mittel zum Schaffen. Diese zweite Art von Philosophen gerät selten; und in der Tat ist ihre Lage und Gefahr ungeheuer. Wie oft haben sie sich absichtlich die Augen zugebunden, um nur den schmalen Raum nicht sehen zu müssen, der sie vom Abgrund und Absturz trennt: zum Beispiel Plato, als er sich überredete, das „Gute“, wie er es wollte, sei nicht das Gute Platos, sondern das „Gute an sich“, der ewige Schatz, den nur irgendein Mensch namens Plato auf seinem Wege gefunden habe! In viel gröberen Formen waltet dieser selbe Wille zur Blindheit bei den Religionsstiftern: ihr „du sollst“ darf durchaus ihren Ohren nicht klingen wie „ich will“, – nur als dem Befehl eines Gottes wagen sie ihrer Aufgabe nachzukommen, nur als „Eingebung“ ist ihre Gesetzgebung der Werte eine tragbare Bürde, unter der ihr Gewissen nicht zerbricht.
Sobald nun jene zwei Trostmittel, das Platos und das Mohammeds, dahingefallen sind und kein Denker mehr an der Hypothese eines „Gottes“ oder „ewiger Werte“ sein Gewissen erleichtern kann, erhebt sich der Anspruch des Gesetzgebers neuer Werte zu einer neuen und noch nicht erreichten Furchtbarkeit. Nunmehr werden jene Auserkornen, vor denen die Ahnung einer solchen Pflicht aufzudämmern beginnt, den Versuch machen, ob sie ihr wie als ihrer größten Gefahr nicht noch „zur rechten Zeit“ durch irgendeinen Seitensprung entschlüpfen möchten: zum Beispiel, indem sie sich einreden, die Aufgabe sei schon gelöst, oder sie sei unlösbar, oder sie hätten keine Schultern für solche Lasten, oder[Pg 357] sie seien schon mit andern, näheren Aufgaben überladen, oder selbst diese neue ferne Pflicht sei eine Verführung und Versuchung, eine Abführung von allen Pflichten, eine Krankheit, eine Art Wahnsinn. Manchem mag es in der Tat gelingen, auszuweichen: es geht durch die ganze Geschichte hindurch die Spur solcher Ausweichenden und ihres schlechten Gewissens. Zumeist aber kam solchen Menschen des Verhängnisses jene erlösende Stunde, jene Herbststunde der Reife, wo sie mußten, was sie nicht einmal „wollten“: – und die Tat, vor der sie sich am meisten vorher gefürchtet hatten, fiel ihnen leicht und ungewollt vom Baume als eine Tat ohne Willkür, fast als Geschenk. –
664.
Gesetzt, man denkt sich einen Philosophen als großen Erzieher, mächtig genug, um von einsamer Höhe herab lange Ketten von Geschlechtern zu sich heraufzuziehen: so muß man ihm auch die unheimlichen Vorrechte des großen Erziehers zugestehen. Ein Erzieher sagt nie, was er selber denkt: sondern immer nur, was er im Verhältnis zum Nutzen dessen, den er erzieht, über eine Sache denkt. In dieser Verstellung darf er nicht erraten werden; es gehört zu seiner Meisterschaft, daß man an seine Ehrlichkeit glaubt. Er muß aller Mittel der Zucht und Züchtigung fähig sein: manche Naturen bringt er nur durch Peitschenschläge des Hohnes vorwärts, andere, Träge, Unschlüssige, Feige, Eitle, vielleicht mit übertreibendem Lobe. Ein solcher Erzieher ist jenseits von Gut und Böse; aber niemand darf es wissen.
665.
Eine pessimistische Denkweise und Lehre, ein ekstatischer Nihilismus kann unter Umständen gerade dem Philosophen unentbehrlich sein: als ein mächtiger Druck und Hammer, mit dem er entartende und absterbende Rassen zerbricht und aus dem Wege schafft, um für eine neue Ordnung des Lebens Bahn zu machen oder um dem, was entartet und absterben will, das Verlangen zum Ende einzugeben.
[Pg 358]
666.
Der größte Kampf: dazu braucht es einer neuen Waffe.
Der Hammer: eine furchtbare Entscheidung heraufbeschwören, Europa vor die Konsequenz stellen, ob sein Wille zum Untergang „will“.
Verhütung der Vermittelmäßigung. Lieber noch Untergang!
667.
Wie kommen Menschen zu einer großen Kraft und zu einer großen Aufgabe? Alle Tugend und Tüchtigkeit am Leib und an der Seele ist mühsam und im kleinen erworben worden durch viel Fleiß, Selbstbezwingung, Beschränkung auf weniges, durch viel zähe, treue Wiederholung der gleichen Arbeiten, der gleichen Entsagungen: aber es gibt Menschen, welche die Erben und Herren dieses langsam erworbenen vielfachen Reichtums an Tugenden und Tüchtigkeiten sind – weil auf Grund glücklicher und vernünftiger Ehen und auch glücklicher Zufälle die erworbenen und gehäuften Kräfte vieler Geschlechter nicht verschleudert und versplittert, sondern durch einen festen Ring und Willen zusammengebunden sind. Am Ende nämlich erscheint ein Mensch, ein Ungeheuer von Kraft, welches nach einem Ungeheuer von Aufgabe verlangt. Denn unsere Kraft ist es, welche über uns verfügt: und das erbärmliche geistige Spiel von Zielen und Absichten und Beweggründen nur ein Vordergrund – mögen schwache Augen auch hierin die Sache selber sehen.
668.
Im allgemeinen ist jedes Ding so viel wert, als man dafür bezahlt hat. Dies gilt freilich nicht, wenn man das Individuum isoliert nimmt; die großen Fähigkeiten des Einzelnen stehen außer allem Verhältnis zu dem, was er selbst dafür getan, geopfert, gelitten hat. Aber sieht man seine Geschlechtsvorgeschichte an, so entdeckt man da die Geschichte einer ungeheuren Aufsparung und Kapitalsammlung von Kraft durch alle Art Verzichtleisten, Rin[Pg 359]gen, Arbeiten, Sich-Durchsetzen. Weil der große Mensch soviel gekostet hat und nicht, weil er wie ein Wunder als Gabe des Himmels und „Zufalls“ dasteht, wurde er groß: – „Vererbung“ ein falscher Begriff. Für das, was einer ist, haben seine Vorfahren die Kosten bezahlt.
669.
Die Mittel, vermöge deren eine stärkere Art sich erhält.
Sich ein Recht auf Ausnahmehandlungen zugestehen; als Versuch der Selbstüberwindung und der Freiheit.
Sich in Zustände begeben, wo es nicht erlaubt ist, nicht Barbar zu sein.
Sich durch jede Art von Askese eine Übermacht und Gewißheit in Hinsicht auf seine Willensstärke verschaffen.
Sich nicht mitteilen; das Schweigen; die Vorsicht vor der Anmut.
Gehorchen lernen in der Weise, daß es eine Probe für die Selbst-Aufrechterhaltung abgibt. Kasuistik des Ehrenpunktes ins feinste getrieben.
Nie schließen, „was einem recht ist, ist dem andern billig“, – sondern umgekehrt!
Die Vergeltung, das Zurückgebendürfen als Vorrecht behandeln, als Auszeichnung zugestehen.
Die Tugend der anderen nicht ambitionieren.
670.
Die Vermehrung der Kraft, trotz des zeitweiligen Niedergehens des Individuums:
Ein neues Niveau begründen.
Eine Methodik der Sammlung von Kräften, zur Erhaltung kleiner Leistungen im Gegensatz zu unökonomischer Verschwendung.
Die zerstörende Natur einstweilen unterjocht zum Werkzeug dieser Zukunftsökonomik.
Die Erhaltung der Schwachen, weil eine ungeheure Masse kleiner Arbeit getan werden muß.
[Pg 360]
Die Erhaltung einer Gesinnung, bei der Schwachen und Leidenden die Existenz noch möglich ist.
Die Solidarität als Instinkt zu pflanzen gegen den Instinkt der Furcht und der Servilität.
Der Kampf mit dem Zufall, auch mit dem Zufall des „großen Menschen“.
671.
Warum die Schwachen siegen. In summa: die Kranken und Schwachen haben mehr Mitgefühl, sind „menschlicher“ – : die Kranken und Schwachen haben mehr Geist, sind wechselnder, vielfacher, unterhaltender, – boshafter: die Kranken allein haben die Bosheit erfunden. (Eine krankhafte Frühreife häufig bei Rhachitischen, Skrophulosen und Tuberkulosen –) Esprit: Eigentum später Rassen: Juden, Franzosen, Chinesen. (Die Antisemiten vergeben es den Juden nicht, daß die Juden „Geist“ haben – und Geld. Die Antisemiten – ein Name der „Schlechtweggekommenen“.)
Die Kranken und Schwachen haben die Faszination für sich gehabt: sie sind interessanter als die Gesunden: der Narr und der Heilige – die zwei interessantesten Arten Mensch.... in enger Verwandtschaft das „Genie“. Die großen „Abenteurer und Verbrecher“ und alle Menschen, die gesündesten voran, sind gewisse Zeiten ihres Lebens krank: – die großen Gemütsbewegungen, die Leidenschaft der Macht, die Liebe, die Rache sind von tiefen Störungen begleitet. Und was die décadence betrifft, so stellt sie jeder Mensch, der nicht zu früh stirbt, in jedem Sinne beinahe dar: – er kennt also auch die Instinkte, welche zu ihr gehören, aus Erfahrung: – für die Hälfte fast jedes Menschenlebens ist der Mensch décadent.
Endlich: das Weib! Die eine Hälfte der Menschheit ist schwach, typisch-krank, wechselnd, unbeständig, – das Weib braucht die Stärke, um sich an sie zu klammern, und eine Religion der Schwäche, welche es als göttlich verherrlicht, schwach zu sein, zu lieben, demütig zu sein – : oder besser, es macht die Starken schwach, – es herrscht,[Pg 361] wenn es gelingt, die Starken zu überwältigen. Das Weib hat immer mit den Typen der décadence, den Priestern, zusammen konspiriert gegen die „Mächtigen“, die „Starken“, die Männer –. Das Weib bringt die Kinder beiseite für den Kultus der Pietät, des Mitleids, der Liebe: – die Mutter repräsentiert den Altruismus überzeugend.
Endlich: die zunehmende Zivilisation, die zugleich notwendig auch die Zunahme der morbiden Elemente, des Neurotisch-Psychiatrischen und des Kriminalistischen mit sich bringt. Eine Zwischenspezies entsteht, der Artist, von der Kriminalität der Tat durch Willensschwäche und soziale Furchtsamkeit abgetrennt, insgleichen noch nicht reif für das Irrenhaus, aber mit seinen Fühlhörnern in beide Sphären neugierig hineingreifend: diese spezifische Kulturpflanze, der moderne Artist, Maler, Musiker, vor allem Romanzier, der für seine Art zu sein, das sehr uneigentliche Wort „Naturalismus“ handhabt.... Die Irren, die Verbrecher und die „Naturalisten“ nehmen zu: Zeichen einer wachsenden und jäh vorwärts eilenden Kultur, – das heißt, der Ausschuß, der Abfall, die Auswurfstoffe gewinnen Importanz, – das Abwärts hält Schritt....
Endlich: der soziale Mischmasch, Folge der Revolution, die Herstellung gleicher Rechte, des Aberglaubens an „gleiche Menschen“. Dabei mischen sich die Träger der Niedergangsinstinkte (des Ressentiments, der Unzufriedenheit, des Zerstörertriebes, des Anarchismus und Nihilismus), eingerechnet der Sklaveninstinkte, der Feigheits-, Schlauheits- und Kanailleninstinkte der lange unten gehaltenen Schichten in alles Blut aller Stände hinein: zwei, drei Geschlechter darauf ist die Rasse nicht mehr zu erkennen, – alles ist verpöbelt. Hieraus resultiert ein Gesamtinstinkt gegen die Auswahl, gegen das Privilegium jeder Art, von einer Macht und Sicherheit, Härte, Grausamkeit der Praxis, daß in der Tat sich alsbald selbst die Privilegierten unterwerfen: – was noch Macht festhalten will, schmeichelt dem Pöbel, arbeitet mit dem Pöbel, muß den Pöbel auf seiner Seite haben, – die „Genies“ voran: sie[Pg 362] werden Herolde der Gefühle, mit denen man Massen begeistert, – die Note des Mitleids, der Ehrfurcht selbst vor allem, was leidend, niedrig, verachtet, verfolgt gelebt hat, klingt über alle andern Noten weg (Typen: Victor Hugo und Richard Wagner). – Die Heraufkunft des Pöbels bedeutet noch einmal die Heraufkunft der alten Werte....
Bei einer solchen extremen Bewegung in Hinsicht auf Tempo und Mittel, wie sie unsre Zivilisation darstellt, verlegt sich das Schwergewicht der Menschen: der Menschen, auf die es am meisten ankommt, die es gleichsam auf sich haben, die ganze große Gefahr einer solchen krankhaften Bewegung zu kompensieren; – es werden die Verzögerer par excellence, die Langsam-Aufnehmenden, die Schwer-Loslassenden, die Relativ-Dauerhaften inmitten dieses ungeheuren Wechselns und Mischens von Elementen sein. Das Schwergewicht fällt unter solchen Umständen notwendig den Mediokren zu: gegen die Herrschaft des Pöbels und der Exzentrischen (beide meist verbündet) konsolidiert sich die Mediokrität, als die Bürgschaft und die Trägerin der Zukunft. Daraus erwächst für die Ausnahmemenschen ein neuer Gegner – oder aber eine neue Verführung. Gesetzt, daß sie sich nicht dem Pöbel anpassen und dem Instinkt der „Enterbten“ zu Gefallen Lieder singen, werden sie nötig haben, „mittelmäßig“ und „gediegen“ zu sein. Sie wissen: die mediocritas ist auch aurea, – sie allein sogar verfügt über Geld und Gold (– über alles, was glänzt..). Und noch einmal gewinnt die alte Tugend, und überhaupt die ganze verlebte Welt des Ideals eine begabte Fürsprecherschaft.... Resultat: die Mediokrität bekommt Geist, Witz, Genie, – sie wird unterhaltend, sie verführt....
Resultat. – Eine hohe Kultur kann nur stehen auf einem breiten Boden, auf einer stark und gesund konsolidierten Mittelmäßigkeit. In ihrem Dienste und von ihr bedient arbeitet die Wissenschaft – und selbst die Kunst. Die Wissenschaft kann es sich nicht besser wünschen: sie gehört als solche zu einer mittleren Art Mensch, – sie ist deplaziert unter Ausnahmen, – sie hat nichts Aristokratisches[Pg 363] und noch weniger etwas Anarchistisches in ihren Instinkten. – Die Macht der Mitte wird sodann aufrechtgehalten durch den Handel, vor allem den Geldhandel: der Instinkt der Großfinanziers geht gegen alles Extreme, – die Juden sind deshalb einstweilen die konservierendste Macht in unserm so bedrohten und unsicheren Europa. Sie können weder Revolutionen brauchen noch Sozialismus noch Militarismus: wenn sie Macht haben wollen und brauchen, auch über die revolutionäre Partei, so ist dies nur eine Folge des Vorhergesagten und nicht im Widerspruch dazu. Sie haben nötig, gegen andere extreme Richtungen gelegentlich Furcht zu erregen – dadurch, daß sie zeigen, was alles in ihrer Hand steht. Aber ihr Instinkt selbst ist unwandelbar konservativ – und „mittelmäßig“.... Sie wissen überall, wo es Macht gibt, mächtig zu sein: aber die Ausnützung ihrer Macht geht immer in einer Richtung. Das Ehrenwort für mittelmäßig ist bekanntlich das Wort „liberal“.
Besinnung. – Es ist unsinnig, vorauszusetzen, daß dieser ganze Sieg der Werte antibiologisch sei: man muß suchen, ihn zu erklären aus einem Interesse des Lebens, zur Aufrechterhaltung des Typus „Mensch“ selbst durch diese Methodik der Überherrschaft der Schwachen und Schlechtweggekommenen – : im andern Falle existierte der Mensch nicht mehr? – Problem – – –
Die Steigerung des Typus verhängnisvoll für die Erhaltung der Art? Warum? –
Es zeigen die Erfahrungen der Geschichte: die starken Rassen dezimieren sich gegenseitig: durch Krieg, Machtbegierde, Abenteuer; die starken Affekte: die Vergeudung – (es wird Kraft nicht mehr kapitalisiert, es entsteht die geistige Störung durch die übertriebene Spannung); ihre Existenz ist kostspielig, kurz – sie reiben sich untereinander auf –; es treten Perioden tiefer Abspannung und Schlaffheit ein: alle großen Zeiten werden bezahlt.... Die Starken sind hinterdrein schwächer, willenloser, absurder als die durchschnittlich Schwachen.
[Pg 364]
Es sind verschwenderische Rassen. Die „Dauer“ an sich hätte ja keinen Wert: man möchte wohl eine kürzere, aber wertreichere Existenz der Gattung vorziehen. – Es bliebe übrig, zu beweisen, daß selbst so ein reicherer Wertertrag erzielt würde als im Fall der kürzeren Existenz; das heißt, der Mensch als Aufsummierung von Kraft gewinnt ein viel höheres Quantum von Herrschaft über die Dinge, wenn es so geht, wie es geht.... Wir stehen vor einem Problem der Ökonomie – – –
672.
Die Starken der Zukunft. – Was teils die Not, teils der Zufall hier und da erreicht hat, die Bedingungen zur Hervorbringung einer stärkeren Art: das können wir jetzt begreifen und wissentlich wollen: wir können die Bedingungen schaffen, unter denen eine solche Erhöhung möglich ist.
Bis jetzt hatte die „Erziehung“ den Nutzen der Gesellschaft im Auge: nicht den möglichsten Nutzen der Zukunft, sondern den Nutzen der gerade bestehenden Gesellschaft. „Werkzeuge“ für sie wollte man. Gesetzt, der Reichtum an Kraft wäre größer, so ließe sich ein Abzug von Kräften denken, dessen Ziel nicht dem Nutzen der Gesellschaft gälte, sondern einem zukünftigen Nutzen.
Eine solche Aufgabe wäre zu stellen, je mehr man begriffe, inwiefern die gegenwärtige Form der Gesellschaft in einer starken Verwandlung wäre, um irgendwann einmal nicht mehr um ihrer selber willen existieren zu können: sondern nur noch als Mittel in den Händen einer stärkeren Rasse.
Die zunehmende Verkleinerung des Menschen ist gerade die treibende Kraft, um an die Züchtung einer stärkeren Rasse zu denken: welche gerade ihren Überschuß darin hätte, worin die verkleinerte Spezies schwach und schwächer würde (Wille, Verantwortlichkeit, Selbstgewißheit, Ziele-sich-setzen-können).
Die Mittel wären die, welche die Geschichte lehrt: die[Pg 365] Isolation durch umgekehrte Erhaltungsinteressen, als die durchschnittlichen heute sind; die Einübung in umgekehrten Wertschätzungen; die Distanz als Pathos; das freie Gewissen im heute Unterschätztesten und Verbotensten.
Die Ausgleichung des europäischen Menschen ist der große Prozeß, der nicht zu hemmen ist: man sollte ihn noch beschleunigen. Die Notwendigkeit für eine Kluftaufreißung, Distanz, Rangordnung ist damit gegeben: nicht die Notwendigkeit, jenen Prozeß zu verlangsamen.
Diese ausgeglichene Spezies bedarf, sobald sie erreicht ist, einer Rechtfertigung: sie liegt im Dienste einer höheren souveränen Art, welche auf ihr steht und erst auf ihr sich zu ihrer Aufgabe erheben kann. Nicht nur eine Herrenrasse, deren Aufgabe sich damit erschöpfte, zu regieren: sondern eine Rasse mit eigener Lebenssphäre, mit einem Überschuß von Kraft für Schönheit, Tapferkeit, Kultur, Manier bis ins Geistigste; eine bejahende Rasse, welche sich jeden großen Luxus gönnen darf –, stark genug, um die Tyrannei des Tugend-Imperativs nicht nötig zu haben, reich genug, um die Sparsamkeit und Pedanterie nicht nötig zu haben, jenseits von Gut und Böse; ein Treibhaus für sonderbare und ausgesuchte Pflanzen.
673.
Summa: die Herrschaft über die Leidenschaften, nicht deren Schwächung oder Ausrottung! – Je größer die Herrenkraft des Willens ist, um soviel mehr Freiheit darf den Leidenschaften gegeben werden.
Der „große Mensch“ ist groß durch den Freiheitsspielraum seiner Begierden und durch die noch größere Macht, welche diese prachtvollen Untiere in Dienst zu nehmen weiß.
Der „gute Mensch“ ist auf jeder Stufe der Zivilisation der Ungefährliche und Nützliche zugleich: eine Art Mitte; der Ausdruck im gemeinen Bewußtsein davon, vor wem man sich nicht zu fürchten hat, und wen man trotzdem nicht verachten darf.
Erziehung: wesentlich das Mittel, die Ausnahme zu rui[Pg 366]nieren zugunsten der Regel. Bildung: wesentlich das Mittel, den Geschmack gegen die Ausnahme zu richten zugunsten des Mittleren.
Erst wenn eine Kultur über einen Überschuß von Kräften zu gebieten hat, kann sie auch ein Treibhaus für den Luxuskultus der Ausnahme, des Versuchs, der Gefahr, der Nuance sein: – jede aristokratische Kultur tendiert dahin.
674.
Ein kleiner tüchtiger Bursch wird ironisch blicken, wenn man ihn fragt: „Willst du tugendhaft werden?“ – aber er macht die Augen auf, wenn man ihn fragt: „Willst du stärker werden als deine Kameraden?“
Wie wird man stärker? – Sich langsam entscheiden, und zähe festhalten an dem, was man entschieden hat. Alles andere folgt.
Die Plötzlichen und die Veränderlichen: die beiden Arten der Schwachen. Sich nicht mit ihnen verwechseln; die Distanz fühlen – beizeiten!
Vorsicht vor den Gutmütigen! Der Umgang mit ihnen erschlafft. Jeder Umgang ist gut, bei dem die Wehr und Waffen, die man in den Instinkten hat, geübt werden. Die ganze Erfindsamkeit darin, seine Willenskraft auf die Probe zu stellen.... Hier das Unterscheidende sehen, nicht im Wissen, Scharfsinn, Witz.
Man muß befehlen lernen, beizeiten, – ebensogut als gehorchen. Man muß Bescheidenheit, Takt in der Bescheidenheit lernen: nämlich auszeichnen, ehren, wo man bescheiden ist; ebenso mit Vertrauen – auszeichnen, ehren.
Was büßt man am schlimmsten? Seine Bescheidenheit; seinen eigensten Bedürfnissen kein Gehör geschenkt zu haben; sich verwechseln; sich niedrig nehmen; die Feinheit des Ohrs für seine Instinkte einbüßen; – dieser Mangel an Ehrerbietung gegen sich rächt sich durch jede Art von Einbuße: Gesundheit, Freundschaft, Wohlgefühl, Stolz, Heiterkeit, Freiheit, Festigkeit, Mut. Man vergibt sich später[Pg 367] diesen Mangel an echtem Egoismus nie: man nimmt ihn als Einwand, als Zweifel an einem wirklichen ego.
675.
Es wird von nun an günstige Vorbedingungen für umfänglichere Herrschaftsgebilde geben, dergleichen es noch nicht gegeben hat. Und dies ist noch nicht das Wichtigste; es ist die Entstehung von internationalen Geschlechtsverbänden möglich gemacht, welche sich die Aufgabe setzen, eine Herrenrasse heraufzuzüchten, die zukünftigen „Herren der Erde“; – eine neue, ungeheure, auf der härtesten Selbst-Gesetzgebung aufgebaute Aristokratie, in der dem Willen philosophischer Gewaltmenschen und Künstlertyrannen Dauer über Jahrtausende gegeben wird: – eine höhere Art Menschen, die sich, dank ihrem Übergewicht von Wollen, Wissen, Reichtum und Einfluß, des demokratischen Europas bedienen als ihres gefügigsten und beweglichsten Werkzeugs, um die Schicksale der Erde in die Hand zu bekommen, um am „Menschen“ selbst als Künstler zu gestalten. Genug, die Zeit kommt, wo man über Politik umlernen wird.
676.
Wir wenigen oder vielen, die wir wieder in einer entmoralisierten Welt zu leben wagen, wir Heiden dem Glauben nach: wir sind wahrscheinlich auch die ersten, die es begreifen, was ein heidnischer Glaube ist: – sich höhere Wesen, als der Mensch ist, vorstellen müssen, aber diese jenseits von Gut und Böse; alles Höher-sein auch als Unmoralisch-sein abschätzen müssen. Wir glauben an den Olymp – und nicht an den „Gekreuzigten“.
677.
Die Täuschung Apollos: die Ewigkeit der schönen Form; die aristokratische Gesetzgebung „so soll es immer sein!“
Dionysos: Sinnlichkeit und Grausamkeit. Die Vergänglichkeit könnte ausgelegt werden als Genuß der zeugenden und zerstörenden Kraft, als beständige Schöpfung.
[Pg 368]
678.
Die zwei Typen: Dionysos und der Gekreuzigte. – Festzustellen: ob der typische religiöse Mensch eine décadence-Form ist (die großen Neuerer sind samt und sonders krankhaft und epileptisch); aber lassen wir nicht da einen Typus des religiösen Menschen aus, den heidnischen? Ist der heidnische Kult nicht eine Form der Danksagung und der Bejahung des Lebens? Müßte nicht sein höchster Repräsentant eine Apologie und Vergöttlichung des Lebens sein? Typus eines wohlgeratenen und entzückt-überströmenden Geistes! Typus eines die Widersprüche und Fragwürdigkeiten des Daseins in sich hineinnehmenden und erlösenden Geistes!
Hierher stelle ich den Dionysos der Griechen: die religiöse Bejahung des Lebens, des ganzen, nicht verleugneten und halbierten Lebens; (typisch – daß der Geschlechtsakt Tiefe, Geheimnis, Ehrfurcht erweckt).
Dionysos gegen den „Gekreuzigten“: da habt ihr den Gegensatz. Es ist nicht eine Differenz hinsichtlich des Martyriums, – nur hat dasselbe einen anderen Sinn. Das Leben selbst, seine ewige Fruchtbarkeit und Wiederkehr bedingt die Qual, die Zerstörung, den Willen zur Vernichtung. Im andern Falle gilt das Leiden, der „Gekreuzigte als der Unschuldige“, als Einwand gegen dieses Leben, als Formel seiner Verurteilung. – Man errät: das Problem ist das vom Sinn des Leidens: ob ein christlicher Sinn, ob ein tragischer Sinn. Im ersten Falle soll es der Weg sein zu einem heiligen Sein; im letzteren Falle gilt das Sein als heilig genug, um ein Ungeheures von Leid noch zu rechtfertigen. Der tragische Mensch bejaht noch das herbste Leiden: er ist stark, voll, vergöttlichend genug dazu; der christliche verneint noch das glücklichste Los auf Erden: er ist schwach, arm, enterbt genug, um in jeder Form noch am Leben zu leiden. Der Gott am Kreuz ist ein Fluch auf das Leben, ein Fingerzeig, sich von ihm zu erlösen; – der in Stücke geschnittene Dionysos ist eine Verheißung des Le[Pg 369]bens: es wird ewig wiedergeboren und aus der Zerstörung heimkommen.
679.
Meine Philosophie bringt den siegreichen Gedanken, an welchem zuletzt jede andere Denkweise zugrunde geht. Es ist der große, züchtende Gedanke: die Rassen, welche ihn nicht ertragen, sind verurteilt: die, welche ihn als größte Wohltat empfinden, sind zur Herrschaft ausersehen.
680.
Ich will den Gedanken lehren, welcher vielen das Recht gibt, sich durchzustreichen, – den großen züchtenden Gedanken.
681.
Jener Kaiser hielt sich beständig die Vergänglichkeit aller Dinge vor, um sie nicht zu wichtig zu nehmen und zwischen ihnen ruhig zu bleiben. Mir scheint umgekehrt alles viel zu viel wert zu sein, als daß es so flüchtig sein dürfte: ich suche nach einer Ewigkeit für jegliches: dürfte man die kostbarsten Salben und Weine ins Meer gießen? – Mein Trost ist, daß alles, was war, ewig ist: – das Meer spült es wieder her.
682.
Die beiden extremsten Denkweisen – die mechanistische und die platonische – kommen überein in der ewigen Wiederkunft: beide als Ideale.
683.
1. Der Gedanke der ewigen Wiederkunft: seine Voraussetzungen, welche wahr sein müßten, wenn er wahr ist. Was aus ihm folgt.
2. Als der schwerste Gedanke: seine mutmaßliche Wirkung, falls nicht vorgebeugt wird, das heißt, falls nicht alle Werte umgewertet werden.
3. Mittel, ihn zu ertragen: die Umwertung aller Werte. Nicht mehr die Lust an der Gewißheit, sondern an der Ungewißheit; nicht mehr „Ursache und Wirkung“, sondern[Pg 370] das beständig Schöpferische; nicht mehr Wille der Erhaltung, sondern der Macht; nicht mehr die demütige Wendung, „es ist alles nur subjektiv“, sondern „es ist auch unser Werk! – seien wir stolz darauf!“
684.
Die neue Weltkonzeption. – Die Welt besteht; sie ist nichts, was wird, nichts, was vergeht. Oder vielmehr: sie wird, sie vergeht, aber sie hat nie angefangen zu werden und nie aufgehört zu vergehen, – sie erhält sich in beidem.... Sie lebt von sich selber: ihre Exkremente sind ihre Nahrung.
Die Hypothese einer geschaffenen Welt soll uns nicht einen Augenblick bekümmern. Der Begriff „schaffen“ ist heute vollkommen undefinierbar, unvollziehbar; bloß ein Wort noch, rudimentär aus Zeiten des Aberglaubens; mit einem Wort erklärt man nichts. Der letzte Versuch, eine Welt, die anfängt, zu konzipieren, ist neuerdings mehrfach mit Hilfe einer logischen Prozedur gemacht worden – zumeist, wie zu erraten ist, aus einer theologischen Hinterabsicht.
Man hat neuerdings mehrfach dem Begriff „Zeitunendlichkeit der Welt nach hinten“ (regressus in infinitum) einen Widerspruch finden wollen: man hat ihn selbst gefunden, um den Preis freilich, dabei den Kopf mit dem Schwanz zu verwechseln. Nichts kann mich hindern, von diesem Augenblick an rückwärts rechnend zu sagen, „ich werde nie dabei an ein Ende kommen“; wie ich vom gleichen Augenblick vorwärts rechnen kann, ins Unendliche hinaus. Erst wenn ich den Fehler machen wollte – ich werde mich hüten, es zu tun –, diesen korrekten Begriff eines regressus in infinitum gleichzusetzen mit einem gar nicht vollziehbaren Begriff eines endlichen progressus bis jetzt, erst wenn ich die Richtung (vorwärts oder rückwärts) als logisch indifferent setzte, würde ich den Kopf – diesen Augenblick – als Schwanz zu fassen bekommen....
Ich bin auf diesen Gedanken bei früheren Denkern ge[Pg 371]stoßen: jedesmal war er durch andere Hintergedanken bestimmt (– meistens theologische, zugunsten des creator spiritus). Wenn die Welt überhaupt erstarren, vertrocknen, absterben, nichts werden könnte, oder wenn sie einen Gleichgewichtszustand erreichen könnte, oder wenn sie überhaupt irgendein Ziel hätte, das die Dauer, die Unveränderlichkeit, das Ein-für-alle-Mal in sich schlösse (kurz, metaphysisch geredet: wenn das Werden in das Sein oder ins Nichts münden könnte), so müßte dieser Zustand erreicht sein. Aber er ist nicht erreicht: woraus folgt.... Das ist unsre einzige Gewißheit, die wir in den Händen halten, um als Korrektiv gegen eine große Menge an sich möglicher Welthypothesen zu dienen. Kann zum Beispiel der Mechanismus der Konsequenz eines Finalzustandes nicht entgehen, welche William Thomson ihm gezogen hat, so ist damit der Mechanismus widerlegt.
Wenn die Welt als bestimmte Größe von Kraft und als bestimmte Zahl von Kraftzentren gedacht werden darf – und jede andre Vorstellung bleibt unbestimmt und folglich unbrauchbar –, so folgt daraus, daß sie eine berechenbare Zahl von Kombinationen im großen Würfelspiel ihres Daseins durchzumachen hat. In einer unendlichen Zeit würde jede mögliche Kombination irgendwann einmal erreicht sein; mehr noch: sie würde unendliche Male erreicht sein. Und da zwischen jeder Kombination und ihrer nächsten Wiederkehr alle überhaupt noch möglichen Kombinationen abgelaufen sein müßten, und jede dieser Kombinationen die ganze Folge der Kombinationen in derselben Reihe bedingt, so wäre damit ein Kreislauf von absolut identischen Reihen bewiesen: die Welt als Kreislauf, der sich unendlich oft bereits wiederholt hat und der sein Spiel in infinitum spielt. – Diese Konzeption ist nicht ohne weiteres eine mechanistische: denn wäre sie das, so würde sie nicht eine unendliche Wiederkehr identischer Fälle bedingen, sondern einen Finalzustand. Weil die Welt ihn nicht erreicht hat, muß der Mechanismus uns als unvollkommene und nur vorläufige Hypothese gelten.
[Pg 372]
685.
Hätte die Welt ein Ziel, so müßte es erreicht sein. Gäbe es für sie einen unbeabsichtigten Endzustand, so müßte er ebenfalls erreicht sein. Wäre sie überhaupt eines Verharrens und Starrwerdens, eines „Seins“ fähig, hätte sie in allem ihren Werden nur einen Augenblick diese Fähigkeit des „Seins“, so wäre es wiederum mit allem Werden längst zu Ende, also auch mit allem Denken, mit allem „Geiste“. Die Tatsache des „Geistes“ als eines Werdens beweist, daß die Welt kein Ziel, keinen Endzustand hat und des Seins unfähig ist. – Die alte Gewohnheit aber, bei allem Geschehen an Ziele und bei der Welt an einen lenkenden, schöpferischen Gott zu denken, ist so mächtig, daß der Denker Mühe hat, sich selber die Ziellosigkeit der Welt nicht wieder als Absicht zu denken. Auf diesen Einfall – daß also die Welt absichtlich einem Ziel ausweiche und sogar das Hineingeraten in einen Kreislauf künstlich zu verhüten wisse – müssen alle die verfallen, welche der Welt das Vermögen zur ewigen Neuheit aufdekretieren möchten, das heißt einer endlichen, bestimmten, unveränderlich gleichgroßen Kraft, wie es „die Welt“ ist, die Wunderfähigkeit zur unendlichen Neugestaltung ihrer Formen und Lagen. Die Welt, wenn auch kein Gott mehr, soll doch der göttlichen Schöpferkraft, der unendlichen Verwandlungskraft fähig sein; sie soll es sich willkürlich verwehren, in eine ihrer alten Formen zurückzugeraten; sie soll nicht nur die Absicht, sondern auch die Mittel haben, sich selber vor jeder Wiederholung zu bewahren; sie soll somit in jedem Augenblick jede ihrer Bewegungen auf die Vermeidung von Zielen, Endzuständen, Wiederholungen hin kontrollieren – und was alles die Folgen einer solchen unverzeihlich-verrückten Denk- und Wunschweise sein mögen. Das ist immer noch die alte religiöse Denk- und Wunschweise, eine Art Sehnsucht, zu glauben, daß irgendworin doch die Welt dem alten, geliebten, unendlichen, unbegrenzt-schöpferischen Gotte gleich sei – daß irgendworin doch „der alte Gott noch lebe“ –, jene Sehnsucht Spinozas, die sich in[Pg 373] dem Worte „deus sive natura“ (er empfand sogar „natura sive deus“ –) ausdrückt. Welches ist denn aber der Satz und Glaube, mit welchem sich die entscheidende Wendung, das jetzt erreichte Übergewicht des wissenschaftlichen Geistes über den religiösen, götter-erdichtenden Geist, am bestimmtesten formuliert? Heißt er nicht: die Welt als Kraft darf nicht unbegrenzt gedacht werden, denn sie kann nicht so gedacht werden, – wir verbieten uns den Begriff einer unendlichen Kraft als mit dem Begriff „Kraft“ unverträglich. Also – fehlt der Welt auch das Vermögen zur ewigen Neuheit.
686.
Daß eine Gleichgewichtslage nie erreicht ist, beweist, daß sie nicht möglich ist. Aber in einem unbestimmten Raum müßte sie erreicht sein. Ebenfalls in einem kugelförmigen Raum. Die Gestalt des Raumes muß die Ursache der ewigen Bewegung sein, und zuletzt aller „Unvollkommenheit“.
Daß „Kraft“ und „Ruhe“, „Sich-gleich-bleiben“ sich widerstreiten. Das Maß der Kraft (als Größe) fest, ihr Wesen aber flüssig.
„Zeitlos“ abzuweisen. In einem bestimmten Augenblick der Kraft ist die absolute Bedingtheit einer neuen Verteilung aller ihrer Kräfte gegeben: sie kann nicht stillstehen. „Veränderung“ gehört ins Wesen hinein, also auch die Zeitlichkeit: womit aber nur die Notwendigkeit der Veränderung noch einmal begrifflich gesetzt wird.
687.
Der Satz vom Bestehen der Energie fordert die ewige Wiederkehr.
688.
Um den Gedanken der Wiederkunft zu ertragen, ist nötig: Freiheit von der Moral; – neue Mittel gegen die Tatsache des Schmerzes (Schmerz begreifen als Werkzeug, als Vater der Lust; es gibt kein summierendes Bewußtsein der Unlust); – der Genuß an aller Art Ungewiß[Pg 374]heit, Versuchhaftigkeit, als Gegengewicht gegen jenen extremen Fatalismus; – Beseitigung des Notwendigkeitsbegriffs; – Beseitigung des „Willens“; – Beseitigung der „Erkenntnis an sich“.
Größte Erhöhung des Kraftbewußtseins des Menschen als dessen, der den Übermenschen schafft.
689.
Die beiden größten (von Deutschen gefundenen) philosophischen Gesichtspunkte:
a) der des Werdens, der Entwicklung;
b) der nach dem Werte des Daseins (aber die erbärmliche Form des deutschen Pessimismus erst zu überwinden!) –
beide von mir in entscheidender Weise zusammengebracht.
Alles wird und kehrt ewig wieder, – entschlüpfen ist nicht möglich! – Gesetzt, wir könnten den Wert beurteilen, was folgt daraus? Der Gedanke der Wiederkunft als auswählendes Prinzip im Dienste der Kraft (und Barbarei!!).
Reife der Menschheit für diesen Gedanken.
690.
Es ist ganz und gar nicht die erste Frage, ob wir mit uns zufrieden sind, sondern ob wir überhaupt irgend womit zufrieden sind. Gesetzt, wir sagen ja zu einem einzigen Augenblick, so haben wir damit nicht nur zu uns selbst, sondern zu allem Dasein ja gesagt. Denn es steht nichts für sich, weder in uns selbst noch in den Dingen: und wenn nur ein einziges Mal unsre Seele wie eine Saite vor Glück gezittert und getönt hat, so waren alle Ewigkeiten nötig, um dies eine Geschehen zu bedingen – und alle Ewigkeit war in diesem einzigen Augenblick unseres Jasagens gutgeheißen, erlöst, gerechtfertigt und bejaht.
691.
Es muß solche geben, die alle Verrichtungen heiligen, nicht nur Essen und Trinken: – und nicht nur im Gedächt[Pg 375]nis an sie oder im Eins-werden mit ihnen, sondern immer von neuem und auf neue Weise soll diese Welt verklärt werden.
692.
Der Mensch ist das Untier und Übertier; der höhere Mensch ist der Unmensch und Übermensch: so gehört es zusammen. Mit jedem Wachstum des Menschen in die Größe und Höhe wächst er auch in das Tiefe und Furchtbare: man soll das eine nicht wollen ohne das andere, – oder vielmehr: je gründlicher man das eine will, um so gründlicher erreicht man gerade das andere.
693.
Nicht „Menschheit“, sondern Übermensch ist das Ziel!
694.
Come l'uom s'eterna....
Inf. XV, 85.
695.
Den ganzen Umkreis der modernen Seele umlaufen, in jedem ihrer Winkel gesessen zu haben – mein Ehrgeiz, meine Tortur und mein Glück.
Wirklich den Pessimismus überwinden –; ein Goethescher Blick voll Liebe und gutem Willen als Resultat.
696.
Und wißt ihr auch, was mir „die Welt“ ist? Soll ich sie euch in meinem Spiegel zeigen? Die Welt: ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, eine feste, eherne Größe von Kraft, welche nicht größer, nicht kleiner wird, die sich nicht verbraucht, sondern nur verwandelt, als Ganzes unveränderlich groß, ein Haushalt ohne Ausgaben und Einbußen, aber ebenso ohne Zuwachs, ohne Einnahmen, vom „Nichts“ umschlossen als von seiner Grenze, nichts Verschwimmendes, Verschwendetes, nichts Unendlich-Ausgedehntes, sondern als bestimmte Kraft einem bestimmten Raum eingelegt, und nicht einem Raume, der irgendwo „leer“ wäre, vielmehr als Kraft überall, als Spiel von[Pg 376] Kräften und Kraftwellen zugleich eins und vieles, hier sich häufend und zugleich dort sich mindernd, ein Meer in sich selber stürmender und flutender Kräfte, ewig sich wandelnd, ewig zurücklaufend mit ungeheuren Jahren der Wiederkehr, mit einer Ebbe und Flut seiner Gestaltungen, aus den einfachsten in die vielfältigsten hinaustreibend, aus dem Stillsten, Starrsten, Kältesten hinaus in das Glühendste, Wildeste, Sich-selber-Widersprechendste, und dann wieder aus der Fülle heimkehrend zum Einfachen, aus dem Spiel der Widersprüche zurück bis zur Lust des Einklangs, sich selber bejahend noch in dieser Gleichheit seiner Bahnen und Jahre, sich selber segnend als das, was ewig wiederkommen muß, als ein Werden, das kein Sattwerden, keinen Überdruß, keine Müdigkeit kennt – : diese meine dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens, diese Geheimniswelt der doppelten Wollüste, dies mein „Jenseits von Gut und Böse“ ohne Ziel, wenn nicht im Glück des Kreises ein Ziel liegt ohne Willen, wenn nicht ein Ring zu sich selber guten Willen hat, – wollt ihr einen Namen für diese Welt? Eine Lösung für alle ihre Rätsel? Ein Licht auch für euch, ihr Verborgensten, Stärksten, Unerschrockensten, Mitternächtlichsten? – Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!
Bei der Transkription vorgenommene Änderungen:
Im Satz "Man folgt, aber man folgert nicht mehr." war im Original nach dem ersten Halbsatz ein Absatz gebildet. Dieser wurde entfernt.
Die Kapitelzählung "64." stand nicht über dem Absatz, sondern erst am Beginn der nächsten Seite. Dies wurde korrigiert.
In "Goethe lehrt es anders; aber es scheint, daß er hier sich selbst mißverstehen wollte" stand "mistverstehen".
In "Das wäre der Fall, wenn etwas innerhalb jenes Prozesses in jedem Momente desselben erreicht würde – und immer das Gleiche.", "sie drückt auf jeden Punkt, es widersteht ihr jeder Punkt – und diese Summierungen sind in jedem Falle gänzlich inkongruent" sowie in "daß die Strafen proportional wehe tun sollen gemäß der Größe des Verbrechens – und so wollt ihr's ja alle im Grunde!" stand jeweils zweimal "und" nach dem Gedankenstrich.
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