Warum spielen Kinder immer das Gleiche?

Einfach mal frei und unbeschwert spielen – was so typisch für Kinder klingt, ist für viele alles andere als einfach. Und so macht sich schnell Langeweile breit, wenn der Fernseher oder Computer eben mal nicht läuft. Aber sind wir am Ende gar selbst schuld, wenn der Nachwuchs verlernt, ganz allein im Freispiel zu versinken?

„Mamaaaa, mir ist langweilig“, monierte meine dreijährige Tochter am vergangenen Sonntag. Träge schlurfte sie von der Küche ins Wohnzimmer, dann in ihr Zimmer, ins Badezimmer und wieder zurück. „Na, das kann aber nicht sein mit der Langeweile. Du hast doch so viele Spielsachen“, entgegnete ich. Aber auch das half nichts. Blöd nur, dass ich zwischen Bolognese-Sauce, Spaghettis für sie und Zucchini-Nudeln für mich nun wirklich gar keine Zeit hatte, um mich auch noch um das Entertainment zu kümmern. Die Situation: ein Nährboden für Stress. Erst als ich sie daran erinnerte, dass die Puppe doch mal dringend eine neue Windel gebrauchen konnte, versank das Kind wieder im Spiel und ich im Kochtopf. Aber Moment: Langeweile beim Kleinkind? Herrje, sollte es etwa Zeit für die Anschaffung neuer Spielsachen sein? Schon wieder? Und außerdem: Als Kleinkind spielt man doch ohnehin den ganzen Tag nur in der Weltgeschichte herum – oder etwa nicht?

Früher glaubte man, Kinder seien von Geburt an ichbezogen und würden nur dem Lustprinzip folgen“, erklärt Prof. Dr. André Frank Zimpel, Professor an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg und beratender Experte bei Fisher-Price. „Die wissenschaftliche Forschung hat inzwischen jedoch gezeigt: In Wirklichkeit sind Kinder von Geburt an sehr soziale Wesen.“ Das Freispiel von ihnen zu erwarten, so erläutert der Entwicklungspsychologe, sei dementsprechend konträr. „Das ist so, als würde man von einem Erwachsenen erwarten: Sei mal spontan!“

Zum Thema: Tatsächlich kann auch die Spielweise selbst einiges über den Charakter deines Kindes verraten, wie du hier lesen kannst ...

Übrigens: Im Video oben verraten wir euch, warum du niemals falsche Erwartungen an dein Kind stellen solltest!

Aber wie können Eltern denn unterstützen und das Freispiel fördern? Im Interview mit BUNTE.de klärt Prof. Dr. Zimpel auf ...

BUNTE.de: Wie finde ich eigentlich heraus, was meinem Kind wirklich Spaß macht?
André Frank Zimpel: Im Vorschulalter machen Kinder alles zum Spiel. Inspiriert werden sie von Erwachsenen, die sie genau beobachten. Soweit es ihnen ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten erlauben, ahmen sie deren Handlungen symbolisch nach. Bei diesen Erwachsenen kann es sich auch um Fantasiegestalten aus Büchern oder Filmen handeln. Mit zunehmendem Alter lassen sich die Kinder auch von anderen Kindern inspirieren. Alle intrinsisch motivierten Handlungen von Kindern sind Spiel. Eltern sollten ihre Kinder gut beobachten und sich fragen: Was ist das Spielmotiv im Verhalten unseres Kindes? Was meinem Kind wirklich Spaß macht, finde ich heraus, indem ich die Zeit messe, in der es sich mit einzelnen Spielmaterialien beschäftigt, bis es langweilig wird. Die Zeit, die ein Kind in ein Spiel investiert, ist unmittelbarer Ausdruck der intrinsischen Motivation.

BUNTE.de: Eine Frage, die bei vielen Müttern vor allem für ein schlechtes Gewissen sorgt: Ab wann dürfen wir unseren Kindern überhaupt zutrauen, sich auch alleine zu beschäftigen?
André Frank Zimpel: Wenn sich Kinder in einer sicheren Umgebung befinden, beginnen sie schon als Säuglinge mit Objekten allein zu spielen. Untersuchungen zeigen, dass diese Spiele immer ambitioniert sind. Die Kinder suchen nach Herausforderungen, die sie weder über-, noch unterfordern. Wichtig ist die emotionale Akzeptanz der Eltern. Unsichere Eltern übertragen ihr Unsicherheitsgefühl unmittelbar auf ihre Kinder, da diese intellektuell noch nicht in der Lage sind, abzuschätzen, wo wirklich Gefahren lauern und wo nicht. Überängstliche Eltern können also genauso viel Schaden anrichten wie leichtfertige Eltern, die das Vertrauen ihrer Kinder verspielen.

BUNTE.de: Wieso sollten Eltern ihre Kinder gerade beim Freispiel einfach mal in Ruhe lassen?
André Fran Zimpel: Weil sich sonst der sogenannte Flow-Effekt nicht einstellt. Das ist ein Zustand im Spiel, bei denen die Kinder alle Sorgen vergessen, weil sie ganz im Augenblick und ihren Zielen sind. In diesem Zustand wird der Botenstoff Dopamin freigesetzt, der neben Glücksgefühlen auch Aufmerksamkeit, Impulskontrolle, Planung und Frustrationstoleranz fördert. Die Kinder erleben Selbstwirksamkeit und lernen, sich realistisch einzuschätzen. Besonders intensiv erleben diesen Zustand Kinder, die mit anderen Kindern spielen. Hier lernen sie Perspektivwechsel und Kooperationsfähigkeit – und dass geteilte Freude doppelte Freude ist.

Apropos mit anderen Kindern spielen: Bei diesem Kita-Trend sollten wir Eltern jedenfalls nicht mitmachen!

BUNTE.de: Insbesondere über gezieltes Rollenspiel wird auch das Selbstbewusstsein gestärkt. Aber schauen wir uns mal die Aussagekraft des Rollenspieles an: Was verarbeiten Kinder über das Spiel?
André Frank Zimpel: Kinder sind fasziniert von der Macht Erwachsener. Die können Dinge kaufen, Auto fahren, wissen alles Mögliche, können das auch noch gut ausdrücken. Das wollen Kinder auch. Vor allem aber wollen sie respektiert und bewundert werden. Wenn sie in den Spiegel schauen, wird ihnen schmerzlich klar, dass sie von alldem, was sie sich erträumen, noch weit entfernt sind. Als wilder Pirat oder zauberhafte Fee verkleidet erleben sie wenigstens im Spiel, wie es sich anfühlen könnte, nicht mehr so klein und hilflos zu sein, wie es Kinder nun einmal sind. Außerdem können Kinder im Spiel angstmachende oder gar traumatische Erlebnisse verarbeiten, Unverständliches für sich selbst verständlicher machen und ihre sozialen Fähigkeiten erproben.

BUNTE.de: Inwiefern hat sich die Fantasie-Fähigkeit moderner Kinder verändert?
André Frank Zimpel: Kinder spielen nicht, weil sie so viel Fantasie haben. Sie entwickeln ihre Fantasie ja erst beim Spielen. Doch viele Kinder haben heute kaum noch Zeit zum Spielen. Da gibt es für Kinder täglich standardisierte Förderangebote: Frühenglisch, Geigenunterricht, Reiten und Logopädie. In Wirklichkeit lernen aber Kinder nur das, was sie emotional berührt. Ohne Emotionen kein Lernen. Man müsste die Kinder einfach nur mehr spielen lassen. Wenn ich will, dass meine Kinder Chinesisch lernen, dann muss ich sie mit chinesisch sprechenden Kindern zusammenbringen. Der spielerische Lerneffekt ist so viel größer als jeder Chinesisch-Kurs. Manchmal sind Kinder zu beobachten, die gar nicht mehr spielen können. Das entsteht meistens durch Entertainment der Eltern. Kinder haben gelernt, dass sie von Mama und Papa bespielt und unterhalten werden. Wenn sie sich langweilen, müssen sie nur quengeln, dann denken sich die Erwachsenen schon etwas für sie aus. Das betrifft leider immer mehr Kinder.

BUNTE.de: Also sind am Ende wir Eltern mal wieder selbst Schuld, wenn es dem Nachwuchs schwer fällt, sich selbst zu beschäftigen?
André Frank Zimpel: Ein weiteres Problem ist, dass Kinder als Konsumenten entdeckt worden sind und Spielzimmer manchmal so voll mit Spielsachen sind, dass die Kinder sich gar nicht konzentrieren können. Jedes Spielzeug ruft: „Mach was mit mir!“ und kaum haben sie mit dem einen angefangen, ruft das nächste. Es kommt also nicht dieser Flow-Effekt zustande. Trotzdem wären Kinderzimmer ganz ohne Spielsachen triste Orte. Zu Recht sind klassische Spielsachen noch immer der Renner. Der Ball zum Beispiel, Bausteine, Möglichkeiten zu malen, vielleicht auch eine Tafel und Kreide. Das sind reizvolle Spielzeuge, die in keinem Kinderzimmer fehlen sollten. Das ist auch die beste Medizin gegen Medienverwahrlosung. Computerspiele und Filme auf dem Smartphone sind kein Ersatz für eigene Spielerlebnisse. Außerdem weisen Spielprogramme oft Suchtstrukturen auf. Auch wenn es inzwischen für jede Altersstufe geeignete Filme gibt, können sie die Fantasieentwicklung ernsthaft gefährden. Problematisch ist vor allem, wenn die Kinder sich passiv von Filmen berieseln lassen. Besser sind dagegen Filmfiguren, die der Fantasie der Kinder auf die Sprünge helfen. Das kann für Eltern ein idealer Anlass sein, gemeinsam mit den Kindern Literatur zum Film zu lesen, Teile des Films nachzuspielen, Filmfiguren zu zeichnen, Amateurfilme zu drehen, inhaltsreiche Gespräche zu führen und so weiter. Wichtig ist, dass Eltern Kinder mit Filmmaterial nie allein lassen.

Eltern-Kind-Bindung: Wie wir außerdem dazu beitragen, dass es unseren Kindern gut geht? Indem wir das Stresslevel ganz bewusst herabsetzen ...

BUNTE.de: Wieso fällt es Eltern eigentlich so schwer, unbefangen in das Spiel der Kinder einzusteigen?
André Frank Zimpel: Erwachsene müssen sich auf das kindliche Spielniveau meist erst herablassen. Manche haben Hemmungen, sich ähnlich wie ein Kind in eine Rolle fallen zu lassen. Das spüren Kinder natürlich – und in der Folge ist der Spaß für sie nur halb so groß. Für das Kind ist aber immer der gleichaltrige Spielgefährte die bessere Wahl. Kinder können sich im Spiel gegenseitig hochschaukeln und die Welt um sich herum komplett vergessen. Die Glücksgefühle, die dabei entstehen, sind viel größer, als wenn sie mit Erwachsenen spielen. Eltern von Einzelkindern sollten daher unbedingt Begegnungsmöglichkeiten schaffen.

BUNTE.de: Inwiefern profitieren Eltern und Kinder gleichermaßen, wenn sie mehr miteinander spielen?
André Frank Zimpel: Während das Kind den sogenannten Flow – also das völlige Aufgehen im Spiel – als Glück empfindet, ziehen Erwachsene vielmehr Bestätigung daraus, dass es ihnen gelingt, Zugang zum Spiel des Kindes zu finden. Sie empfinden das Glück des gemeinsamen Spieles also auf einer anderen psychologischen Ebene als ein Kind. Wenn man sich in die kindliche Welt hineingefunden hat, dann kann es für alle Beteiligten sehr beglückend sein. Und selbstverständlich sollen sich Eltern Zeit für ihre Kinder nehmen. So wachsen das gegenseitige Verständnis und die Bereitschaft zur Kommunikation auf Augenhöhe.

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Wie bringe ich mein Kind dazu mit anderen zu spielen?

Selbstvertrauen lässt sich schon im frühen Kindesalter fördern. Sorgen Sie dafür, dass Ihr Kind frühzeitig Kontakt mit Gleichaltrigen hat, etwa in einer Krabbelgruppe oder auf dem Kinderspielplatz. So fällt es ihm später leichter, auf andere Kinder zuzugehen.

Warum kann mein Kind nicht mit anderen Kindern spielen?

Es kann ein Grund zur Sorge sein, wenn ein Kind gar nicht ins Spiel findet. Aber es ist meistens kein Grund zur Sorge, wenn ein kleines Kind nicht mit anderen kleinen Kindern spielt. Es spielt vielleicht lieber mit größeren Kindern oder es zeigt mit seinem Desinteresse, dass ihm die Mutter oder der Vater fehlt.

Wie oft sollte man mit seinem Kind spielen?

Ein, zwei feste Termine pro Woche reichen also völlig aus, immer passend zu den Interessen und Bedürfnissen des Kindes. Und die restliche Zeit darf es auch mal ruhig und „langweilig“ sein.

Wann fangen Kinder an mit anderen zu spielen?

Ab dem Alter von etwa drei Jahren wird das Spielen mit anderen Kindern besonders wichtig und nimmt einen immer größeren Raum ein. Mit etwa drei Jahren sind Kinder in der Regel in der Lage, selbstständig Kontakte zu knüpfen und erste, oft allerdings noch recht kurzlebige Freundschaften zu schließen.