Was hältst du von den flüchtlingen?

Ich habe abends beim Zubettgehen von dem Feuer im Lager erfahren und bin dann die ganze Nacht über von unseren Partner:innen vor Ort auf dem Laufenden gehalten worden. Wir kooperieren dort mit der griechischen Organisation Stand by me Lesvos und den selbstorganisierten Flüchtlingen des Moria Corona Awareness Team sowie der Moria Academia, die seit Anfang 2020 Corona-Aufklärung, Müllentsorgung, Bildungsarbeit und vieles mehr im Lager selbst in die Hand genommen haben. In der Brandnacht haben mir betroffene Flüchtlinge geschildert, was um sie herum geschieht. Sie haben versucht, Worte für ihre Angst und ihre Wut zu finden, die mich erreichen und über mich auch andere Menschen in Europa. Das alles in der verzweifelten Hoffnung, es ändere sich endlich etwas.

Wie hat medico unmittelbar reagieren können?

Wir haben in den frühen Morgenstunden eine Pressemitteilung verfasst, der übliche Weg, den wir als Menschenrechtsorganisation nach einem solchen Ereignis gehen: die Gelegenheit nutzen, in der sich die mediale Aufmerksamkeit auf die Flüchtlinge in Moria richtet, die Situation mit Eindrücken vor Ort schildern, Probleme und Verantwortliche benennen, politische Forderungen erheben, die über den Moment hinausgehen. Da wir auf Lesbos – und nicht nur dort – selbstorganisierte Flüchtlinge und lokale Initiativen unterstützen und ein Teil unserer Partner:innen im Lager selbst lebt, hatten wir Informationen aus erster Hand. Wir haben auch sofort Spendengelder eingesetzt, um die Flüchtlinge in und um Moria herum mit dem zu unterstützen, was akut gebraucht wurde.

Du sagst, die Menschen aus dem Lager hätten gehofft, der Brand könnte etwas ändern. Du auch?

Bereits am nächsten Tag wurde ich in Radiointerviews gefragt, ob der Brand ein Fanal sein könne, das die Situation der Flüchtlinge grundlegend verbessert. Nach so vielen Jahren Moria, in denen wir uns oft gefragt haben, was eigentlich noch geschehen muss, damit die Zuständigen tatsächlich Verantwortung übernehmen und die Menschen in diesem und den anderen Lagern auf den griechischen Inseln zu ihrem Recht kommen, war meine Hoffnung jedoch von Anfang an gering. Und wenn ich heute die Umstände im neuen Lager sehe, das nach dem Brand auf verseuchtem Grund errichtet wurde, bestätigt sich meine Skepsis: Moria II ist für viele noch schlimmer als das alte Lager. Inzwischen sind sogar die beiden einigermaßen menschenwürdigen Unterkünfte auf Lesbos – Pikpa vor einigen Monaten und das alte Kara Tepe vor kurzem –, in denen besonders vulnerable Menschen Zuflucht gefunden hatten, geräumt worden. Menschen mit Behinderung, chronisch Kranke, schwangere Frauen, Hochbetagte und Trauernde, sie alle wurden in den frühen Morgenstunden abgeholt und in das neue Elendslager gebracht, aus dem kaum noch unabhängig berichtet werden kann. Auch immer mehr anerkannte Flüchtlinge harren hier aus, weil sie keinen anderen Ort haben.

Über die Verhältnisse in Moria ist jahrelang ausführlich berichtet worden. Wie schätzt du diese starke Fokussierung ein: positiv, weil sie die öffentliche Aufmerksamkeit hochgehalten hat, oder eher problematisch, weil sie andere Orte, Lager, Grenzen, Fluchtrouten aus dem Blickfeld drängt?

Hinsichtlich der Aufmerksamkeitsökonomie ist Moria ein besonderer Fall. Das hat sicher nicht zuletzt mit der geographischen Nähe und der Infrastruktur auf der Urlaubsinsel Lesbos zu tun, die sich wie kaum ein anderer Ort für eine „Stippvisite im Elend“ anbietet. Selbst Nachbarinseln wie Samos oder Chios, auf denen die Situation kaum besser ist, können da nicht mithalten. Dass über die Jahre aber weder politisch noch juristisch und auch nicht mithilfe der vergleichsweise umfangreichen Berichterstattung und der Vielzahl von Akteur:innen aus Hilfsorganisationen grundlegend etwas an der Situation in Moria verbessert werden konnte, macht dennoch stutzig. Wir haben deshalb Ende 2020 eine Studie in Auftrag gegeben, die sich kritisch mit dem Moria-Komplex befasst – und zwar nicht nur mit dem Scheitern von Politik und Rechtsprechung, sondern auch mit dem Scheitern der Hilfe. Maximilian Pichl, der Verfasser, kommt darin zu dem Schluss, dass ein Teil der humanitären Hilfe das strukturelle Unrecht des Lagersystems eher stabilisiert statt auf seine Abschaffung hinzuwirken. Shirin Tinnesand, eine Kollegin von unserer Partnerorganisation Stand by me Lesvos, spricht sogar von einer „Goldmine“, weil sich so viele internationale Hilfsorganisationen und Freiwillige, die zum Teil für ihren Einsatz nicht wenig Geld zahlen, auf der Urlaubsinsel tummeln.

Wie hältst Du es mit den Flüchtlingen und wie mit den Schwedendemokraten? Diesen September steigen in dem skandinavischen Land die Wahlen im Reichstag und die Antworten auf die vorigen Fragen scheinen die entscheidenden zu sein.

Sowohl die regierenden Sozialdemokraten (S) als auch die große liberal-konservative Oppositionspartei "Die Moderaten" (M) haben sich entschlossen, teils die Antimigrationsrhetorik der rechten Schwedendemokraten zu übernehmen, aber gleichzeitig die besagte Partei mit dem Kürzel SD als unwählbar zu verfemen.

Ulf Kristersson, seit Oktober neuer Parteichef der größten Oppositionspartei "Die Moderaten" unterbrach den Dialog mit den Rechtspopulisten, die seine Vorgängerin Anna Kinberg Batra begonnen hatte: "Ich werde nicht mit den Schwedendemokraten verhandeln oder Kompromisse eingehen."

Asylbewerbern soll künftig eine Frist für den Aufenthalt in Schweden gesetzt werden, sie müssen sich bei den Kosten stärker beteiligen, sollten die Moderaten im Herbst an die Macht kommen. Das "Integrationsproblem ist eine tickende Bombe", meinte der 56-Jährige gegenüber der bürgerlichen Zeitung "Svenska Dagbladet". "In Schweden arbeitet man und lernt Schwedisch", gab das langjährige Parteimitglied der "Sydsveskan" zu Protokoll.

Klartextstimmung auch bei den Sozialdemokraten. Finanzministerin Magdalena Andersson versprach eine "strammere Migrationspolitik", empfahl Asylsuchenden, sich doch bitte ein anderes Land zu suchen, und verglich gleichzeitig die SD mit einem "Dritten Reich Light".

Abstand von den Rechten, aber Übernahme von deren Forderungen

Nach den Wahlen 2014 gab es ein sogenanntes Dezemberabkommen aller Parteien im Reichstag, welches eine Kooperation mit den Rechtspopulisten untersagte, doch dieses bröckelte zunehmend nach der Flüchtlingskrise. Nun suchen die anderen Parteien, auch die kleineren Bürgerlichen neben den Moderaten, wieder die Distanz. In der Tonalität passt man sich an Dänemark an, wo außer einer Linkspartei alle politischen Gruppen auf eine zumindest verbal harte Linie gegen Migranten aus dem Nahen Osten fahren.

Die Schwedendemokraten schwanken derzeit in den Umfragewerten zwischen 15 bis 23 Prozent. Ihre Anhänger sehen den Parteivorsitzenden Jimmy Akesson in der Rolle des Königsmachers. Seit seinem Parteivorsitz im Jahr 2005 konnte die einst offen nationalistische Partei erfolgreich ein bürgerliches Ansehen aufbauen. Doch in letzter Zeit häuften sich die Skandale. So gab es noch vor der #Metoo-Welle Aufsehen wegen sexueller Übergriffe von einem Parteifunktionär auf Frauen, Antisemitismus und extrem aggressiver Äußerungen über Migranten.

Hanna Wigh, die von den Belästigungen betroffen war, hat nun mit zwei weiteren Parlamentariern Anfang des Jahres eine neue Fraktion im schwedischen Reichstag gegründet. Einer davon, Pavel Gamlov, wurde wegen Russlandkontakten und einer aus Putin-Keisen finanzierten Moskaureise aus der SD ausgeschlossen. Der in Moskau geborene Gamlov kontert mit einem geplanten Abrechnungsbuch, in dem er die Partei als "sektiererisch und destruktiv" darstellen will.

Die Schwedendemokraten hoffen dennoch auf eine Zusammenarbeit mit anderen Parteien, vor allem mit den Moderaten. Und halten sich darum neuerdings mit zu eindeutigen Forderungen nach Ausweisungen Asylsuchender zurück. Dabei betonen sie immer wieder, dass sie das einwanderungskritische Original seien, das man doch wählen solle.

Der schwedische "Sarrazin"

Gleichzeitig muss das Land mit den Spannungen durch Einwanderer, Asylsuchende und Islamismus im Land leben. Im Dezember gab es Ausschreitungen in den großen Städten nach der Bekanntgabe Donald Trumps, die USA werde Jerusalem als Hauptstadt Israels anerkennen, immer wieder liest man von Messerangriffen in den Hotspots der großen Städte sowie von Zwischenfällen mit Handgranaten.

Premierminister Stefan Lövfen nahm erstmals offiziell den Antisemitismus von Migranten aus dem Nahen Osten als Problem wahr. Lange als Land bekannt, in dem das Politisch-Korrekte die offene Debatte blockiert, lockert sich das bezüglich der Asylsuchenden in der Öffentlichkeit zunehmend.

Der schwedische "Sarrazin", der aus dem Iran stammende Ökonom Tino Sanadaji erreichte mit seinem zahlenlastigen Buch "Massenherausforderung" über die Probleme der Einwanderung die schwedische Öffentlichkeit und die "Mainstream-Medien", ohne dass es dabei zu ähnlichen Attacken kam wie gegen den ehemaligen Banker und Finanzsenator Berlins.

Offen wird auch im Ausland über Schwedens Situation diskutiert. Bekannt ist Trumps These vom "failed state". Auf islamkritischen Webseiten werden die Probleme des Landes mit seinen Einwanderern und "No-go-Zonen" als ein plakatives, mahnendes Beispiel aufgeführt.

Diese Berichte haben solche Ausmaße angenommen, dass sich selbst der Verteidigungsminister Peter Hulqvist dazu äußert. Er sieht die Diskussionen als eine Gefahr für Schweden, das Zerrbild könne die Gesellschaft "untergraben".

Zur Entzerrung könnte ein Wahlkampf dienen, in der die Parteien versuchen, im nüchternen Ton Lösungsvorschläge zu den Problemen mit der Migration vorzuschlagen. Ein eher unrealistischer Wunsch. (Jens Mattern)