Navid kermani wer ist wir deutschland und seine muslime

Wer angesichts des Buchtitels glaubt, eine Selbstbeschreibung der Muslime in Deutschland vor sich zu haben, geschrieben von einem, der um die muslimischen Befindlichkeiten wissen muss, weil er bekanntermaßen selbst muslimischen Glaubens ist und deshalb zum muslimischen „wir“ dazugehört, der irrt. Und ist genau der Identitätsfalle erlegen, um die es dem Autor geht: Kermani ist zwar Muslim, doch anders, als es die öffentliche Rhetorik über Muslime in Deutschland glauben machen will, käme es für ihn nicht in Frage, sich ausschließlich als Muslim zu definieren. Denn Muslim ist Kermani genauso, wie er habilitierter Orientalist, Fan des 1. FC Köln, Teilnehmer der Islamkonferenz, Vater von zwei Töchtern – sie gehen auf eine katholische Grundschule –, Regisseur, Schriftsteller und ehemaliger Stipendiat der Villa Massimo ist.

Beobachter aus der Distanz

Kermani hat einen deutschen und einen iranischen Pass. Wenn er auf Reisen ist, dann fühle er sich zu Hause, wenn die Menschen um ihn herum Persisch sprechen. Trotzdem schaue er im Ausland immer, wo er eine deutsche Zeitung kaufen kann, erzählt er. Niemals dagegen würde er sich in eine Fernseharena begeben, um auf dem Podium über Fragen wie „Ist der Islam mit unserer Demokratie vereinbar?“, „Müssen wir Angst vor Muslimen haben?“ oder „Wie können wir den Islam integrieren?“ zu diskutieren. Ganz einfach deshalb, weil es „die“ Muslime für ihn gar nicht gibt. „Ich sage von mir: Ich bin Muslim. Der Satz ist wahr, und zugleich blende ich damit tausend andere Dinge aus, die ich auch bin und die meiner Religionszugehörigkeit widersprechen können – ich schreibe zum Beispiel freizügige Bücher über die körperliche Liebe oder bejahe die Freiheit zur Homosexualität“, heißt es an einer Stelle. Kermani beobachtet aus der Distanz, was im Fernsehen und was um ihn herum passiert. Er ist ein brillanter Erzähler.

Seine scharfen Analysen sind ein Parcours durch Entwicklungen, die besorgniserregend sind: Da ist die evangelische Kirche, die die Debatte um Muslime als Feld der eigenen Profilierung entdeckt hat und sich dabei zunehmend vom Islam distanziert; da ist der Berliner Fall der Mozart-Oper „Idomeneo“, die aus Sorge vor muslimischen Protesten abgesetzt wurde, ohne dass sich jemand empört hätte; und da ist der Bremer Türke Murat Kurnaz, dessen Einreise die deutschen Behörden verhinderten, auch nachdem klar war, dass er unschuldig in Guantánamo gefangengehalten wird – der deutsche Staat handelte damals auf eine Weise, die weder mit dem Geist noch mit den Buchstaben des Grundgesetzes vereinbar ist. Wieso akzeptierte die deutsche Öffentlichkeit, dass sich bis heute keiner der beteiligten Politiker bei Kurnaz entschuldigt hat? Für Navid Kermani sind wir nicht nur Papst – wir sind auch Murat Kurnaz.

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