Hard boiled wonderland und das ende der welt

Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.08.1995

Bibliothek vergangener Träume
Murakami Haruki schickt die Datenmafia ins Wunderland

Mit der älteren Literatur und Kultur Japans hat dieser Roman nichts zu tun. Sein Verfasser, Jahrgang 1949, entzog sich längst den Ordnungsbegriffen seiner Heimat, teils durch längere Reisen in die Vereinigten Staaten und nach Europa, teils in einer Art von innerer Emigration. Was seine Phantasie durchdringt und bewegt, ist die Erinnerung an westliche Literatur von Aischylos bis Faulkner und Chandler, aber auch eine Mischung bekannter Mären und Märchen wie die Kunde vom mirakulösen Einhorn oder vom verlorenen Schatten. Die Brandenburgischen Konzerte sind Haruki ebenso geläufig wie Schlagertexte, und auf Schritt und Tritt werden Bildsequenzen zumeist bejahrter Hollywoodschinken eingeblendet.

Erzählt wird auf zwei Ebenen, so daß ein - auch typographisch abgesetzter - Doppelroman entsteht. Der Computerwelt Tokios, das den letzten Rest an eigentümlichem Kolorit verloren hat, kontrastiert eine am Rande der Welt, eigentlich in Utopia, angesiedelte Stadt, die von hohen Mauern umgeben ist. Hier weiden die wunderbaren Einhörner, die "das Ego der Bewohner" verkörpern. Es gibt einen Uhrturm - fast à la Kubin - und eine Bibliothek, in der man abgetane Träume entziffern darf. Wächter warnen vor dem Eindringen in Dickichte und Wälder. Wer hier lebt, hat seine Seele, seine Identität, verloren und trifft auf seinen Schatten (Chamisso läßt grüßen) wie auf einen Fremdling. Nur in Anflügen von Liebe und im Klang von Musik erhält sich eine Form von Humanität wie ein fernes Versprechen, das eher Verstörung verursacht als Protest.

Daneben also Tokio, genauer: eine seltsame Unterwelt, die man durch menschenleere Gebäude, Tunnel und Schächte betritt. Das erzählende Ich präsentiert sich als Computerfachmann, und als solcher steht er an der Frontlinie sich bekämpfender Banden einer Datenmafia, die vor Gewalttaten nicht zurückschreckt. Daraus erwächst eine abenteuerliche Handlung, bei welcher der Held, ohne es zunächst zu wissen, eine herausragende Rolle spielt. Ein Professor hat ihm ein neues Bewußtsein implantiert, das nun feindliche Mächte in ihre Gewalt bringen wollen. Der Leser durchstreift geheimnisvolle Labore, erhält Unterricht über bizarre Codierverfahren, erlebt Einbrüche und Erpressungen und teilt schließlich Angst und Flucht des Protagonisten, der sich durch eine unterirdische Höhlenlandschaft durchschlagen muß, die an Szenerien Jules Vernes gemahnt. Motive der Science-fiction treffen auf triviale Arrangements der Kriminalliteratur, und dazwischen gibt es allerlei erotische Romanzen und sinnträchtiges Gerede.

Der besondere Kniff dieser Großerzählung enthüllt sich nach und nach. Das computergezeugte Bewußtsein enthält jene Welt des anderen Ichs, das sich in Utopia häuslich einrichtet. Der Tod des Großstadtmenschen und Computerfachmanns in Tokio erweist sich schließlich als bewußtes Einverständnis mit dem Leben in der zweiten Welt jenseits der Mauern. Das Ich verweigert sich am Ende seiner Seele, mit der er sich wieder vereinigen könnte. Im Abtauchen in die Musik Bob Dylans wird ein neuer Grad fatal-beglückender Einsamkeit erreicht. "Am Ende der Welt" vollzieht sich so das Ritual eines Eskapismus, das mit allerlei Zitaten abendländischer Utopik verkleidet wird und doch die Symptome einer radikalen Entfremdung nicht verleugnen kann, aus der sich Haruki mit einer Poesie aus zweiter Hand erlöst.

Daß dieser Roman und andere Werke Harukis in Japan Triumphe feierten, darf nicht verwundern. Dort mag als aufregend exotisch gelten, was hierzulande Anfälle von Gähnen nicht immer verhindert: alt gewordene Themen wie das Leiden des Intellektuellen an seinem Bewußtsein, dazu bekannte Bilder, Motive und Zitate, in denen sich die Angst vor den Abgründen des Ichs mit dem Grauen vor der eigenen Manipulierbarkeit verknüpft. So wird man diesen bemerkenswert komplexen Text - eigentlich ein Derivat der europäischen Romantik - als Dokument einer "interkulturellen" Begegnung und Assimilation nach Gebühr würdigen können, ohne daß die eigene Leseerfahrung dadurch wesentlich bereichert würde. WILHELM KÜHLMANN

Murakami Haruki: "Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt". Aus dem Japanischen übersetzt von Annelie Ortmanns und Jürgen Stalph. Mit einem Nachwort von Jürgen Stalph. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 1995. 542 S., geb., 48,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main

…mehr

Neue Kurzmeinungen

Positiv (451):

QuestionMark

vor 5 Monaten

Bislang mein "Lieblings-Murakami". Schräge Story, phantasievoll, weniger Längen als in manchen anderen Romanen von ihm.. einfach gut

Kritisch (22):

Was ging da ab? Nichts wurde genug erklärt und Murakamis wunderbarer Stil fehlte leider.

Alle 531 Bewertungen lesen

Auf der Suche nach deinem neuen Lieblingsbuch? Melde dich bei LovelyBooks an, entdecke neuen Lesestoff und aufregende Buchaktionen.

Inhaltsangabe zu "Hard-boiled Wonderland und Das Ende der Welt"

Mit kühner Fantastik und Fabulierkunst verbindet Japans größter zeitgenössischer Romancier in seinem frühen und seit langem im Deutschen vergriffenen Roman zwei Welten, von denen die eine Hard-boiled Wonderland und die andere Das Ende der Welt heißt: „Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt" erzählt im Wechsel der Kapitel und der Zeiten von zwei parallelen und wundersamen Reisen.

In einem futuristisch brutalen Tokyo der fernen Gegenwart, tobt ein Datenkrieg zwischen dem „System" der Kalkulatoren und einer Datenmafia, der „Fabrik" der Semioten. Ein genialer und greiser Professor hat durch ein sicheres Codierverfahren im Unterbewusstsein allen Datendiebstahl unmöglich gemacht. Der Held und Ich-Erzähler in „Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt" überlebt die Bearbeitung seines Gehirns, aber nach einem Überfall auf das unterirdische Geheimlabor des Professors ist der implantierte „Psychokern" wie eine Bombe im Hirn nicht mehr beherrschbar.

„Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt" ist ein faszinierendes Leseabenteuer, rasant konstruiert zwischen den beiden Welten – einer realen an der Schwelle des Todes und einer anderen, zeitlos und zugleich seelenlos.

Buchdetails

Aktuelle Ausgabe

ISBN:9783832179052

Sprache:Deutsch

Ausgabe:Gebundenes Buch

Umfang:506 Seiten

Erscheinungsdatum:12.10.2017

Das aktuelle Hörbuch ist am 12.11.2015 bei Lübbe Audio erschienen.

  • 5 Sterne291

  • 4 Sterne160

  • 3 Sterne58

  • 2 Sterne21

  • 1 Stern1

  • Starte mit "Neu" die erste Leserunde, Buchverlosung oder das erste Thema.

    Buchdetails

    Aktuelle Ausgabe

    ISBN:9783832179052

    Sprache:Deutsch

    Ausgabe:Gebundenes Buch

    Umfang:506 Seiten

    Erscheinungsdatum:12.10.2017

    Das aktuelle Hörbuch ist am 12.11.2015 bei Lübbe Audio erschienen.

    Toplist

    Neuester Beitrag

    Stichworte