Wenn ein mutterherz bricht

Liebe Luna, mein Kind

Acht Wochen ist es heute her, dass mein Mutterherz stehen blieb. Weil dein Herz aufgehört hat, zu schlagen. Als ich dich auf dem grossen Ultraschall-Bildschirm sah, habe ich sofort gesehen, dass du dich schlafen gelegt hast. In den Wochen zuvor hast du dich jeweils in meinem Bauch ausgetobt, bist herumgehüpft, hast uns zugewinkt, dein Herzchen pochte. Nun aber war alles anders.

Seit diesem einen Moment ist unser Leben anders – und trotzdem gleich.

Unser Alltag hat sich nicht wesentlich verändert und wer deinen Vater, deinen Bruder und mich beobachtet, wird nur schwer bemerken, dass unser Herz immer noch kaum pulsiert. Es ist schwer zu bemerken, dass wir als Familie näher beisammen sind, weil jemand, der zu uns gehört, fehlt.

Dass ich es noch immer nur ab und zu wage, meine Gefühle zuzulassen. Dass ich Schwierigkeiten habe, meinen von der Schwangerschaft gezeichneten After-Baby-Body zu akzeptieren. Dass ich mich manchmal fühle, als hätte ich mir selbst ein wichtiges Stück meines Körpers amputiert.

Dein grosser Bruder fordert seinen Alltag ein, was sein Recht ist und mir gut tut. Die letzten Wochen waren auch für ihn nicht einfach. Er sah seine Mutter tagelang im Bett liegen.

Gezeichnet von den Nachwehen der Geburt, gezeichnet von der Trauer.

Dein Vater versuchte sich mit allen Kräften zu kümmern, war aber selbst am Boden zerstört und völlig übermannt von der Heftigkeit seiner Gefühle. Dein Bruder ist noch zu klein, um zu verstehen, was passiert ist, er begreift unsere Trauer nicht. Aber es ist erstaunlich und für mich befreiend zu sehen, wie wunderbar er mit der Situation umgeht.

Er weiss, dass du uns wichtig bist. Er weiss, dass die Fotos von dir uns sehr viel bedeuten und unsere Gefühle etwas mit den Erinnerungen auf dem Sideboard in der Stube zu tun haben. Immer wieder holt er die Bilder von dir und schaut sie sich vergnügt an. Besonders der kleine Uhu, der bei dir im Bettchen liegt und den du mitgenommen hast auf deinen Stern, gefällt ihm. Er hat nun denselben Uhu und oft, wenn Besuch kommt, holt er ihn und präsentiert ihn stolz. Ich bin froh, dass wir deinen Bruder nicht ausschliessen, dass er besonders jetzt Teil von unserem Familienleben ist.

Wenn ein mutterherz bricht
Irgendwann wird der grosse Bruder verstehen, warum seine Eltern so traurig sind.

Er soll sehen, dass seine Eltern ihre Gefühle offen leben.

Ich und euer Vater wollen ihm darin ein Vorbild sein. Und ich bin sicher, dass der Tag kommen wird, an dem er versteht, dass du sein Geschwisterchen bist.

Deinen grossen Bruder nicht auszuschliessen, ihn nicht zu schützen, war einer von vielen Tipps unserer Hebamme, einer ausgebildeten Trauerbegleiterin von kindsverlust.ch. Ich kann kaum in Worte fassen, wie wichtig Jeannine und unsere Frauenärztin seit deinem Tod für uns waren.

Kaum war damals der Ultraschall-Bildschirm vor meiner Nase abgeschaltet – ich lag noch regungslos und perplex da – fingen sie an, sich zu kümmern. Wir fühlten uns psychisch und medizinisch getragen, konnten vieles abgeben und uns auf uns konzentrieren. Sie verschafften uns Zeit und nahmen uns viele Ängste. Und sie konfrontierten uns – deine völlig überforderten Eltern – mit Fragen, die wir uns in diesem Moment nicht zu stellen wagten.

Was passiert, wenn ein Kind im Mutterleib stirbt?

Kennen wir unsere Rechte? Können wir uns ein Abschiedsritual für dich vorstellen? Möchten wir dir einen Namen geben? Wann und wo möchten wir dich zur Welt bringen? Welche medizinischen Fragen könnten während der Geburt auf uns zu kommen? Wie möchten wir dich nach der Geburt bei uns haben? Wo und wie möchten wir dich bestatten? Kennen wir eine Hebamme, die mich im Wochenbett betreuen könnte?

Im ersten Moment waren uns diese Fragen egal. Du warst gestorben. Wir waren leer.

Trotzdem mobilisierten wir während der Tage vor deiner Geburt all unsere Kräfte, um uns mit diesen Fragen zu konfrontieren. Heute weiss ich, dass sich dieser Kraftakt gelohnt hat: Denn weil wir unsere Antworten gefunden hatten, konnten wir die kurze Zeit, die wir mit dir verbringen durften, befreit geniessen.

Deine Geburt und die Stunden, während denen dein kleiner, zerbrechlicher Körper neben mir im Krankenhausbett gelegen hat, sind heute für mich enorm kostbar. Ich erlebte die Geburt als extrem schmerzhaft und streng, jedoch nicht als traumatisch. Ich fühlte mich durch die Wehen sogar irgendwie mit dir verbunden. Als du da warst, staunten wir ab dir.

Wenn ein mutterherz bricht
Ein Bild für Luna, gemalt von Sandras Gottemeitschi.

Für uns warst auch du unser kleines, grosses Wunder.

Du warst auf deine eigene Art und Weise wunderschön. Dieselben Emotionen und Muttergefühle sprudelten in mir hoch, wie ich es damals bei deinem Bruder erleben durfte. All diese Bilder und Gefühle habe ich gesammelt und irgendwo in meinem Kopf vorsichtig aufgehoben. Wenn ich dich vermisse – und das ist sehr oft der Fall – hole ich sie wieder hervor und stöbere in ihnen. Dann wird mir wieder klar, dass ich nicht um ein anonymes, unbekanntes Phantom trauere, das nie einen Fuss auf diese Erde setzte.

Sondern um dich, mein wundervolles Kind.

Ah, und Luna, was ich dich noch fragen wollte: Gell, im Bezug auf unsere Geschichte brauchen wir den Ausdruck «ein Kind verlieren» nicht mehr. Einverstanden? Denn du bist nicht einfach beiläufig verloren gegangen, wie mein Schlüsselbund, den ich seit Tagen suche, das wissen wir zwei nur allzu gut.

Dich zu gebären im Wissen darum, dass du mich danach nie mit deinem Blick mustern, dass du nie vor lauter Geborgenheit an meiner Brust einnicken würdest, war der grösste Kraftakt meines Lebens. Dich zu gebären, obwohl weder mein Körper noch meine Mutterliebe bereit waren, dich loszulassen, war alles andere als tollpatschig, beiläufig und unabsichtlich.

Ich habe dich mit aller Kraft und meinem ganzen Verstand zur Welt gebracht. Und darauf bin ich stolz.

In Liebe

Deine dich vermissende Mama

Wenn ein mutterherz bricht
Sandra Baumgartner (34) ist die Mama eines kleinen Lausbuben (2017) und Luna (2019) und wohnt mit Kind und Kegel (aka Mann Jan) in Brienz. Sie arbeitet als selbständige Kommunikationsberaterin. Sandra mag die Grimassen ihres Sohnes, Debattieren und Politisieren, den Blick von ihrem Zuhause aus über den schönsten See der Schweiz, die jungfräuliche „Ribbeli- Piste“ am frühen Morgen eines anbrechenden Skitages, auf einem Berg mit eigener Muskelkraft ankommen, Windschattenfahren, gut recherchierte und erzählte Reportagen aus aller Welt und schwarze Ragusa-Schoggi (immer und überall). Ihr ist wichtig, dass das Thema «Fehl- und Totgeburt» nicht länger ein Tabu bleibt.

Anmerkung von Any Working Mom: Noch immer sind Fehlgeburten und Totgeburten ein Tabuthema. Dabei erleben so viele Eltern dieses Trauma. Wir möchten einen Beitrag dazu leisten, dass niemand mehr das Gefühl hat, sich für eine Fehlgeburt oder Totgeburt schämen zu müssen. (Denn das tun viele! Als ob man etwas dafür könnte…) Deshalb sind wir Sandra extrem dankbar, dass sie ihre Geschichte hier niedergeschrieben hat. Und auch mit ihrem Namen dazu steht.

Und wir sind allen dankbar, die in den Kommentaren ihre Geschichte hinterlassen – mit Namen oder anonym. Wir hoffen nämlich, dass es Müttern und Vätern in einer ähnlichen Situation hilft, wenn sie sehen, dass sie nicht allein sind.

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Tipp 1: Keine Vorwürfe machen. Anzuerkennen, dass man wie die eigene Mutter ist, heißt nicht, auch zu leben wie die Mutter. ... .
Tipp 2: Nicht die unerfüllten Wünsche in Töchter projizieren. Auch Mütter müssen über ihren Schatten springen. ... .
Tipp 3: Nicht erklären, wie leben geht..