Sprache macht nicht nur in der politik den unterschied

1In den vorangegangenen Vorträgen wurde die jüngste Entwicklung der Bezie­hungen zwischen Politik und Sprache im heutigen Deutschland (oder in bezug darauf) untersucht. Da ich nicht auf diesem Gebiet gearbeitet habe, werde ich mich auf einige allgemeine Perspektiven beschränken. Der Vortrag von C. Robert zeigt, daß die Auffassungen von der Nation sich in Frankreich und Deutschland grund­legend voneinander unterscheiden. Der Soziologe muß sich demnach die Frage stellen, inwiefern ein Vergleich möglich ist. Wenn Nationen eine natürliche Klassi­fizierung sind, kann man den politischen Status, den jeweiligen Bewußtseinsgrad, die hierarchischen Machtverhältnisse usw. vergleichen. Ist aber jede ein einzig­artiges Gebilde, so ist ein Vergleich angesichts der Spezifizität einer jeden Situa­tion zum Scheitern verurteilt.

2Doch eben diese Spannung ist es, die m. E. einen Vergleich möglich macht. Da Nationen keine natürlichen Einheiten sind, entstehen sie nicht in der geschlossenen Geschichte präexistenter Gemeinschaften, sondern in dem einzigartigen Zusam­menspiel bestimmter Gruppen mit anderen, was zugleich ihre Originalität ausmacht und eine Vergleichbarkeit gewährleistet. Wesentlich ist die Untersu­chung ihrer historischen und synchronischen Beziehungen zueinander. Selbst wenn sie „falsch“ ist, ist die Auffassung der französischen Presse über die deutsche Wiedervereinigung ein Teil dieses Ereignisses.

3Bei der Untersuchung dieser vergleichbaren Verschiedenheit der Nationen hat eine Definition nur dann Sinn, wenn sie berücksichtigt, wie die Akteure diesen Ausdruck verwenden. Die Nationen lassen sich in das Paradigma sozialer Katego­risierungen einordnen, die performativ sind: ihre Existenz ist das Ergebnis des Glaubens an ihre Existenz. Eine Nation ist eine Kategorisierung, die mit der Identität zu tun hat, die die betroffenen Einzelpersonen sich zu eigen machen können und die den Aspekt von Permanenz und Essentialität enthält. Die Nationen kategorisieren demnach – durch performative Prozesse – die Einzelpersonen, die gleichzeitig Sprecher sind, in „solidaristische” Gruppen. Demzufolge muß das diskursive Universum in Betracht gezogen werden, in dem dieser Begriff seinen Wert erhält: nämlich der politische Diskurs, d.h. – im Rahmen dessen, was man Modernität nennt – das Verhältnis zum Staat. Es muß also untersucht werden, wie sich das Register des Politischen durch die Aussage konstituiert.

I. Hypothesen zur Herausbildung des politischen Feldes durch den Diskurs

4Das Begriffsfeld, das in fortschreitender Abstraktion von Regierung zu Staat und von Staat zu Macht reicht, wirft Probleme wie z.B. die der Kontrolle und der Unterordnung auf. Die Modernität wird durch die Tatsache definiert, daß jeder Mensch von Rechts wegen, d.h. positiv und nicht durch Unterordnung, an der Macht teilhat. Diese politische Struktur erschien als Abstraktion der königlichen Arbitration (vgl. wie das Wort „le souverain“ (der Souverän) von den Revolutio­nären zur Bezeichnung des Volkes (le „peuple“) gebraucht wird). Sie definiert die Macht als einen Konsens der Gruppe und führt eine Artikulation zwischen täg­lichem Leben und Staat ein, sowie eine Unterscheidung zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre, indem sie die Kontinuität zwischen beiden zu einer Institution macht. Dieses Phänomen beruht auf der Stabilisierung und der Abgrenzung eines „wir“ („nous“), einer Aussageposition, die mit jedem politischen Diskurs verbun­den ist, der seinerseits eine Kontrolle und ein Implement des Staates ist.

Stabilisierung, Abgrenzung

5Die Stabilisierung betrifft das subjektiv erlebte Verhältnis zum Staat und die Abgrenzung das Verhältnis zu anderen Gruppen. Das Politische, als tägliche Aktivität, beruht auf der vorausgesetzten Annahme der Übereinstimmung zwischen Sprechern (wer spricht?) und dem Aussagenden (von welchem im Diskurs kon­struierten Platz aus spricht man?) und ist auf „Inhalte“ ausgerichtet. Die Stabili­sierung ist die wesentliche Dimension, und die Probleme der Abgrenzung betreffen die Artikulation zwischen Öffentlichem und Privatem, zwischen Politischem und „gewöhnlichen“ Aktivitäten. Demnach ist ein Bürger jemand, der legitim einen Platz als Sprecher im Feld des Politischen einnimmt und als „wir“ das Wort ergreift. In diesen Aktivitäten wird die Zugehörigkeit des Bürgers zur Nation nicht in Frage gestellt. Jedoch betrifft diese Artikulation das Verhältnis zwischen Staat und Kultur, also die Definition der Gruppe: die Politisierung gewisser Dimen­sionen des Privaten stellt Schwierigkeiten für die Legitimität dar.

6Die zweite Frage, die der Grenzziehung der betroffenen Gruppe durch Abgren­zung, ist mit der der Stabilisierung auf verschiedene Weise verknüpft. Um die von P. Sériot (1992) formulierte Opposition wieder aufzunehmen, ist die Frage der Stabilisierung die des Demos, bei dem das Politische auf die Gruppe – wie sie auch sein mag – verweist, die sich um die regulierende Aktivität des Staates bildet. In ihrer Anfangsphase stellt sich die französische Revolution als demisch dar: ihr Grundproblem ist das der politischen Rechte. Die Partizipation am Politischen hat als Korollarium die Herausbildung der Privatsphäre, die Unterscheidung zwischen Moral und Gesetz und eine Kompensierung zwischen der Extension des Politi­schen und der Begrenzung seiner Inhalte.

7Umgekehrt bestimmt da, wo eine Gruppe in Abgrenzung zu einer „fremden“ Gruppe einen politischen Status zu erlangen sucht, der Ethnos die Zielsetzung. Die Probleme der internen Organisation erscheinen in diesem Falle als sekundär, denn die Macht liegt außerhalb der Gruppe, und der Akzent wird auf die Definition der Gruppe selbst gelegt. Die Bezeichnung des Fremden als Feind dient zur Festigung des politischen Projekts. In der demischen Dynamik steht die legislative Praktik im Mittelpunkt des Diskurses, in der ethnischen Dynamik ist das Dominierende die Zugehörigkeit und die Identität. Die demische Dynamik legt sich mit der Figur des Unbestechlichen an, ihr Exzeß ist der Totalitarismus (die Schreckensherrschaft).

8Die ethnische Dynamik bevorzugt den Verräter als Grenzfigur, ihr Exzeß ist die „Säuberung“. Die demische und die ethnische Dimension sind heute in der Konstruktion des Politischen immer mehr oder weniger gleichzeitig vorhanden, es sind analytische Begriffe, deren Ambivalenz das französische Wort „peuple“ zusammenfaßt. Sie stellen eine Polarität dar, in der das Politische seinen Stellen­wert findet: Demos und Ethnos stellen das Legitimitätsfeld des Politischen dar, ersterer als Aktivität, die dem zentralen Anziehungspunkt zugewandt ist, der zweite insofern, als er keine universelle Extension hat und seine Eingrenzung sich als Naturfaktum durchzusetzen versucht. Demos setzt die Gruppe voraus, stellt sie nicht in Frage, sondern fragt vielmehr nach dem Legitimitätsfeld der politischen Aktivität; Ethnos setzt die Übereinstimmung über die Aktivität voraus und stellt die Frage nach der Zugehörigkeit zur Gruppe.

9Wir wollen versuchen aufzuzeigen, wie der Begriff der Nation im 18. Jahr­hundert in Frankreich auftaucht, wie die Revolution seinen Sinn verändert, indem sie das Volk effektiv in die politische Praxis, in eine demische Dynamik eindringen läßt, und inwiefern das Aufkommen ethnischer Auffassungen eine Folge­erscheinung des französischen Expansionismus ist.

II. Archäologie der Auffassungen von der Nation in Europa

Das 18. Jahrhundert in Frankreich

10Die politische Situation ist, was N. Elias die „höfische Gesellschaft“ nennt. Das politische „wir“ ist im wesentlichen das „wir“ des Königs, und die Diskursgestalt wird beherrscht von der „hauswirtschaftlichen Größe“ (Boltanski und Thévenot), wo die Machtausübung vom „Haus“ ausgeht. Diese Art der Machtausübung, die einhergeht mit der Extension der Krondomäne und der Erosion der Einkünfte des Adels, fußt auf dem Gleichgewicht zwischen der hauswirtschaftlichen Größe, die begrenzt ist durch die wirtschaftliche Abhängigkeit des Adels – und einer staats­bürgerlichen oder industriellen Größe, die sich im Namen des Königshauses entwickelt. Im Unterschied zu Preußen stützt sich die königliche Macht mehr auf die Bourgeoisie (den Amtsadel) als auf den Adel (Der Hof dient dazu, diesen zu beschäftigen, indem er ihn von der Machtausübung fernhält). In diesem Kontext taucht ein Diskurs auf, der die Immanenz der königlichen Macht (das „Recht von Gottes Gnaden“) anficht zugunsten eines staatsbürgerlichen „wir“, das seine Refe­renzen in der antiken Polis, der englischen Demokratie oder der Genfer Republik findet.

11Die hierarchische Aussageweise (die sich vor allem in den unsymmetrischen Höflichkeitsregeln niederschlug) weicht gleichheitlichen (symmetrischen) Bezie­hungen, die auf Diskretion und Distanz beruhen. (Vgl. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation). Auf gesellschaftlicher Ebene geht das mit einer „Reduzierung“ der Hierarchie einher. Während sich in der Feudalstruktur die Größe eines jeden aus den intermediären Treuepflichten ableitet, wird in der höfischen Gesellschaft, die den Adel eng an das Königshaus bindet, die hauswirtschaftliche Größe auf ein Verhältnis auf zwei Ebenen reduziert: den Thron und die Untertanen. Die Redu­zierung der Person des Königs auf die symbolische Einheit seiner Untertanen, und die des Adels auf eine Manifestation der Größe des Königs, verleiht dem kollek­tiven „wir“ des Volkes Substanz. Die hauswirtschaftliche Größe „entartet“, da es nichts Intermediäres mehr gibt, auf zwei Ebenen (im Sinne einer entarteten mathe­matischen Struktur, wie eine auf ihre Asymptoten reduzierte Hyperbel), von denen eine nur ein einzelner Punkt ist: also erscheint die Nation – als Verlängerung der Rasse im Sinne des Ancien Régime – als Familie.

  • 1 „Mot collectif dont est fait usage pour exprimer une quantité considérable de peuple, qui habite un (...)
  • 2 „les peuples furent absolument esclaves en France“ (Die Völker waren in Frankreich absolute Sklaven (...)

12In der „Encyclopédie“, unserer Hauptquelle, spielt die „Nation“ explizit keine bedeutende Rolle. Sie ist sozusagen kein Gegenstand der Darstellung. Der ihr gewidmete Artikel umfaßt weniger als eine Spalte, und zwei Drittel davon betreffen die vier „Nationen“ der Pariser Universität. Dieser winzige Artikel gibt aber dennoch einige Hinweise. Peuple, territoire, gouvernement, caractère sind ihre Determinanten1. Diese Definition wird aber durch die Beispiele widerlegt: „jaloux comme un Italien“ (eifersüchtig wie ein Italiener), „ivrogne comme un Allemand“ (trunksüchtig wie ein Deutscher), „fourbe comme un Grec“ (arglistig wie ein Grieche). Nun sind aber diese Nationen eben nicht unter einer Regierung vereinigt. Der enge Platz, der der „Nation“ explizit eingeräumt wird, hindert nicht daran, daß sie im Sprachgebrauch weit stärker ausgebildet ist. Der Artikel „FRANCE“ (Joncourt) definiert dieses „Königreich“ („royaume“) zuerst geogra­phisch und administrativ, dann durch die Geschichte der „Macht der französischen Könige“ („la puissance des rois de France“). Alsdann wird der Begriff les peuples (die Völker) eingeführt2, der danach als Untertanen (sujets) des Königs wieder­aufgenommen wird. Dann werden les Français, im Gegensatz zu les autres peuples als nation française erwähnt. Im Sprachgebrauch sieht man demnach eine zweifache Bewegung: die „interne“ Opposition les peuples/ les seigneurs oder le Roi/ses sujets; die „externe“ Opposition Les Français/ les autres peuples. In der nation française werden beide Bewegungen zusammengefaßt.

13Um die Terminologie von P. Sériot wiederaufzunehmen, stellte der Artikel „NATION“ den Ethnos (die „caractères“) im Verhältnis zum Demos (das unter einem „gouvernement“ stehende „peuple“) heraus. Aber die Opposition Demos / Ethnos hinkt, insofern als sie das Modell der antiken Polis im Kontext der feudalen Welt benutzt. Wenn man auf die antike Metapher zurückgreifen muß, so entspricht „peuple“ i. Ggs. zu „seigneur“ eher der Plebs. Der Artikel „FRANCE“ läßt ein politisches Territorium erscheinen mit seinem virtuellen Demos, aber seiner aktuellen Plebs, dem „peuple“, das zu einer „nation“ wird in dem Maße, als es sein natürliches Recht auf die Dimension des Politischen für sich in Anspruch nehmen kann. Die „nation française“ steht in einer syntagmatischen Beziehung zu der Macht, der sie unterstellt ist (sie „murmelt“ [„murmure“] und „gehorcht“ [„obéit“]) und in einer paradigmatischen Beziehung zu „les autres peuples“ („le plus aisé­ment“, „le mieux“, „le plus tôt“: „am leichtesten, am besten, zuerst“).

  • 3 „Ce n’est guère que depuis François Premier que l’on vit quelque uniformité dans les mœurs [...]. [ (...)
  • 4 On était déjà jaloux des Français dans le reste de l’Europe...“. (Im übrigen Europa beneidete man(...)

14Diese „praktische Theorie“ der Nation wird im Artikel „FRANÇOIS, ou FRANÇAIS“ entwickelt, der von „M. de Voltaire“ gezeichnet ist. Die Aussage dieses Artikels ist ebenso unpersönlich wie die des Artikels von Joncourt: man findet dort weder „ich“ (je), noch „wir“ (nous). Die Position des Aussagenden als eines Franzosen wird dort durch den ergänzungslosen Gebrauch von „le peuple“, „le royaume“, „la monarchie“, „la nation“ mit bestimmtem Artikel gekennzeichnet. Wie bei Joncourt findet man dort keine Projektion in die Nation, sondern auf einen Punkt, der zwischen dem Volk und seinen politischen Führern liegt, was der Gebrauch von „on“ (man) bezeugt3. Ein anderes „on“ stellt die Aussage in einen europäischen Rahmen4.

  • 5 Le fond de la nation est de familles gauloises et le caractère des anciens Gaulois a toujours subs (...)

15Der Artikel formuliert eindeutig eine Sichtweise der Nation, wo das Wesent­liche ein kollektiver Charakter (caractère) ist, der sich unter den Völkern, die sie bilden, in einer Ähnlichkeit, zu den benachbarten Nationen aber in einem Unter­schied äußert. Die nationale Ebene ist politisch und institutionell durch Hand­lungen (Akte) veränderbar (also der Vernunft zugänglich), auf der Basis einer Natur, die durch den Boden und das Klima geregelt wird. Der rassische Charakter5, der durch die Auffassung – des späteren „Ancien Régime“ – von der Familie gekennzeichnet ist, nimmt nur einen Platz am Rande ein.

  • 6 „On fut alors obligé de cultiver le français...“ („Man mußte damals das Französische kulti­vieren.. (...)

16Die Sprache hat einen bedeutenden Platz inne und wird gewissermaßen „als Parataxe“ der Nation betrachtet. Es gibt keinerlei kausale Behauptung, weder im Sinne Sprache-Nation, noch im Sinne Nation-Sprache. Es gibt auch keinerlei Erwähnung von Dialekt oder „Patois“, sondern nur eine Zentrierung auf die Institution (i.S. von R. Balibar): Differenzierung des Romanischen („Roman“) und des Deutschen („Tudesque“), ihre Herausbildung im 10. und 11. Jahrhundert, ihrer Institutionalisierung unter François I. Die Sprache ist kein „natürliches“ Objekt6; kurz, sie gehört zu den Dingen, die „von der Regierung, der Religion, der Erzie­hung abhängen“ („dépendent du gouvernement, de la religion, de l’éducation“). Ihr Geist bildet sich mit dem der Nation. Sie ist ein Resultat, ein Indiz der Konstruk­tion der Nation, der „convenance“ zwischen Politik und dem Geist der Völker.

17Diese Tendenzen werden im Artikel „Langue“, von Beauzée, bestätigt. Das Verhältnis „langue“/„nation“ wird sogleich in einer kursiv gedruckten Definition vorangestellt: „une langue est la totalité des usages propres à une nation pour exprimer les pensées par la voix“ (eine Sprache ist die Gesamtheit der einer Nation eigenen Sprachgebräuche, um Gedanken durch die Stimme auszudrücken). Der Ausdruck „totalité des usages“ entspricht keiner empiristischen Position:

  • 7 „Wird eine Sprache von einer Nation gesprochen, die sich aus mehreren gleichen und voneinander unab (...)

Si une langue est parlée par une nation composée de plusieurs peuples égaux et indépendants les uns des autres, tels que l’étaient anciennement les Grecs, et tels que sont aujourd’hui les Italiens et les Allemands; avec l’usage général des mêmes mots et de la même syntaxe, chaque peuple peut avoir des usages propres sur la pronon­ciation ou sur les terminaisons des mêmes mots: ces usages subalternes, également légitimes, constituent les dialectes de la langue nationale. Si, comme les Romains autrefois, et comme les Français aujourd’hui, la nation est une par rapport au gouvernement, il ne peut y avoir dans sa manière de parler qu’un usage légitime; tout autre qui s’en écarte dans la prononciation, dans les terminaisons, dans la syntaxe, ou en quelque autre façon que se puisse être, ne fait ni une langue à part, ni un dialecte de la langue nationale, c’est un patois abandonné à la populace des provinces et chaque province a le sien.7

18Für ihn, wie für Voltaire, setzt sich eine Nation aus mehreren Völkern zusam­men. Wenn er auch eine Verschiedenheit der Sprachgebräuche in Betracht zieht, so zählt für ihn nur der legitime Sprachgebrauch, der von der politischen Organisation abhängt. Er schließt mit einer Apologie der französischen Sprache innerhalb Europas und in den gelehrten und politischen Sprachgebräuchen; das Fehlen einer Lokalisierung, einer Referenz auf das Volk wird kompensiert durch die Gegenwart eines „wir“ („notre gouvernement“), was in der Enzyklopädie ganz außergewöhn­lich ist.

19Man darf daraus nicht den Schluß ziehen, daß das ganze 18. Jahrhundert genau in diesem selben Rahmen dachte, doch kann man gewisse feststehende Behaup­tungen daraus folgern:

  1. Die Nation als Begriffsrahmen für das Verhältnis zwischen den Völkern und ihrer Regierung ist eine „Sichtweise“, die von der Mehrzahl der Intellektuellen jener Zeit geteilt wird;

  2. Dieser Gesichtspunkt ist europäisch, selbst wenn er auf Frankreich ausgerichtet ist. Er darf nicht als nationalistisch bezeichnet werden. Er fordert für ein Volk (Plebs) einen aktiven politischen Platz (demische Zielsetzung) seiner Regierung gegenüber und nicht das Recht eines jeden Volkes (Ethnos), seinen Nachbarn gegenüber autonom zu sein (dieses Problem liegt außerhalb der Zielsetzung);

  3. Die „Gelehrten“ beanspruchen einen Platz als nationale Vermittler zwischen den Nationen und den Regierungen;

  4. Die „Nation“, die einer Regierung unterstellt ist, ist durch einen „caractère“ definiert;

  5. Dieser Begriff, der im Sprachgebrauch von zentraler Bedeutung ist, wird in der Vorstellung nicht als solcher gesehen: er spielt die Rolle eines Horizonts, ist aber nicht Gegenstand einer Abschlußrechnung. Um eine mathematische Analogie zu verwenden: sie „werten“ sich gegenseitig „auf“ (genauer gesagt, die anderen Nationen „werten“ la nation „auf“), „grenzen“ sich aber nicht „ab“, „andere“ existieren, aber man interessiert sich nicht dafür, ihre Grenze zu präzisieren.

20Dieses Beispiel zeigt, daß ein Vergleich zwischen verschiedenen Epochen angestellt werden kann – die in einer „langfristigen“ Betrachtungsweise nicht sehr weit voneinander entfernt sind. Die Differenzen zu heutigen Auffassungen, seien sie staatsbürgerlich oder romantisch, sind massiv. Der Charakter der ideologisch-gesellschaftlichen Konstruktion der Nationen und ihre „Nicht-Natürlichkeit“, der performative Charakter der Klassifizierungen, um die Realität ihrer Referenz zu konstruieren, sind offensichtlich. Im 18. Jahrhundert existiert die französische Nation im modernen Sinne nicht. Was existiert, sind die gesellschaftlichen Kräfte, die eine Idee von der Nation als Legitimation des Volkes der Regierung gegenüber bestärken: eine Vorstufe des Politischen, das im Entstehen ist. Einzig die „Répu­blique des lettres“ spielt eine aktive Rolle, die öffentliche Meinung hat sich noch nicht herausgebildet, die Nation ist „sujet du Roi“ (Untertan des Königs) und nicht „sujet de son histoire“ (Subjekt ihrer Geschichte).

Die französische Revolution: eine demische Bewegung, die, als sie exportiert wird, eine ethnische Reaktion hervorruft

21Am Vorabend der französischen Revolution ist die allgemeine Situation gekennzeichnet sowohl durch den effektiven Abstand zwischen dem „Volk“ („peuple“) und der Regierung, in einem europäischen Ganzen, wo sich der politische Stil des Ancien Régime ausbreitet, als auch durch die Ideologie der Aufklärung mit dem Auftauchen der Nation als virtueller Grundlage für eine andere „Sichtweise“ des Politischen, die von einer „neuen“ Intellektuellenschicht getragen wird, welche zu ihrem traditionellen Platz am Rande des Hofes einen relativen Abstand gewinnt. Diese „Bewegung der Ideen“ ist auch eine praktische Organisierung des Platzes intellektueller Aktivitäten im gesellschaftlichen Leben.

22Die französische Revolution ist gekennzeichnet durch eine Veränderung der Bedingungen, unter denen der Diskurs über das Volk und die Nation in die sozio-politischen Praktiken eingreift: „le peuple“ ergreift die Macht; es fragt sich, wer im Namen des Volkes regiert, wie das Volk sich in seinen Sprechern sieht, wie sich diese legitimieren. In Frankreich findet die Nation, die in Bezug auf die Regierung schon eine Einheit bildet, zuerst Zugang zum Politischen durch den Ausschluß der „Artistokraten“. Die Gegenüberstellung aristocrate/patriote gewinnt die Oberhand über français/étranger, wobei der letztere Ausdruck zu Beginn der Revolutions­kriege als eine „Variante“ für Aristokrat gebraucht wird. Aber die Hierarchisierung wird nicht strikt durchgehalten, und die Entwicklung des Krieges schafft einen Dialogismus, von dem eine Spur in der Debatte zwischen Barrère und Grégoire über die Sprache zu finden ist. Auf den ersten Blick überbewertet Grégoire eine sprachliche Verschiedenheit, die Barrère herunterspielt:

[...] Ainsi, avec trente patois différents, nous sommes encore, pour le langage, à la tour de Babel, tandis que, pour la liberté, nous formons l’avant-garde des nations (Grégoire).

  • 8 „[...] So stehen wir, mit dreißig verschiedenen ‘patois’, was die Sprache angeht, noch beim Turm vo (...)

[...] [la langue française] paraissait encore n’appartenir qu’à certaines classes de la société; elle avait pris la teinte des distinctions nobiliaires [...]. On eût dit qu’il y avait plusieurs nations dans une seule. Cela devait exister [...], dans un pays où il fallait un certain ramage pour être ce qu’on appelle la bonne compagnie, et où il fallait siffler la langue d’une manière particulière pour être un homme comme il faut. [...]. Quatre points du territoire de la République méritent seuls de fixer l’attention du législateur révolutionnaire [...]. L’idiome appelé bas breton, l’idiome basque, les langues alle­mande et italienne ont [...] empêché la révolution de pénétrer dans neuf départements et peuvent favoriser les ennemis de la France (Barrère).8

23Grégoire hat eine evolutionistische und universalistische Auffassung von der Sprache: Die „patois” sind verschieden, nicht weil es fremde Mundarten sind, son­dern weil sie zurückgeblieben sind, und das ungeachtet ihrer Verwandtschaft mit dem Französischen. Barrère hingegen unterscheidet nur zwischen der Einheit oc/oïl und den davon abweichenden Sprachen. Aber für den einen wie den anderen sind die Völker Staatsbürger dadurch, daß sie Zugang zum Politischen haben; die Sprache macht nicht das Wesen der Völker aus, und es genügt, ihnen das Französische zugänglich zu machen, damit sie de facto Bürger werden, wie sie es de jure schon sind.

24Der mit der französischen Revolution begonnene Prozeß breitet sich über die europäische Welt aus und ist gekennzeichnet durch die Entwicklung des Krieges. In einer ersten Phase zählt die Opposition zwischen dem Volk und dem Adel; die Parole „guerre aux châteaux, paix aux chaumières“ („Krieg den Palästen, Friede den Hütten“) fällt zeitlich mit einer militärischen Situation zusammen, wo einerseits ein Berufsheer des Ancien Regime einem Bürgerheer gegenübersteht und wo andererseits die Frage der anderen Völker theoretisch bleibt, da der Krieg in Frankreich geführt wird. In diesem Kontext bedroht das „Recht der Völker auf Selbstbestimmung“ die Legitimität des Feindes, ohne daß es für die Republik ein Problem ist. In einer zweiten Phase führt die Intervention außerhalb der ursprüng­lichen Grenzen Frankreichs zu Ausschreitungen, von denen die Völker nicht verschont bleiben, zwingt ihnen eine Regierung auf, die eigentlich gewählt werden sollte, erlaubt es den „feindlichen“ Heereskräften, national zu werden; kurz, in allen Ländern Europas haben die Völker einen Legitimitätsraum gewonnen, aber der politische Raum Europas hat sich aufgesplittert. Diese Bewegung kann durch zwei Zitate veranschaulicht werden. Zuerst durch den Brief eines gewissen Wedekind an die Convention, geschrieben am Tage der Besetzung von Mainz:

  • 9 „Väter des kosmopolitischen Vaterlandes, die Mainzer haben endlich den glücklichen Tag erlebt, der (...)

Pères de la patrie cosmopolite, les Mayençais ont enfin vu le jour heureux qui les dégage des chaînes de leur despote [...] et qui leur donne la liberté de mettre aux yeux de l’univers la preuve des infractions aux droits de l’homme et du citoyen commises par leur prince-prêtre. Mais pour mettre au grand jour ces plaintes, il faut que j’aie une patrie, que j’aie la France pour patrie, puisqu’elle est la seule patrie de l’Europe [...].9

25Das zweite Zitat von Cuoco lautet folgendermaßen:

  • 10 „Seltsamer Charakter aller Völker der Erde. Der Wunsch, ihnen allzuviel Freiheit zu geben, erweckt (...)

Etrange caractère de tous les peuples de la terre. Le désir de leur donner une liberté exagérée réveille en eux l’amour de la liberté contre leurs libérateurs eux-mêmes.10

26Diese beiden Zitate veranschaulichen, wie sich der Kreis öffnet und schließt. Das erste zeigt die Mainzer gegenüber einem Signifikanten, Frankreich, im politi­schen Raum Europas und in Opposition zu einem Ancien Régime. Das zweite ist auf die Völker gerichtet, und die „Befreier“ sind nicht ein Signifikant, dem man sich anschließt, sondern eine Macht, die man bekämpft. Beide Texte werden von F. Brunot zitiert (Histoire de la langue française, Band XI).

Herder und die Aufklärung in Europa

27Wir haben gesehen, welche Auffassung von der Nation in Texten des 18. Jahr­hunderts in Frankreich aufscheint, und daß dort der diskursive Raum des Politi­schen im 18. Jahrhundert ein europäischer ist. Ist es genauso, wenn man seinen Blick auf andere Punkte in Europa richtet? Wie mag dann die Semantik des Begriffs „Nation“ funktionieren?

28Im interdiskursiven Raum zwischen zwei Aussagepositionen gibt es eine Verkettung von a) den Eigenschaften, die beide Positionen zusammen und dauerhaft als Eigenschaft ansehen, die eine Nation besitzen muß, und b) einer Liste ausreichend prototypischer Nationen.

  • 11 Wir stützen uns hier hauptsächlich auf Barnard, F.M., Herder’s social and political thought from En (...)

29Da diese beiden Forderungen nicht unbedingt kohärent sind, bringen die Abweichungen praktische Dynamiken mit sich. Dieses Phänomen kann man einen erweiterten Nahtstelleneffekt nennen: der Sprecher betrachtet sich als der Nation X zugehörig, und der Satz „X ist eine Nation“ erzwingt die Eigenschaften. Anders gesagt, das Definitionsgewicht der Eigenschaft „in bezug auf eine Regierung vereint sein“, ist nicht dasselbe für einen Franzosen und für einen Deutschen, da sie nicht verifiziert ist im Falle der Nation, die für letzteren die prototypischere ist: d.h. die deutsche Nation, während beide Aussagesituationen diese wohl als Nation „sehen“. Wir werden Herder11 als Beispiel nehmen, um zu zeigen, was zwischen Orten, die durch die Gemeinsamkeit gewisser Praktiken verkettbar sind, vor sich geht. Er ist nämlich ein eminenter Vertreter der europäischen Aufklärungs­philo­sophie, ein Zeitgenosse der Enzyklopädisten. Außerdem bildet er einen Übergang zum 19. Jahrhundert, wo er als Vertreter der „romantischen“ Auffassung der Nation anerkannt wird.

30Herder gehört dem europäischen 18. Jahrhundert an, sowohl was seine Bio­graphie angeht, als auch in bezug auf den allgemeinen Rahmen seiner Auffas­sungen. In Ostpreußen geboren, verbringt er, nach zwei Jahren in Königs­berg (zwischen achtzehn und zwanzig Jahren), fünf Jahre als Lehrer und Prediger in Riga, das damals zum russischen Zarenreich gehört, wird mit dreiundzwanzig Jahren Pastor und fährt dann mit fünfundzwanzig Jahren nach Frankreich, bevor er wieder nach Deutschland zurückkehrt.

31Seine Auffassung vom Volk schließt sich der zu jener Zeit üblichen Klima­theorie an. Gewiß, seine Auffassungen von der Verbindung zwischen Vernunft und Religion sind weit von denen Voltaires oder Rousseaus entfernt, liegen aber in der Nähe derer von Beauzée. Nichts berechtigt anzunehmen, daß er auf irgendeine Weise dieses in ganz Europa gültige Funktionieren der intellektuellen und politi­schen Bereiche in Frage stellt.

32Seine Auffassungen betreffen das Verhältnis zwischen Volk und Politik, und eine präexistente Semantik des deutschen Wortes Volk im Verhältnis zu „peuple“ könnte seine Originalität erklären.

33Sein Aufenthalt in Frankreich hingegen führt ihn dazu, sich als Deutscher zu fühlen. Meine Hypothese ist die der „erweiterten Nahtstelle”: Herder nimmt eine Verschiebung der Aussage vor, aufgrund deren Deutschland als prototypische Nation gesehen wird. Nun ist diese aber, wie schon gesagt, keineswegs in bezug auf eine Regierung vereinigt. Um das Volk ins Zentrum des gesellschaftlichen und politischen Vorgangs zu stellen, kann er also nicht wie die Franzosen, die politische Macht vom Volk ausgehen lassen, indem einfach der König durch die Nation ersetzt wird. Er entwickelt dagegen eine Theorie von der Künstlichkeit des Politischen und der Natürlichkeit der Völker, eine naturalistische Theorie, in der der National-Staat nur als Übergang zum „Ende des Politischen” erscheint, das auf einem allgemeinen Willen beruht, der nicht wie bei Rousseau aus einem Vertrag abgeleitet wird, sondern aus einer gemeinsamen Moral, die spontan zu einer organischen Übereinstimmung führt. Diese Position, die dazu führt, daß die Sprache in den Mittelpunkt einer Definition der Nationen familiären und nicht vertraglichen Typs gestellt wird, und daß der Boden als wichtiges Kriterium vorausgesetzt wird, ist nicht rassistisch. Das Individuum gehört eher der Humanität als der Dimension Volk an.

34Andererseits befindet er sich, wenn er das Volk dem Politischen gegenüber (also in eine enge Beziehung dazu) stellt, wenn er den Expansionismus, die Koloni­sierung und die Eroberung verurteilt, nicht in einer Problematik der Abschließung. D.h. er tendiert dahin, in der Abschließung des Horizonts kein Problem zu sehen, in dem Maße als das Politische ihm als ein mechanischer Kunstgriff erscheint, der verschwinden muß, damit die organische Realität der Nationen zum Ausdruck kommen kann. Nur in dem Verhältnis zwischen Nationen sieht er die Notwen­digkeit vertraglicher Beziehungen. Manchmal sieht er zwar gewisse Grenzpunkte, doch betrachtet er die Aufteilung in Nationen nicht als eine Ausgrenzung.

35Zu seiner Epoche ist die Herdersche Auffassung also nicht identisch mit den späteren Verwendungen des Begriffs, wie sie sich in einer germanischen oder slawischen Welt des 19. und 20. Jahrhunderts daraus entwickelten. Wenn heute nämlich Auffassungen Herderscher Art in Europa ziemlich verbreitet sind, einschließlich solcher, die sich formell auf den Humanismus beziehen, so spielen sie in der Praxis die Rolle von Werkzeugen zur Legitimierung einer Subdominanz: Sie sind Mittel zur Behauptung der Differenz gegenüber denjenigen, die als Domi­nanz gesehen werden, und dienen zugleich dazu, die Überlegenheit denjenigen gegenüber zu behaupten, die man dominiert.

III. Schluß

36Die Nation ist ein gesellschaftliches Objekt, von dem wir zu zeigen versuchten, daß seine Realität diskursiver, also sprachlicher Natur ist. Durch die Heranziehung fernliegender Beispiele hoffen wir gezeigt zu haben, daß die Rolle der Sprache bei gesellschaftlichen – und insbesondere politischen – Phänomenen sich nicht auf Vorstellungen beschränkt. Die Vorstellungen der Enzyklopädisten unterscheiden sich wenig von denen der Konventsmitglieder, doch beide sind in verschiedene Handlungsmuster eingebunden. Herder seinerseits ist in dieselbe Art Handlungs­muster eingebunden wie die Enzyklopädisten – aber in einer anderen Situation. Die romantische Auffassung der Nation ist in bezug auf die heute noch in Frankreich vorherrschende staatsbürgerliche Auffassung, was Herder in bezug auf die Enzy­klopädisten ist, aber im Rahmen einer politischen Struktur, wie sie auf dem europäischen Festland durch die französische Revolution und dann durch die napoleonischen Kriege eingeführt wurde.

37Dieses historische Beispiel zeigt, wie Vergleiche möglich sind: die Auffas­sungen von der Nation zu vergleichen, setzt voraus, sowohl ihre interne Konstruktion im Verhältnis des Bürgers zum Politischen, wie auch die externen Zwänge, durch die die verschiedenen Nationen zueinander in eine praktische Beziehung treten, zu untersuchen.

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